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Erzählung.
Das Abentheuer am Bayenthurm.
Es war Carneval, und die Stadt Köln Levin Schücking, Louise von Galls Ehemann, war von 1845 bis 1852 Feuilletonredakteur der Kölnischen Zeitung. – Die Wahl des Namens »Delmont« in dieser Novelle dürfte kein Zufall sein. Marcus DuMont hatte im Alter von 25 Jahren Katharina Schauberg geheiratet und die Kölnische Zeitung und die Druckerei, die seit 1802 im Besitz der Familie Schauberg gewesen waren, für 1400 Reichstaler erworben. – Der heutige Kölner Stadt-Anzeiger, seit 1876 der Nachfolger der Kölnischen Zeitung, ist weiterhin (mehrheitlich) im Besitz der Familie DuMont. war fröhlich wie immer um diese Zeit – ja, noch fröhlicher. Sie war freilich auch noch volle hundert vierunddreißig Jahre jünger, als heute; denn unsere Geschichte spielt im Jahre 1720.
Mehrere junge Kaufleute gingen, alle in ziemlich gesteigerter Laune, um die Morgenzeit von einem großen Balle heim. Voran schritt ein schlanker Jüngling und sang mit halber Stimme ein Lied in englischer Sprache, worüber sich seine Genossen hinter ihm lustig machten; denn sie waren zu gute Kölner, um mit ihrem Spotte selbst ihren besten Freund schonen zu können.
»Er will uns zeigen, daß er in London war,« sagte Einer, – »daß er die See passirt hat,« ein Anderer …
»Als wenn das was Besonderes wäre!« fügte ein Dritter hinzu. »Aber es ist wegen des Sturmes, den er ausgehalten hat; da ist ihm der Puder aus den langen Haaren geweht, und d'rum ist ihm denn freilich bange geworden!«
»Wem ist bange geworden?« fragte plötzlich, sein leises Singen unterbrechend, der Voranschreitende und blieb stehen. »Ich wiederhole es: wem ist bange geworden?«
»Dir,« sagte der Keckste der Gesellschaft, ein kleiner, streitsüchtiger Mensch, »Dir, als auf dem Meere der Wind Dir die wohlriechenden Locken in die Augen wehte.«
»Wer von Euch ist denn auf der See gewesen?« fragte nun mit etwas geringschätzigem Tone der schlanke junge Mann.
»Keiner,« sagte trotzig der Kleine, »ist aber auch nicht nöthig, man kann seinen Muth eben so gut und noch besser auf dem festen Lande beweisen.«
»So beweis't ihn.«
»Erst beweise Du ihn, damit wir sehen, was daran ist.«
»Gut, ich will ihn auch beweisen!« rief mit erhöhter Stimme der ›Engländer,‹ wie ihn spottweise seine Freunde nannten, obgleich er einen ganz guten Namen hatte, besonders in der Handelswelt, denn er hieß Franz Delmont, und sein Vater, dessen einziges Kind er war, galt für einen der reichsten Kaufleute Kölns.
»Ich will meinen Muth beweisen,« fuhr er nach einer Pause gemäßigter fort, »aber dann Ihr Alle, der Reihe nach. Was giebt Euch guten Jungen denn die Ueberzeugung, daß ein Mensch Muth hat, und wann soll ich anfangen?«
»Jetzt gleich,« schrien Alle im Chor; über das Wie waren sie aber durchaus nicht einig. Sie stritten lange hin und her, endlich nahm wieder der Kleine, der Meißner hieß, das Wort und sagte: »Mir fällt eine Gelegenheit für Delmont ein, augenblicklich seinen Muth zu zeigen.«
»Heraus damit! – So laß hören,« riefen die Andern.
»Ihr kennt ja alle die Gespenstergeschichte vom Bayenthurm,« sagte er, indem er den Kopf von Franz wegwendete und den Andern bedeutsam mit den Augen winkte; dann kehrte er sich wieder zu Franz:
»Es ist jetzt halb Drei, Schlag Drei erscheint das Gespenst, Du kannst jetzt noch ganz gemächlich hingelangen und ihm gegenüber Deinen Muth beweisen.«
»Was ist denn das für eine alberne Geschichte?« fragte spöttisch Delmont.
»Du kennst sie nicht? Gut, ich will sie Dir erzählen.« Und er begann nun mit etwas hohler Stimme:
»Du weißt, unten am Bayenthurm, etwa zehn bis zwölf Schritte von der vorspringenden Ecke, an welche sich das Thor lehnt, befindet sich eine kleine, mit Riegeln und Stangen fest geschlossene Thür, so daß keine menschliche Gewalt sie aufzureißen vermöchte. Nun, jede Nacht um drei Uhr schreitet ein Gespenst aus dieser Thür des Bayenthurms und geht wehklagend eine halbe Stunde lang am Rheine auf und ab, bis es sich mit einem fürchterlichen Schrei in die Wogen stürzt.«
Die Freunde Meißner's bissen sich auf die Lippen, um ihr Lachen über seine kecke Improvisation zu verbergen. Franz aber fragte mit der kindischen Neugier, welche so viele Menschen von Phantasie beim Anhören einer Gespenster-Geschichte erfaßt:
»Was hat es denn mit der Erscheinung für eine Bewandtniß – erklärt man es sich nicht auf irgend eine Weise?«
»Doch,« sagte Meißner mit wichtiger Miene, »man weiß Alles. Man sagt nämlich, daß eine der eilftausend Jungfrauen Anspielung auf der Legende der heiligen Ursula: Sie lebte demnach im 4. Jh. als bretonische Königstochter und wollte den heidnischen König von England nur heiraten, wenn er getauft würde und sie mit elf Gefährtinnen und 11.000 Jungfrauen eine Wallfahrt nach Rom machen könnte. Auf der Rückreise von Rom wurden die Wallfahrerinnen in Köln von den Hunnen niedergemetzelt. – In der Erzählung sind es allerdings keine Hunnen, sondern römische Soldaten. im Anblicke des schrecklichen Märtyrertodes ihrem Glauben und ihren Gelübden habe untreu werden wollen. Die blutgierigen römischen Soldaten aber, die ihre Sprache nicht verstanden, mordeten sie trotz ihres Flehens mit den Andern. Die muß jetzt umgehen bis zum jüngsten Tage für ihr usurpirtes Eilftausendtheil am Rufe der Heiligkeit.«
»Gottlose Zunge!« rief nun in Lachen ausbrechend Delmont, »wer hätte Dich so bewandert in der Legende geglaubt!«
Die Andern stimmten in Franzens Lachen ein, und obgleich Alle die Sache als einen schlechten Spaß betrachteten, so drangen sie doch in ihrer Weinlaune auf Delmont's Gang nach dem Bayenthurme; Franz war auch ganz bereit, weil er sich zu erhitzt fühlte, um jetzt schon zu Bette zu gehen, und eben so wenig noch länger mit den ihm etwas zu laut gewordenen Genossen verweilen wollte. Sie begleiteten ihn unter Singen und Lärmen bis an den Fuß des Thurmes, dort gab er ihnen sein Wort, bis um halb Vier hier zu verweilen, und indem er sich in seinen weiten Mantel hüllte, lehnte er an der Brüstung und sah hinab in den Rhein. Die Andern hatten sich entfernt, noch lange vernahm man ihre grellen Stimmen durch die stille Nacht, dann wurde es nach und nach ruhig, ganz still.
Es ist etwas Wunderschönes um eine Nacht am Rheine, sei es im Sommer oder Winter, und wenn gar der Mond scheint und jede Wellenspitze versilbert, daß der breite mächtige Strom aussieht wie eine glänzende Metallflut, und wenn ein leises Klingen und Rauschen vom Siebengebirge her in die Ebene zieht und über die Flut tanzt und sich mit ihrem Murmeln mischt – da ist es so prächtig an seinen Ufern, daß man stolz wird, an ihnen geboren zu sein.
Durch Franzens Seele strömten diese Gedanken, er war verloren im Anblicke seines schönen heimatlichen Stromes, den eben der hervorbrechende Mond mit seinen hellsten Strahlen beschien. Er selbst lehnte im langgezogenen Schatten des alten Thurmes.
Langsam hallten die Glockentöne der dritten Stunde durch die Nacht. Franz hörte nicht darauf, denn seine Gedanken waren den Rhein hinunter nach England geschwommen und weilten dort bei seinen besten Freunden – als plötzlich ein leiser Schritt auf dem hartgefrornen Boden hinter ihm hörbar wurde. Er drehte rasch den Kopf, und siehe da, vom hellsten Mondlicht beschienen, kam eine Frauengestalt vom Bayenthurme her. Sie sah ihn nicht, denn ihr Haupt war dem Lichte zugewendet, und in dem Augenblicke, wo er sie gewahrte, beugte er sich auch bis zur Höhe der Brüstung nieder, denn er wollte ungesehen die Erscheinung beobachten. Es war eine zarte, kleine Gestalt, ganz schwarz gekleidet, mit einem todblassen Gesichtchen, so blaß, daß es ihm vorkam, als scheine der Mond hindurch.
Franz regte sich nicht, kein Gedanke an Flucht kam in seine Seele, obgleich sein Herz etwas höher schlug, denn die Gestalt rang jetzt die Hände und stöhnte wie in Todesangst. Was Franz in dem Glauben, der Geist sei eine der eilftausend Jungfrauen aus England, hätte bestärken können, war, daß die Kleine jetzt seltsamer Weise in englischer Sprache zu wehklagen begann.
Sie schritt vor, in geringer Entfernung von Franz knieete sie an der Mauerbrüstung, welche den Weg vom Rheine trennt, nieder, faltete die Hände und betete laut und vernehmlich auf Englisch:
»Verzeihe mir, guter Gott, aber ich weiß mir ja nicht anders zu helfen, und Du, liebe, liebe Mutter, vergieb, daß ich ungerufen zu Dir eile – aber Du hast mir selbst gesagt, ein Mädchen müsse eher sterben, als Schmach ertragen – d'rum komme ich jetzt zu Dir – nimm mich wie früher in Deine Arme, denn ich bin unschuldig und gut geblieben wie bei Dir …«
Heftiges Schluchzen unterbrach das arme Kind, sie senkte tief ihr Haupt auf die Brust, und ihre blonden Flechten fielen über ihr Gesicht.
Nach einer kleinen Pause begann sie das Vaterunser zu beten; es kam Franz unendlich rührend vor, als das arme Geschöpf mechanisch betete: ›Gieb uns unser tägliches Brod,‹ – sie, die doch offenbar nichts mehr auf Erden zu bedürfen glaubte.
Als sie geendet, erhob sie sich und versuchte die Brüstung zu ersteigen; da war aber Franz schon aufgestanden und umfaßte sie von hinten. Mit einem Angstschrei suchte sie sich ihm zu entreißen. »Ich gehe nicht zurück mit Euch!« rief sie in Verzweiflung, »versucht es nicht! Ich werde eher die ganze Stadt wach rufen; wenn auch Niemand meine Worte versteht, meinen Jammer werden sie begreifen!«
Als aber Franz, ohne sie loszulassen, mit milder Stimme in ihrer Sprache sagte: »Beruhigen Sie Sich liebes Kind – es geschieht Ihnen ja nichts!« fuhr sie freudig erschrocken herum und rief: »Ein Landsmann, ein Engländer! Gott sei Dank!«
Obgleich der Augenblick sehr feierlich war, so konnte Franz doch ein kleines Lächeln der Befriedigung nicht unterdrücken, welches der Glaube der Fremden, er sei ein Engländer, in ihm hervorgerufen, da hierin ein glänzendes Zeugniß für seine Aussprache lag. Er fuhr nun fort:
»Glauben Sie, daß Sie vollkommen sicher sind; ich würde nie dulden, daß Sie beleidigt werden. Aber – was kann ich für Sie thun? Denn nun, da Sie einen ehrlichen Freund in mir gefunden, müssen Sie muthig in's Leben zurück kehren. Nochmals, was kann ich für Sie thun?«
»Ach Gott – das weiß ich selbst nicht! Ich bin hier ganz fremd, ganz rathlos, ganz verlassen. Sonst würde ich auch nicht dieses letzte Mittel, meine Noth zu enden, ergriffen haben. Denn es ist nur die Noth, glauben Sie nicht, mein Herr, daß eine Schuld mich zu diesem Aeußersten getrieben.«
Indem sie dies sagte, richtete sie sich auf; ihr großes, blaues Auge blickte ihn stolz an, und Franz sah nun am Ausdrucke ihrer Züge, daß die, welche er Anfangs für ein Kind gehalten, ein Mädchen von fünfzehn bis siebenzehn Jahren war. An seinem Irrthume war wohl ihre kleine, zierliche Gestalt, so wie ihr langes blondes Haar in Flechten Schuld gewesen, da Erwachsene in jener Zeit ihr Haar immer gepudert und aufgenestelt trugen.
Er versicherte ihr nun, daß er durchaus ihren Worten glaube, bat sie aber, da sie selbst keinen Rath für sich wisse, ihm ganz ohne Hehl, wie einem Bruder, ihr Schicksal zu enthüllen, damit er für sie handeln könne, wie für eine Schwester. Dazu erklärte sie sich bereit, und in dem sie mit der kindlichsten Unbefangenheit seinen Mantel annahm und sich darein hüllte, erzählte sie ihm, auf dem glatten Kiese auf- und abschreitend, ihre Geschichte. Sie war eine Waise und hatte ihre Mutter vorigen Herbst in England verloren und von ihr auf dem Sterbebette die Weisung erhalten, sogleich nach ihrem Tode zu ihrem Sohne, des Mädchens einzigem Bruder, nach Köln zu reisen. Der werde sich ihrer annehmen, obgleich er freilich seit Jahren nichts von sich hören lassen. Er war Geschäftsführer in einem der bedeutendsten Handelshäuser Kölns.
Mit einigen Goldstücken, ihrem ganzen Vermögen, und der Adresse des Kölner Handelsherrn, bei welchem ihr Bruder war, versehen, hatte nun Ellen vor zwei Monaten ein Schiff in London bestiegen und war endlich nach langer, mühseliger Fahrt in Köln angekommen, ohne ein Wort Deutsch zu verstehen – allein und schutzlos. In dem kleinen Gasthofe, in welchem sie abstieg, sagte man ihr sogleich, daß der Handelsherr, dessen Adresse sie vorzeigte, seit länger als einem Jahre gestorben und seine Firma eingegangen; ein Lohnbedienter, der bei Engländern gewesen, verdolmetschte es ihr mit großer Mühe. Dieser Mann zog nun auch auf ihre Bitten Erkundigungen über ihren Bruder ein, und nach langem, fruchtlosem Fragen erfuhr er endlich, daß derselbe nach dem Tode seines Principals eine Aufforderung, nach Amerika überzusiedeln, angenommen habe und schon lange dorthin abgereis't sei.
Als diese Nachricht einlief, war Ellen's Geld schon verzehrt. Sie stand hülflos im fremden Lande, dessen Sprache sie nicht einmal verstand. Sie machte nun eine Bekanntschaft – sie erklärte sich nicht näher darüber, sagte nur, daß dieselbe für sie eine Quelle der bittersten, demüthigendsten Enttäuschung geworden, ja, daß es der Hauptgrund gewesen, der sie zum Entschlusse, sich das Leben zu nehmen, gebracht. Sie schloß mit den Worten: »Was soll nun aus mir werden?«
Franz überlegte eine Weile, dann sagte er: »Ich weiß keinen andern Rath, als Sie zu meiner Mutter zu bringen; sie ist eine zwar strenge, aber doch gute Frau und wird Sie armes, verwais'tes Kind auf meine Bitte gewiß freundlich aufnehmen.« – Ellen willigte ein, wenn auch mit einer ihr selbst unverständlichen Scheu.
Man kann sich denken, mit welch' verwunderter Miene der Bediente Delmont's seinem Herrn öffnete, als dieser gegen Morgen, ein junges, fremd aussehendes Mädchen am Arme, an der Thür des elterlichen Hauses läutete.
»Führe das junge Mädchen in das Empfangszimmer und zünde ihr eine Kerze an,« sagte Franz zu dem Diener. Dann setzte er noch hinzu: »Sobald meine Mutter aufgestanden ist, melde es mir.«
Ellen zitterte, als sie in dem großen fremden Saale sich allein fand. Obgleich Franz sie gebeten, sich auf einem der kleinen Kanapés auszuruhen und den Schlaf zu versuchen, bis er sie zu seiner Mutter holen werde, nahm sie doch nur auf einem Tabouret Platz, stützte die Arme auf die Kniee und ließ ihr armes müdes Köpfchen auf ihren Händen ruhen.
Sie weinte. Eine unbeschreiblich schmerzliche Ahnung zog durch ihre junge Brust, und in diesem Augenblicke, wo sie doch dem Leben zurück gegeben war, einen Schutz gefunden hatte und wo nach ihrem kindlichen Glauben jede wirkliche Ursache, beängstigt zu sein, verschwunden war, fühlte sie sich viel unglücklicher, als eine Stunde zuvor, wo sie sich den Tod geben wollte. Das weite, mit dunkelbraunem Leder ausgeschlagene Gemach kam ihr vor wie ein Kerker, ja, wie ein großer Sarg, der sich verengen und sie erdrücken werde. Sie hielt es nicht mehr aus – sie lief an eines der hohen schmalen Fenster, mit aller Anstrengung suchte sie den schweren Riegel zu öffnen, und als es ihr endlich gelang, begrüßte sie mit einem leisen Freudenrufe die frisch einströmende Nachtluft, die ihrem unaussprechlich geängstigten Herzen wieder einen freiern Schlag verlieh.
Als Franz am lichten, späten Wintermorgen bei ihr eintrat, fand er sie blaß und verfroren am halbgeöffneten Fenster stehend, die Augen vom Weinen ganz verschwollen. Er selbst sah blaß und aufgeregt aus; er hatte eben wegen des jungen Mädchens einen ziemlich heftigen Streit mit seiner Mutter gehabt, aber dennoch, wie dies bei einzigen Söhnen den Müttern gegenüber immer der Fall ist, seinen Willen durchgesetzt. Frau Delmont hatte endlich, aber nur mit großem Widerstreben, eingewilligt, Ellen bei sich aufzunehmen, jedoch nur für's Erste, setzte sie ausdrücklich hinzu.
Es war freilich für eine solide und angesehene Dame ein hartes Zumuthen, eine obdachlose Abentheuerin in ihr geachtetes Haus zu nehmen, eine Person, die, wenn Franz nicht gewesen, sich in dieser Nacht durch ihren Selbstmord sogar eines ehrlichen Begräbnisses verlustig gemacht hätte! Dazu war es eine Fremde, und man liebte die Fremden in Köln nicht – im Jahre der Gnade 1720.
Ellen folgte zitternd ihrem ebenfalls schüchternen Führer, ohne daran zu denken, vor einem der kleinen Wandspiegel ihr vom Winde zerzaustes Haar zu ordnen und den Staub von ihrem schwarzen Serge-Kleidchen zu bürsten; und das war gar nicht gut, denn auf diese Unordnungen fiel zuerst Frau Delmont's Blick, und zwar mit einem mißbilligenden Zucken der Mundwinkel.
Sie war eine sehr wohl conservirte Vierzigerin und saß im sorgfältigen Morgenanzuge bei ihrem Kaffee. Sie hatte eines von jenen Gesichtern, die Jedermann hübsch nennt, weil sie große Augen, einen kleinen Mund und eine gerade Nase haben, dabei weiß und roth sind. Herr Delmont, der Vater, hingegen war ein entschieden häßlicher Mann, aber er sah viel gutmüthiger aus, als seine Frau, obgleich sie auch eigentlich nicht böse war, nur herrschsüchtig, streng und mißtrauisch. War aber die letzte dieser Eigenschaften beruhigt und den andern willfahrt worden, so konnte man sich ihrer ausdauernden Zuneigung erfreuen, und ihre Sorge kam dann ihrer Liebe gleich.
Davon war aber die arme Ellen noch himmelweit entfernt. Ihre tiefe Verbeugung erwiederte Frau Delmont nur mit einem kalten Kopfnicken, dann sagte sie zu ihrem Sohne: »Es ist mir eigentlich recht lieb, daß ich nicht Englisch spreche, denn ich wüßte doch nicht, was ich der fremden Person sagen sollte.«
Herr Delmont hingegen versicherte Ellen in ihrer Sprache, daß es ihn außerordentlich freue, einem so guten jungen Kinde in seinem Hause Schutz gewähren zu können.
Ellen wurde nun im Hause förmlich installirt; denn Franz setzte seinen Willen durch, und obgleich seine Mutter gar kein Verlangen nach der neuen Hausgenossin trug, räumte sie ihr dennoch das nette kleine Fremdenstübchen ein und stattete es mit allem Comfort jener Zeit aus; denn sie war zu sehr Hausfrau, um es nicht der ›Fremden‹ so schön als möglich zu machen, – blieb sie ja doch immer ›der Besuch‹.
Ellen mußte nun vor allen Dingen Deutsch lernen; das that sie auch mit dem größten Eifer, denn sie fühlte recht gut, daß sie dem Hause, welches sie aufgenommen, nur eine durchaus unbrauchbare Last sein könne, so lange sie nicht die Sprache des Landes spreche. Nach einigen Wochen konnte sie sich auch wirklich schon der Dame des Hauses verständlich machen; bis sie aber diese verstand, dauerte es freilich noch etwas länger, denn Frau Delmont sprach echtes Kölnisch, und das stimmt bekanntlich nicht immer mit der hochdeutschen Grammatik überein; aber auch Kölnisch lernte Ellen – ach, wir müssen mit Bedauern gestehen, daß sie leider auch in unglaublich kurzer Zeit noch eine dritte Sprache lernte, und zwar: die Augensprache – doch das erfordert eine Einleitung.
Frau Delmont's Gesinnungen hatten sich nämlich, seitdem die Engländerin Deutsch sprach, zu ihren Gunsten gebessert. Zudem fügte sich Ellen blindlings allen ihren Wünschen, denn sie hatte einen sanften, stillen, wenn auch sehr entschlossenen Charakter und einen aufgeweckten, für ihr Alter auffallend klugen Geist. Sie sah wohl ein, daß sie in diesem Hause eine Hölle haben werde, wenn sie sich nicht bei Frau Delmont beliebt mache, und hinwiederum, daß sie dieses nur könne, wenn sie ihr in Allem nachgebe, in Allem ihren Rath befolge. Und es gelang ihr. Sie wußte sich so nützlich zu machen, dabei war sie so demüthig und ergeben, daß die Dame des Hauses sie bald ihrer Gunst würdig hielt. Das erste Zeichen davon war ein neues seidenes Kleid. Die schwerste Prüfung für Ellen war aber, daß sie ihr schönes blondes Haar der Dame zu Gefallen pudern mußte. Freilich sah sie auch jetzt viel älter aus, war eine ganz erwachsene Dame mit einem bewundernswürdigen » toupet crépu«, welches jeden Morgen den Friseur eine volle Stunde beschäftigte. Die üble Folge dieser gepuderten Frisur war aber, daß sie nun Franz, dem sie mit ihren langen Flechten immer noch wie ein halbes Kind erschienen, auch wie ein erwachsenes Mädchen vorkam, und zwar wie ein sehr schönes. Das war sie auch. Ihre angegriffene Gesundheit hatte sich in den paar Wochen regelmäßigen Lebens im Delmont'schen Hause wunderbar gestärkt. Sie hatte volle, blühende Wangen bekommen, und da man im vorigen Jahrhundert noch nicht zu jener Höhe des Geschmackes sich aufgeschwungen, blasse und krankhafte Gesichter ›interessant‹ zu finden, so hatte Ellen nur gewonnen.
Wenn zwei junge, hübsche Leute in einem und demselben Hause wohnen, so wundert sich die Welt nicht besonders, wenn sie sich in einander verlieben der junge Mann natürlich zuerst, wie es dem Anstande gemäß ist, und so geschah es auch hier; Franz verliebte sich in Ellen und Ellen dann in Franz, und das kam nur daher, weil sie die dritte Sprache, die Augensprache, so schnell erlernt; denn Franz sagte ihr nichts, er sah sie nur immerwährend an, und dabei waren seine Augen so betrübt fragend und sehnsüchtig verlangend, als begehrten sie Großes, und sie erhielten Großes – das Beste – was auch die Welt sagen möge –, ein reines, frommes Herz, fest in Freud' und Leid, treu bis zum letzten Athemzuge.
Und Franz fühlte, welch einen Schatz er gewonnen, und war stolzer als ein König und so übermüthig fröhlich, daß er selbst in Comptoir seines Vaters nicht die übliche Miene anlegen konnte, und verwundert blickten die Schreiber auf das strahlende Gesicht des Sohnes ihres Principals.
Die Liebe zwischen Franz und Ellen blieb übrigens, wie alle Liebe, nicht stumm, sie fand Worte – wenn auch nur fern dem geliebten Gegenstande, auf dem Papier. Franz schrieb an Ellen ganz allerliebste englische Liebesbriefe, welche die Unerfahrene mit bewunderungswürdiger Gewandtheit im Style beantwortete. Kein besserer Lehrmeister als die Liebe – Ellen, die noch vor einem halben Jahre schrieb wie ein Kind, fand nun auf einmal Worte, und zwar gut gewählte, passende Worte, um die tiefsten und eigenthümlichsten Gedanken und Regungen auszudrücken. Um den Leser einen Blick in ihr Inneres thun zu lassen, wollen wir ein kleines Bruchstück aus einem ihrer Briefe für ihn übersetzen:
›Ich bitte Dich, Francis, schreibe mir ein paar Tage lang nicht. Ich muß zur klaren Erkenntniß meiner selbst und meiner Lage kommen, und Deine Briefe verwirren mich, und jeder einzelne stürzt mich von Neuem in eine Welt von Glück und Angst, von Zweifel und Zuversicht. Ja, Francis, Deine Briefe bringen mich außer mir, sie verwirren meine arme Seele!
In meinem Innern sind zwei Gedanken, zwei Ueberzeugungen, jede gleich stark und jede von Zeit zu Zeit mein Gemüth allein beherrschend. Die eine ist, daß ich unrecht, die andere, daß ich recht handelte, indem ich mich mit Dir verlobte.
Die eine sagt: Du bist nichts als eine arme Waise, man hat Dich im Hause des reichen Delmont gastfrei aufgenommen, als Du verlassen und verzweifelnd am Rande des Verderbens standest – es ist unrecht, es ist eine Sünde, wenn Du mit dem einzigen Sohne dieses Hauses, auf dessen Hand die Eltern vielleicht die größten Pläne gebaut, ein Verhältniß eingingst, dessen Kundwerden sicher den Eltern nur Verdruß bereitet, ja, sie vielleicht nicht nur gegen Dich erbittert, nein, vielleicht auch zum Zorne gegen ihr einziges, sonst so geliebtes Kind reizt.
Die andere Stimme spricht: Warum solltest Du nicht Deinem Herzen folgen, das wahr und treu dem seinigen entgegen schlägt? warum es ihm versagen, da kein anderes auf Erden ihm so ergeben, so ganz und ungetheilt sein Eigenthum sein kann? Liebt Dich nicht Francis, und sagt er nicht, Dein Zurücktreten werde ihn unglücklich machen, und darfst Du das höchste Kleinod Deiner Gastfreunde betrüben? Du bist arm, aber er ist reich für Zwei, wie er sagt, und Du bist ein ehrliches Mädchen, und er braucht sich Deiner und Deiner Familie nicht zu schämen.
Das sind die beiden Stimmen meines Herzens, geliebter Francis; lasse sie jetzt allein reden und schweige Du mindestens eine Woche, bitte, bitte.‹
Die festgesetzte Woche war wirklich vorübergegangen, ohne daß Franz an Ellen geschrieben; denn wenn ein Mann zum Erstenmale liebt, befolgt er immer die Befehle seiner Erwählten.
Die Woche war also ungestört für Ellen's Ueberlegung vorüber gegangen; welche von den beiden Stimmen ihres Herzens aber den Sieg in dieser Kampfeszeit davon getragen, vermögen wir nicht anzugeben. Wir wollen sie lieber selbst vorführen, da mag der Leser urtheilen.
Es war Sonntag Nachmittags und eine große Damen-Kaffee-Gesellschaft bei Frau Delmont versammelt. Ellen schenkte den Kaffee in die kleinen holländischen Tassen, die buntgemalten, die keinen Griff haben, ein. Sie war bei diesem Geschäfte allerliebst und wohl einer nähern Beschreibung werth: Sie hatte die tiefe Trauer abgelegt und trug ein Grau in Grau gestreiftes Seidenkleid mit breiten Pochen und wunderbar langer Taille. Auf ihre feinen weißen Arme fielen lange Spitzen-Manchetten, auch auf der Brust sahen aus der herzförmig ausgeschnittenen Taille die schönen Brüsseler Kanten hervor, die ein Geschenk des alten Delmont waren. Um den Hals trug sie ein breites, schwarzes Sammtband mit einem Granatschlosse. Auch Granaten in den Ohren, der einzige Schmuck ihres lieblichen, echt englischen Gesichtchens, dessen natürliche Zierde, die Haare, alle hinauf frisirt waren und in einem ungeheueren Toupet, auf dessen höchster Höhe wiederum ein kleiner Kranz von Spitzen thronte, ihr Haupt zierten. Diese Frisur und die hohen Absätze der bandgarnirten Schuhe machten sie viel größer erscheinen, als sie wirklich war. Sie war heute so besonders elegant, weil Frau Delmont sie zuerst ihren Bekannten präsentirte. Niemand begriff die Gegenwart der vom Himmel gefallenen Engländerin. Wie sie in dieses Haus gekommen, ahnte Niemand, denn ihre nächtliche Ankunft hatte Frau Delmont selbst den Domestiken durch einige kleine Lügen plausibel zu machen gewußt. Da war Ellen ein längst erwarteter Besuch, den Franz abgeholt und dessen Effecten auf dem Rheine verunglückt; denn ein Abentheuer war Frau Delmont's Tod, und sie ließ selbst nicht den Schatten eines solchen in ihrem Hause aufkommen.
Ellen wurde den Damen feierlich als die Tochter eines englischen Geschäftsfreundes, Miß Ellen Stanhope, die nur gekommen, um das Deutsche zu erlernen, vorgestellt.
»Ich kannte einen Kaufmann Lee Stanhope,« sagte eine der Damen zu Ellen, »er logirte bei seiner Durchreise einmal bei uns.«
»Das war mein Vater,« sagte Ellen lebhaft.
»Ihr Vater?« fragte Frau Delmont verwundert.
»Ja, mein Vater – o, er war einer der ersten Kaufleute der City, aber …«
»Nun, aber …?« fragte die Hausfrau wieder.
»Aber durch Einen und denselben Sturm scheiterten drei seiner größten Schiffe, zwei seiner Handelsfreunde fielen, und das Alles in Einem und demselben Jahre!«
Man fragte nun nicht weiter, denn es waren lauter Kaufmannsfrauen zugegen, und alle Angehörigen dieses Standes haben ja dieselbe Scheu vor gewissen Gesprächen, wie ein Kunstreiter vor dem Worte: Halsbrechen; man sieht lieber ein anderes, besseres Thema.
Uebrigens hatte Frau Delmont eine höhere Meinung von ihrem Pflegekinde erhalten, als sie so erfuhr, daß sie die Tochter eines einst reichen, wenn auch jetzt in unverschuldeter Armuth verschollenen Kaufmannes war.
Als sich schon Einige von dem Besuche entfernen wollten, kam Franz herein. Er trug eine Kleidung von Atlaß, genau dasselbe Grau, wie seine Geliebte; schöne Diamantknöpfe funkelten auf Rock und Weste, und die Schnallen am Knie und auf dem Fuße waren auch reich mit Edelsteinen besetzt. Sein gepudertes Haar war besonders elegant und sorgfältig aufgerollt, und eine Hauptzierde der damaligen männlichen Jugend, ein beinahe armdicker Zopf, hing ihm anmuthig im Nacken. Man lächelt wohl bei der Beschreibung dieses Costumes, und doch sah Franz unendlich eleganter und selbst schöner aus, als die Herren unserer Zeit in ihrer so ganz schmuck- und geschmacklosen Kleidung.
Aber kehren wir in das vorige Jahrhundert zu unserm eleganten Helden zurück. Nachdem er seine Mutter mit äußerster Grazie die Hand geküßt, wußte er jeder der anwesenden Damen, lauter verheiratheten älteren Frauen, irgend eine Freundlichkeit zu sagen.
Wenn sie ihm auch von diesen ernsten, etwas grämlichen Gesichtern nicht immer erwiedert wurde, so wollen wir doch annehmen, daß sie in ihrem Herzen empfunden worden.
Warum war aber Franz so besonders liebenswürdig? Er war zwar immer ein höflicher, freundlicher junger Mann, aber heute war er es besonders, weil Ellen, der Letzten, mit welcher er sprechen durfte, sein ganzes volles Herz entgegen schlug. Ihr konnte er nur mit strahlendem Gesicht entgegen treten, und weil er dies vorher fühlte, war er schon bei den andern Damen so freundlich und herzlich, damit seine nicht zu unterdrückende Freundlichkeit und Herzlichkeit gegen Ellen nicht zu sehr auffallen möge; oder wir thun ihm vielleicht auch Unrecht, und es war keine Berechnung, nur das nach allen Seiten hin so reiche Ausströmen seines übervollen liebenden Herzens, das wie die Sonne gegen Niemand karg ist.
Sie waren nun Alle abgefertigt, und er trat vor seine Geliebte, gegen welche sein Mund freilich noch kein Wort der Liebe ausgesprochen, obgleich er sie täglich auf dem Papier mit den innigsten Namen begrüßte.
Eine solche verschämte, heimliche, im persönlichen Zusammentreffen verläugnete und brieflich eingestandene Liebe hat aber einen unendlichen Reiz; freilich ist sie, ohne von der Nothwendigkeit geboten, ohne mit irgend einem Unrechte verknüpft zu sein, nur bei ganz jungen, wahrhaft unverdorbenen Menschen möglich.
In Franzens Hand lag ein Brief, der erste seit acht Tagen, wie Ellen befohlen. Eben als seine Mutter beschäftigt war, die letzte Dame zur Thür zu geleiten, wollte er ihn in ihrem Rücken in Ellen's Hand schieben, wie er oft gethan. Aber ihre Hand öffnete sich nicht wie früher – sie sah ihn traurig an.
»Ich darf nicht, Herr Delmont.«
»Warum?«
»Ich bin jetzt im Klaren, ich handle unrecht.«
»Miß Ellen, nur diesen einzigen Brief noch – es soll der letzte sein – ich werde mit meinem Vater sprechen, um Ihren Scrupeln ein Ende zu machen.«
»Mit Ihrem Vater, Herr Delmont?«
»Sie meinen, das würde nichts helfen, ich müsse auch mit meiner Mutter sprechen? Ach Gott ja, Sie haben leider Recht! Aber nehmen Sie jetzt nur meinen Brief.«
Ellen weigerte sich noch immer, da kehrte Frau Delmont von der Begleitung ihrer Gäste zurück – sie war schon im Zimmer, als Franz den dicken Brief zwischen Ellen's geschlossene Hände schob und sie so zwang, ihn in eine ihrer Seitentaschen fallen zu lassen, um ihn den Augen der Mutter zu entziehen – wozu es vielleicht schon zu spät war.
Frau Delmont nahm ihre Filet-Arbeit wieder zur Hand, Ellen setzte sich zu ihr; Franz, der zu einem jungen Freunde eingeladen war, welcher am Vorabende seiner Hochzeit noch einmal alle seine Bekannten um sich versammeln wollte, empfahl sich mit den Worten: »Ich komme nicht vor zwölf Uhr nach Hause, Mama; es braucht aber Niemand aufzubleiben, ich habe den Schlüssel.«
Frau Delmont verabschiedete ihn ungewöhnlich kalt und kurz; er bemerkte es aber nicht, weil er Ellen's Auge suchte, das aber auf ihre Arbeit niedergeschlagen war. Er mußte scheiden, ohne einen Blick von ihr erhalten zu haben, denn auch seinen an sie gerichteten Abschiedsgruß beantwortete sie nur mit einer stummen Verbeugung und mit fest auf den Boden gerichteten Augen.
Bald nach ihm erhob sie sich auch. »Wohin wollen Sie?« fragte Frau Delmont mit harter Stimme.
»Baumwolle holen für meine Arbeit, Madame.«
»Dies machen Sie einer Andern weiß. Sie eilen so, um den Brief zu lesen, den Ihnen mein Sohn zugesteckt hat. Wo ist er?«
»Hier!« sagte Ellen, indem sie todtenblaß, aber mit der ihr eigenen ruhigen Anmuth der erzürnten Dame das Billet hinreichte.
Frau Delmont riß das Siegel vom Briefe, als trage das Couvert die Schuld des geheimen Liebesverständnisses ihres Sohnes – sie faltete das Papier aus einander und rief dann mit einer unbeschreiblichen Mischung von Zorn, Enttäuschung und tiefster Verachtung: »Englisch!«
»Wenn ich ihn selbst gelesen habe, will ich Ihnen sagen, was darin steht, Madame.«
»Daß ich eine Thörin wäre und mir von Ihnen Märchen aufbinden ließe! der Brief bleibt in meinen Händen.«
»Wie Sie befehlen.«
»Ich bitte Sie, Ellen,« sagte nun Frau Delmont mit immer höher lodernder Zornesgluth, »legen Sie diese würdevolle Unschuldsmiene ab, sie ist lächerlich bei einer Person, die heimliche Liebesbriefe annimmt.«
»Wenn Sie gesehen haben, daß ich den Brief annahm, dann haben Sie auch gesehen, daß es gegen meinen Willen geschah, daß Ihr Herr Sohn ihn mir aufdrang.«
»Das wird aus besondern Gründen gewesen sein. Sie werden nicht immer so spröde gethan haben. Der wievielte Brief ist es wohl?«
»Ich weiß es nicht genau, zwanzig bis dreißig Briefe werde ich wohl von Ihrem Herren Sohne erhalten haben.«
Frau Delmont schlug die Hände über dem Kopfe zusammen, daß die breiten Flügel ihrer kunstvollen Haube aus aller Ordnung geriethen. »Zwanzig bis dreißig Briefe! und das schämt sich die Person nicht mir einzugestehen!«
»Sie fragten mich ja!«
»Aus meinen Augen!«
Aber Ellen ging nicht. Dicke Thränen standen auf ihren zarten Wangen. »Erlauben Sie mir erst, Ihnen zu sagen, Madame, daß ich Ihren Herrn Sohn aufzugeben entschlossen war, weil ich es als ein Unrecht gegen Sie erkannt und eben deßhalb heute jenen Brief zurück gewiesen.«
»So! nachdem Sie zwanzig bis dreißig angenommen und ihm den Kopf verrückt mit Ihren englischen Redensarten.«
»Wir haben nie über unser Verhältniß gesprochen.«
»Was soll das heißen?«
»Ihr Sohn hat nur in Briefen eine andere Sprache als in Ihrer Gegenwart zu mir geredet; wenn wir aber zufällig einmal uns allein sahen, redeten wir von gleichgültigen Dingen.«
»Das ist mir einerlei. Gehen Sie jetzt auf Ihr Zimmer. In einer Stunde werde ich zu Ihnen kommen und Ihnen mittheilen, wie Sie Sich zu verhalten haben.«
Als Madame Delmont nach einer Stunde bei dem jungen Mädchen eintrat, blieb sie überrascht einen Augenblick in der Thür stehen; denn Ellen's Gestalt bot eben ein so schönes Bild dar, daß es selbst auf die hocherzürnte Frau seinen Eindruck nicht verfehlte.
Sie saß auf ihrem kleinen Kanapé, vor sich das Tischchen mit einer hohen Wachskerze und mit mehreren Briefpaketen. Ihr Anzug war ganz verändert.
Sie hatte den Puder aus ihren schönen blonden Haaren gekämmt und sie in zwei reiche Flechten um ihre Schultern gelegt. Das graue Seidengewand hatte sie gegen einen blendend weißen Negligé-Anzug mit langen Schößen vertauscht, worin ihre zierliche Gestalt sich auf das Vortheilhafteste ausnahm. Blaß, mit gefalteten Händen saß sie da und erwartete in offenbarer Ergebung ihre gestrenge Richterin.
Die Stellung der Kleinen, so wie das ganze sichtbare corpus delicti entwaffneten schon in etwas den Zorn der Dame. Sie nahm neben ihrem Pfleglinge Platz und sagte dann ziemlich milde:
»Ich bin jetzt vollkommen im Klaren über das, was geschehen muß. Vor allen Dingen darf aber Franz nicht wissen, daß ich hinter sein Geheimniß gekommen. Versprechen Sie mir das?«
»Wenn er mich nicht fragt, werde ich ihm nichts sagen; aber belügen werde ich ihn nicht, denn er ist mein Wohlthäter.«
»Schon gut, schon gut. Zweitens muß Franz fort, und das je eher, desto besser. Ein Vorwand wird sich bei unserem Geschäfte leicht finden. Wann er fort ist und Ihnen schreibt, werden Sie ihm anzeigen, daß ich Alles weiß und Ihnen verboten, noch weiter mit ihm zu correspondiren.«
»Und ich? Was haben Sie über mich beschlossen? Denn natürlich kann ich nicht länger in einem Hause bleiben, wo meine Gegenwart das einzige Kind verdrängt.«
»Sie – Sie müssen hier bleiben, bis sich eine andere passende Unterkunft für Sie gefunden. Als Engländerin werden Sie leicht auswärts die Stelle einer Gesellschafterin oder Erzieherin finden – ich kann Ihnen nicht anders helfen; aber wenn Sie jetzt alle meine Wünsche erfüllen, werde ich mein Möglichstes thun, Sie gut zu placiren.«
»Ich bin Ihnen sehr dankbar und bereit, Ihren Vorschriften auf das Genaueste nachzukommen.«
Dieser Gehorsam rührte die eben noch so gereizte Frau Delmont dermaßen, daß sie Ellen umarmte und ein zwar leichtsinniges, aber dennoch gutes Kind nannte.
Sie ging, ohne die Liebesbriefe ihres Sohnes, die den Tisch bedeckten, mitzunehmen – sie waren ja englisch!
Als sie aber draußen war, verriegelte die junge Engländerin die Thür hinter ihr, fiel auf die Kniee und richtete an ihren Gott, jetzt wieder ihren einzigen Schutz, ein eben so inbrünstiges Gebet, wie in jener Nacht, wo sie aus dem Leben scheiden wollte.
Franz aber ließ in demselben Augenblicke mit den bedeutsamen Worten: › Ce que nous aimons,‹ seine jugendliche Geliebte laut leben, und alle seine Genossen fielen jubelnd ein, und Niemand ahnte und dachte, daß die, der vielleicht eben der innigste Gedanke in jener Gesellschaft junger Männer galt, in Thränen zerfließend auf dem kalten Estrich ihres Zimmers lag.
Franz war abgereis't. Ohne Ahnung des über ihn hereinbrechenden Gewitters hatte er von der Geliebten Abschied genommen – sie hielt ihr Wort: nicht Blick, nicht Wink verriethen ihm, daß Alles verloren war. Es wurde ihr freilich schwer, sehr schwer, den einzigen Schutz und Trost, den Geliebten ziehen zu lassen, ohne ihm zu sagen, daß ihre Liebe verrathen und geopfert war – aber sie hielt ihr Wort.
Als Franz fort war, sagte seine Mutter zu ihr: »Ich danke Ihnen, Helene, Sie haben wie ein braves Mädchen gehandelt. Thun Sie aber auch jetzt den letzten Schritt und schreiben Sie ihm, daß Eure Liebe und Heirath unmöglich sei, sobald er Ihnen von Paris, wohin ihn sein Vater für einige Wochen in Geschäften geschickt, seine Ankunft gemeldet.«
Nicht ohne Absicht hatte Frau Delmont Paris erwählt; sie dachte mit kluger Berechnung, daß ein junger Mann in Paris eine in Deutschland verlorene Geliebte eher verschmerzen werde, als in der Heimat selbst.
Franz schrieb den ersten Tag nach seiner Ankunft in Paris an seine Ellen, und zwar einen so innigen, liebevollen, glücklichen Brief, daß das arme Mädchen es nicht begreifen konnte, wie sie diesem heitern Menschen, der überall nur Glück und Freude sah, seine liebsten Hoffnungen abschneiden sollte; aber sie that es doch – sie schrieb:
›Lieber Francis,
Alles ist aus, die Mama hat unser Geheimniß erfahren – sie sah, wie ich den letzten Brief erhielt. Sie hat deshalb ihren Sohn aus dem Hause entfernt, und eher soll er es nicht mehr betreten, als bis ich es verlassen – für mich will sie eine gute Stelle als Gesellschafterin zu erhalten suchen. Ein ewiges Lebewohl von der armen
Ellen.‹
Sie hatte vermieden, ihren Geliebten in diesem kurzen Briefe Du zu nennen, weil sie versprochen, ihn Frau Delmont zu zeigen, die ihn sich von ihrem Gatten übersetzen ließ, da er wie alle frühern Briefe in Ellen's Sprache geschrieben war.
Herr Delmont machte die Adresse auf Ellen's Brief und gab ihn schweren Herzens zur Post; die beiden Kinder dauerten ihn, obgleich er eben so wenig wie seine Frau die Möglichkeit einer Verbindung mit Ellen einsah. Er war ein zu guter Kaufmann, um nicht die Mitgift einer Braut als etwas eben so Wichtiges, wo nicht noch Wichtigeres als die Braut selbst zu betrachten, und Eines ohne das Andere dünkte ihm eine Unmöglichkeit. Seine Gattin hatte ihm gesagt, daß Ellen die Tochter eines angesehenen Kaufmanns gewesen, aber das änderte natürlich nichts; da sie vor dem Bankerotte ihres Vaters nicht mit seinem Sohne verlobt war, war ihm dieser Bankerott nur ein Grund, es jetzt nicht zu thun; sein Wort würde er gehalten haben, denn er war, wenn auch kein besonders menschenfreundlicher, doch ein durchaus ehrenhafter Mann.
Sehr natürlich wäre es gewesen, wenn Franz sogleich nach dem Empfange des Briefes seiner Geliebten von Paris abgereis't wäre; aber auch dagegen hatte Herr Delmont sich versichert. Er hatte nämlich in Compagnie mit einem andern Kaufmanne Forderungen an ein insolventes Pariser Haus eingekauft und damit seinen Sohn nach Paris geschickt, indem er ihm befahl, nicht eher zu kehren, als bis Alles im Reinen, denn es handle sich hier nicht nur um den Vortheil des eigenen Hauses, sondern auch um den eines Compagnons, der nur im Vertrauen auf Herrn Delmont's Einsicht sich betheiligt – was auch der Fall war. Hätte der gute Mann geahnt, aus welchem Grunde Herr Delmont die zweifelhaften Forderungen so eifrig einkaufen ließ, er hätte ihm wahrscheinlich seine Theilnahme an dem Geschäfte nicht so sehr aufgedrungen. Daß Herr Delmont diese Theilnahme sich gefallen ließ, wollen wir ihm nicht verargen; ein guter Kaufmann ist eben vor allen Dingen – ein guter Kaufmann.
Herr Delmont hatte also in der ihm bekannten Rechtlichkeit seines Sohnes, so wie in der ihm eben so gut bekannten langen Dauer einer Gläubiger-Auseinandersetzung die sichersten Bürgen, daß Franz nicht so bald zurückkehren werde, wenn wirklich in Paris sein Herz noch an der fernen Geliebten hing.
Franz war aber treu, treu überall. Er schrieb an seinen Vater:
›Lieber Vater!
Ich habe einen Brief von Helenen mit der Aufschrift von Ihrer Hand erhalten. Schon ehe ich ihn las, ahnte ich also seinen Inhalt. Ich habe längst gefürchtet, daß es so kommen würde, sehe aber durchaus nicht die Nothwendigkeit davon ein; denn Köln wäre eine arme Stadt, wenn nicht der einzige Sohn eines ihrer reichsten Kaufleute ein Mädchen ohne Mitgift heirathen könnte, und das ist doch gewiß Ihr einziges Bedenken gegen mein theueres Mädchen. Ich werde freilich nie dem Willen meiner verehrten Eltern entgegen handeln oder sie zwingen, ihn aufzugeben. Da ich aber ein erwachsener Mensch von einundzwanzig Jahren bin, so ist es mir doch wohl auch erlaubt, einen Willen zu haben, und ich erkläre ihn hiermit feierlich – ja, ich schwöre, daß ich meine Vorsätze halten werde. Wenn nämlich Ellen Stanhope das Haus verlassen hat, ziehe ich selbst nicht mehr bei Ihnen ein, werde überhaupt ohne Helenen kein Haus in Köln bewohnen. Zweitens wird nie eine Andere mein Weib, es sei denn, daß Helene selbst mich verwirft. Lassen Sie sie hingegen in Ruhe Ihr Haus fortan bewohnen, so verspreche ich Ihnen, sie nie ohne Ihre Einwilligung zu sehen, ihr nie zu schreiben, ohne es Ihnen mitzutheilen, und wenn noch viele, viele Jahre darüber hingehen sollten, ich will nicht murren – zuletzt werden Sie ja doch Beide Ihr gutes Herz nicht verläugnen und Ihr einziges Kind nicht unglücklich machen.‹
Herr Delmont brachte den Brief in einiger Aufregung zu seiner Frau; die lächelte aber, als sie ihn gelesen, und sagte: »Kindergeschwätz!«
Einige Wochen darauf (Helene hatte noch keine Zeile von Franz erhalten, weil dieser immer noch vergeblich auf eine Antwort seines Vaters wartete, der ihm nur durch den Correspondenten dasjenige schreiben ließ‚ was das Geschäft anging, sich selbst aber mit Unwohlsein entschuldigte) gab Frau Delmont wieder eine Kaffee-Gesellschaft, und Ellen schenkte wieder, wie damals an jenem verhängnißvollen Tage, den Damen ein. Sie war eben so artig, aufmerksam und liebenswürdig, wie damals, und nur ein sehr aufmerksamer Beobachter konnte sehen, daß etwas an ihr verändert war. Wenn sie nämlich nicht beschäftigt war oder man nicht mit ihr sprach, sah sie starr, in tiefe Gedanken verloren, in eine Ecke des Zimmers, daß ihre großen hellen Augen sich erweiterten und glanzlos, wie ohne Blick, waren.
Ellen war ein starkes Mädchen und konnte sich sehr beherrschen; eine strenge Erziehung hatte sie früh gelehrt, nie im Aeußern ein inneres Leiden zu zeigen – aber freilich, ganz verbergen ließ sich ein Schmerz wie der ihre doch nicht.
Eine der anwesenden Damen erzählte viel von ihrem Sohne, der eben aus Amerika gekommen, wohin er vor anderthalb Jahren gegangen und wohin er zu ihrem großen Leidwesen wieder zurückkehren wolle, nachdem er sich mit einem jungen Manne dort associirt.
»Mit einem Amerikaner?« fragte die Hausfrau.
»Nein, mit einem Engländer, mit dem er auch dorthin gereis't ist. Es soll ein sehr fähiger Kaufmann sein, dieser Engländer.«
Eine Ahnung zwang Ellen, zu fragen: »Wie heißt der Engländer?«
»Stanhope. So heißen Sie ja auch, glaube ich?«
»Es muß mein Bruder sein!« sagte Ellen mit vor Freude zitternder Stimme. »Wenn ich es nur gewiß wüßte!«
»Ich werde Ihnen meinen Sohn morgen Früh herschicken, da können Sie ihn selbst fragen. Es ist natürlich, Sie wünschen etwas Näheres von einem so entfernten Bruder zu hören.«
Ach, die gute Frau wußte nicht, wie wichtig Ellen jede Nachricht über ihren Bruder war, das einzige Wesen, auf dessen Schutz sie sich jetzt noch angewiesen fühlte!
Der junge Kaufmann, ein auffallend hübscher, heiterer junger Mann, kam wirklich am andern Tage.
Er bestätigte Ellen's Ahnung, es war wirklich ihr Bruder, mit welchem er vor beinahe zwei Jahren nach Amerika gereis't. Er hatte sich mit ihm associirt, und die beiden jungen Leute hatten die beste Aussicht, dort ein gutes Geschäft zu gründen. Es schien Ellen aber, als würde der junge Kölner hauptsächlich das Geld, ihr Bruder aber die Einsicht und den Fleiß, der in Amerika damals nöthiger als irgendwo war, dem Handel liefern. Der junge Mann, der Neppen hieß, kam ihr etwas leichtsinnig vor – sie wußte selbst nicht, warum; und doch entschloß sie sich, ihm ein großes Vertrauen zu schenken.
Als er ihr Alles, was ihm mittheilenswerth schien, von ihrem Bruder erzählt, sagte sie etwas befangen:
»Und Sie kehren nach Amerika zurück?«
»Ja, so bald wie möglich; mein Vater will mir mein Erbtheil einhändigen, um mich gut etabliren zu können, dann sind noch andere Dinge zu besorgen – aber ich hoffe doch noch vor dem Winter die Seefahrt zu machen; in fünf bis sechs Wochen denke ich abzureisen.«
»Gehen Sie in einem eigenen Schiffe?«
»Ja, mein Vater will mir einen Antheil an einem Schiffe kaufen, das an der englischen Küste liegt und mit Stahlwaaren befrachtet werden soll.«
»Können Sie … verzeihen Sie mir … es muß Ihnen sehr sonderbar scheinen … und doch weiß ich keinen andern Ausweg.«
»Was ist es, Mademoiselle?«
»Könnten Sie wohl Jemanden mitnehmen?
Der junge Mann lächelte – er wußte nicht, was sie wollte – endlich sagte er verlegen: »Das hängt natürlich nur von mir ab – aber es käme eben darauf au, wer es wäre.«
»Ich selbst.«
»Sie, Mademoiselle?«
»Ja. Denken Sie deshalb nicht unrecht von mir. Ich weiß wohl, daß in Deutschland kein junges Mädchen mit einem Manne sich auf die Reise begiebt. In England ist das anders, da reiten, fahren, gehen die jungen Damen ganz ungehindert mit Leuten ihres Alters; ja, jedes Mädchen kann den Besuch eines Fremden ohne Zeugen empfangen etwas, das zum Beispiel hier heute für mich eine große Ausnahme ist, und welches ich nur Frau Delmont's Furcht vor einer englischen Conversation zwischen uns verdanke.«
»Wenn Sie mir Ihr Vertrauen schenken, so ist natürlich …«
»Ich muß Ihnen vertrauen, weil Sie der Freund und Compagnon meines Bruders sind, unter dessen Schutz ich mich um jeden Preis zu begeben wünsche; Sie werden von ihm wissen, daß unsere Eltern todt sind?«
»Nicht doch. Er sagte mir nur von dem Tode seines Vaters. Mutter und Schwester glaubte er in England unter dem Dache Ihres Oheims, eines Geistlichen!«
»Also hat er unsere Briefe nicht erhalten! und wir wahrscheinlich nicht die seinigen. Mutter und Oheim sind todt. Ich habe Niemanden auf der Welt als meinen Bruder. Hier im Hause bin ich nur ein zufälliger Gast, der dem Mitleid verdankt, daß man ihn duldet – die Ehre verlangt also schon, daß ich dieses Haus, so bald als möglich, verlasse.«
Dem jungen Manne konnte das schöne siebenzehnjährige Mädchen natürlich nur eine angenehme Begleitung sein; er versprach ihr alle mögliche Sicherheit und Bequemlichkeit während ihrer gemeinschaftlichen Reise und beurlaubte sich auf Wiedersehen.
Ellen ging nun zu Frau Delmont, um ihr ihren Plan mitzutheilen. Obgleich die Dame über diesen ›abentheuerlichen‹ Entschluß sehr erstaunt war, ja, sogar Ellen's Vorhaben ungeziemend und anstandswidrig fand, so hütete sie sich doch wohl, dies gegen Ellen auszusprechen, denn sie war zu froh, daß die junge Engländerin aus freiem Antriebe ihr Haus und Deutschland verlassen wollte; konnte doch nun, wie ihr schien, Franz ihr nicht den Vorwurf machen, sie habe Ellen fortgestoßen, und eben so wenig auf seinem Worte beharren: er werde ohne Ellen nicht bei seinen Eltern wohnen, da Ellen freiwillig dieselben verlassen.
Frau Delmont begab sich zu der Mutter des jungen Neppen und suchte dieser Ellen's Reiseplan möglichst plausibel zu machen und sie dafür zu stimmen; ob es ihr gelang, wissen wir nicht, denn Frau Neppen gab keine Ansicht Preis; aber es schien Franzens Mutter, als sei die Dame weniger freundlich und herzlich als gewöhnlich. Gegen Ellen hingegen, die sie auf Frau Delmont's Rath in den nächsten Tagen besuchte, war sie mütterlich liebevoll und schien das arme Kind zu bedauern, das so weit eine Heimat suchen mußte.
Um ihr Gewissen zu beschwichtigen, bemühte sich Frau Delmont, so viel es in ihren Kräften stand, für das leibliche Wohl Ellen's zu sorgen. Schneiderin und Näherin mußten eine förmliche Ausstattung für sie zurecht machen, sie sollte wohl equipirt in Kleidern und Wäsche das reiche Kölner Haus verlassen, damit dachte Frau Delmont sich ihrer Menschenpflichten gegen die Waise entledigt zu haben.
So kam der letzte Tag heran. Der junge Neppen war nun reisefertig. Am Abend brachte Ellen, die heute todtenblaß war, ihrer Hausdame einen Brief.
»Er ist an Ihren Sohn. Sie werden mir erlauben, daß ich ihm von hier aus noch schreibe – denn ich würde es sonst unterwegs thun. Ich habe keine Nachricht außer jenem ersten Briefe von ihm erhalten; wie es kommt, ich weiß es nicht, aber Franz ist ein guter Mensch, und ich vertraue ihm.«
Der Brief war offen, Herr Delmont konnte ihn nicht ohne Rührung lesen, und es wurde auch beschlossen, ihn an Franz abgehen zu lassen, da darin das Zeugniß enthalten war, daß Ellen freiwillig schied. Er lautete:
»Lieber Francis,
lebe wohl! Ich gehe dahin, wohin ich gehöre von Gott und Rechts wegen, zu meinem einzigen Bruder in Amerika. Dessen Freund und Compagnon, der junge Neppen, den Du auch kennst, nimmt mich in seinem eigenen Schiffe mit; er ist zwar ein junger Mann, aber das thut nichts, denn die Liebe zu Dir lebt zu unerschütterlich in meinem Herzen, als daß mir je ein anderer Mann gefährlich werden könnte! Erfülle die Wünsche Deiner Eltern und vermähle Dich bald mit einer Frau, die ihnen gefällt. Vergiß mich aber nicht ganz und gar, denn ich denke immer und ewig an Dich.
Gott segne Dich!
Ellen.
Frau Delmont ließ Ellen in ihrem Wagen nach dem Neppen'schen Hause bringen, ja, sie begleitete sie selbst bis an die Thür. Die Hand der jungen Engländerin war eiskalt, als sie sie in Frau Delmont's Rechte zum Abschiede legte. Was in Franzens Mutter vorging, konnte Niemand sehen, denn ihr Gesicht blieb wie gewöhnlich ruhig. Frau Neppen war wegen des wahrscheinlich ewigen Abschieds von ihrem Sohne, obgleich ihr noch drei andere Söhne blieben, so erschüttert, daß sich auch ein Theil ihrer Rührung an Ellen's Halse in Thränen Luft machte.
Zehn Jahre später.
Wir sind wieder in dem Hause eines reichen Kölnischen Kaufmannes, doch nicht Delmont's. Es ist auch wieder um die Carnevalszeit, wie beim Beginn unserer Erzählung.
In einem Zimmer des Erdgeschosses saßen zwei jugendliche Brünetten an einem Tische, auf welchem eine Menge angefangener bunter Maskenkleider lag.
Die beiden Mädchen waren sehr verschieden, obgleich es Schwestern waren. Die eine keck und herausfordernd und lustig in die Welt schauend, die andere ernst und sogar schwermüthig mit einem blassen, aber unendlich schöneren Gesichte. Diese letztere hieß Helene, die erste Sibylle.
»Du mußt mir doch zugeben, Helene, daß eine Gesellschaft, in welcher der junge Delmont sich nicht befindet, unerträglich ist,« sagte Sibylle im eifrigen Gespräche. »Ich sage: der junge, zum Unterschiede des alten, seines Vaters; denn er selbst leidet auch gerade nicht mehr an Uebermaß von Jugend, er muß im Anfange der Dreißig stehen.«
»Kindisches Geschwätz!«
»Sei nicht so altklug und ernst! Du denkst doch anders! Dir gefällt Franz Delmont noch besser als mir, und Du hörst doch gern von ihm reden.«
»Meinst Du?« fragte Helene, indem eine dunkle Röthe ihre hohe Stirn überzog.
»Ja, ja, das habe ich längst bemerkt, Du lachst nur über seine Witze, theilst unsere Scherze nur wenn er sie theilt; kurz, Du bist in seiner Gegenwart wie umgewechselt.«
»Auch liebenswürdiger?«
»Zu Deinem Troste, ja. Delmont zollt Dir aber auch nicht geringe Aufmerksamkeit. Weißt Du noch, wie er zuerst Deinen Taufnamen hörte und so gerührt war und sagte: ›Helene ist der schönste Frauenname!‹ ›Das bilden Sie Sich nur ein, weil ihn die schönste Frau trug,‹ sagtest Du ihm damals.«
»Und er erwiederte ernsthaft: ›Nicht die schönste, die beste!‹«
»Und alle Leute, die uns zuhörten, lachten mit uns ob seiner naiven Behauptung, daß Helena die beste Frau der Welt gewesen sei; er aber sah uns an, als wären wir alle verrückt. Dann lachte er ärger als wir und machte ein Paar vortreffliche Späße.«
»Ja, ja,« sagte Helene schwermüthig, »er endet immer mit einem Spaß, einem Witz – das ernsthafteste Gespräch, die tiefsinnigste Betrachtung. Entweder er ist zu leichtsinnig, um für tiefen Ernst empfänglich zu sein, oder seine Witze und Späße sind die Maske eines verhüllten Schmerzes.«
»Keines von Beiden,« sagte Sibylle. »Es ist nichts weiter, als daß er eben ein geistreicher, humoristischer Mann ist und keine Gelegenheit versäumt, dies zu zeigen, da er diesen Eigenschaften seine bisher hier unerhörte Popularität verdankt.«
»Nennst Du das Popularität, wenn unsere guten Mitbürger sagen: ›Wir können keinen Carneval mehr schön finden, ohne Franz Delmont an der Spitze zu haben, er ist die Seele, ohne ihn geräth nichts!‹ Nennst Du das Popularität, wenn heute eine reiche Kaufmannsfrau, die eine Gesellschaft geben will, zu ihrem Diener sagt: ›Geh erst zu Herrn Franz Delmont, und wenn der absagt, lade Niemanden weiter – ich warte dann bis zu einem andern Tage, denn ohne Herrn Delmont kann man keine Gesellschaft geben.‹«
»Gewiß, Helene, nenne ich das Popularität.«
»Liebes Kind, diese Menschen kümmerten sich doch nicht um ihn, sobald er krank oder traurig wäre; eigentliche Freunde hat Delmont gar keine, obgleich sie alle deßgleichen thun. Die Männer grollen ihm innerlich, weil er die hervorragendste Persönlichkeit unter ihnen ist und alle Frauen nur nach ihm sehen, und die Frauen grollen ihm auch innerlich, so sehr sie ihn bevorzugen, weil er keine bis jetzt seiner Hand würdig gehalten, ja, nicht einmal eine von ihnen ihm eine Leidenschaft einzuflößen vermocht hat.«
»Grollst Du ihm auch, Helene?«
»Daß ich diese Bemerkung machte, ist der sicherste Beweis, daß ich es nicht thue. Ich bin Franz vom Grunde meiner Seele gut, und er zieht mich an und fesselt mich mit seinem räthselhaften, oft dämonischen Humor – mehr, als ich je geglaubt, daß dies einem Manne möglich sein würde.«
In diesem Augenblicke trat der Diener ein und meldete Herrn Franz Delmont.
Wie von einem electrischen Schlage getroffen, fuhren beide Mädchen in die Höhe, beide zitternd, beide roth und verwirrt. Ohne recht zu wissen, was sie thaten, räumten sie unter den Kleidern; sie wollten Ordnung im Zimmer machen, und warfen Alles durch einander.
Da trat der Gemeldete herein. Er hatte sich sehr verändert, aber er war ein schöner Mann geblieben. Groß und stark, doch nicht zu stark, die edlen Züge leicht geröthet, den Kopf etwas zurückgeworfen, mit sicherer bewußter Haltung – so trat er bei den Mädchen ein, und ein Zug feinen Spottes lagerte sich um seinen schönen Mund, als er die offenbare Verwirrung der Beiden gewahrte.
»Schon so früh von Deutz herüber?« rief Sibylle mit anscheinender Unbefangenheit ihm entgegen.
»Wie sind Sie durch die großen Eisschollen gekommen, Herr Delmont?«
»Ich muß Ihnen erröthend antworten, Mademoiselle, daß ich heute Nacht gar nicht in meinem Hause gewesen, sondern bis vier Uhr in einer Männer-Gesellschaft im Gasthause und dann am Tische eingeschlafen bin, bis mich die Kellner zum Frühstück geweckt – nicht wahr meine Damen, eine schone Conduite?«
»Warum erzählen Sie uns das?« fragte Helene ernsthaft.
»Weil Mademoiselle mich fragt, wie ich durch die Eisschollen so schnell durchgerudert – die Wahrheit geht vor Allem. Aber es ist wirklich eine schlimme Folge meiner Residenz in Deutz, daß ich im Winter oft, wenn ich mich den Abend im Wirthshause befinde, der Eisschollen wegen bis an den lichten Morgen dort bleibe!«
»Warum sind Sie so eigen und wohnen nicht bei Ihren Eltern in dem schönen großen Hause?«
»Weil ich die alten Leute mit meinem tollen Leben nicht stören will. Ich würde mich besinnen, meine Freunde zum Abendessen einzuladen, weil ich fürchten müßte, es würden zu laute Gesundheiten ausgebracht. Ich müßte wie eine Frau, die einen eifersüchtigen Mann hat, von jedem Männerbesuche um der Ruhe des Hauses willen wünschen, daß er sich bald entfernen möge.«
»So kaufen Sie sich ein anderes Haus hier in Köln!«
»Ist meine Villa nicht schön? meine leichte italienische Sommerwohnung, ist sie nicht reizend und selbst im Winter besser als die engen Häuser in den engen Straßen meiner übrigens sehr respectablen, aber etwas schmutzigen, etwas lärmenden und etwas düsteren Vaterstadt?«
»Sie sind ein Sonderling,« sagte Helene.
»Nein, das bin ich nicht,« lachte Franz, »ich bin ein ganz gewöhnlicher Mensch, so gewöhnlich, daß ich mir oft selbst sehr langweilig werde und mich deshalb so viel in der Gesellschaft Anderer trösten muß so wie ich eben mir den liebenswürdigsten Trost zu holen kam!« sagte er mit einer galanten Verbeugung, die aber mehr gegen Helenen, als gegen Sibyllen gerichtet war. »Sind unsere Anzüge fertig?«
»Beinahe,« sagte Sibylle; »aber treiben Sie es nur nicht zu toll, sagen Sie den Leuten nicht zu bittere Wahrheiten, sonst laufen meine Schwester und ich Ihnen fort.«
»Lieben Sie vielleicht, wie man den Damen nachsagt, auch die Wahrheit nicht?«
»Was das nur wieder für eine Querfrage ist!«
»Das wäre schlimm, denn ich bin gerade heute sehr aufgelegt, die Wahrheit zu sagen. Diese schlaflose Nacht hat mich abgespannt, und da zur Lüge nothwendig etwas Aufregung gehört, so bedaure ich, Ihnen heute damit nicht aufwarten zu können, und will mich deshalb empfehlen.«
Sibylle wußte nicht, wie sie Franzens Worte nehmen sollte – die Thränen waren ihr nahe; Helene sah es, und mit ernster Stimme sagte sie zu Franz: »Bleiben Sie, gehen Sie nicht so unartig zur Thür hinaus.«
»War ich unartig? Dann bitte ich sehr um Verzeihung. Wie gesagt, das kommt alles nur von der schlaflosen Nacht.«
»Nein, nein, Herr Delmont,« sagte Helene ruhig. »Sie haben mehr damit sagen wollen. Vielleicht haben Sie auch Recht,« setzte sie nach einer Weile hinzu: »wir Frauen lieben die Wahrheit nicht genug, oder vielmehr wir lieben sie schon, aber wir üben sie nicht genug. So sehr ich immer für mein eigenes armes Geschlecht die Waffen führe und es überall zu vertheidigen und ihm alle guten Eigenschaften zu vindiciren suche, so muß ich doch eingestehen, daß in Einem Punkte uns die Männer weit überstrahlen – sie sind weit wahrer als wir.«
»Ist das Ihr Ernst, Mademoiselle Helene?«
»Gewiß. Ich bin fest überzeugt, daß von den Lügen, die auf der Welt ausgesprochen werden, neun Zehntheile aus weiblichem Munde kommen – die Liebeslügen ausgenommen,« setzte sie lachend hinzu, »denn die Männer lügen und heucheln Liebe, um sich die Zeit zu vertreiben – das thun wir nicht; eine Frau heuchelt höchstens ihrem Manne Liebe und das ist Zwang.«
»Und wenn Männer ihren Frauen Liebe heucheln – ist das nicht auch Zwang?«
»Seien Sie nicht witzig! Es wäre recht gut, wenn die Männer ihren armen Frauen zuweilen etwas Liebe vorheuchelten, statt daß sie da glauben, ganz aufrichtig sein zu können. Aber es ist doch besser, nichts geht über die Wahrheit.«
Franz lachte, dann sagte er zu Helenen: »Wenn Sie aber die Wahrheit so lieben und achten und so sehr bedauern, daß Ihr Geschlecht sie so wenig übt, warum befreien Sie Sich denn für Ihren Theil nicht von diesem weiblichen Herkommen und sind wahr, immer und ewig?«
»Ich kann nicht!« sagte Helene ernst.
Franz blickte in ihre Augen, die eben in wunderbarem Ausdrucke leuchteten: »Versuchen Sie es, Helene, seien Sie wahr, ich will Ihr Ritter sein und Sie vertheidigen, wenn diese ungewöhnliche Frauen-Heldenthat Ihnen irgendwo Feinde zuzieht.«
»Sie begreifen ein Frauenleben nicht. Sie verstehen mich nicht einmal, denn bei der Wahrheitsausübung der Männer ist oft weniger Verdienst, als bei der frommen Lüge einer armen Frau. Sie dürfen sagen, was Sie empfinden – ich darf das, kann das nicht; ewig bis zum Grabe muß ich meine besten Empfindungen mit einem tiefen Schleier verhüllen, ja, das Gegentheil behaupten.«
»Sie haben Recht – und doch wieder nicht. Wir Männer können auch nicht immer wahr sein. Ich zum Beispiel darf eben nicht die Empfindung aussprechen, die meine Seele erfüllt.«
»Warum nicht?«
»Sie würden mich zur Thür hinauswerfen lassen.«
Helene sah ihn an. Weiß Gott, was in seinen Augen liegen mochte, aber sie wurde blaß, und ihre Lippen zitterten. Sibylle sah mit eifersüchtigem Schmerz, wie Delmont's Augen um ihre Schwester wie eiserne Fesseln sich schlangen und wie Helene immer schwerer unter dem Druck seiner Blicke athmete. Es war eine schwüle, lange Pause, Keines sprach ein Wort; plötzlich war es, als komme Delmont eine erschütternde Erinnerung, er wendete sich ab, er strich sich mit der Hand über die Augen und sagte dann gefaßt und gleichgültig: »Also heute Abend hole ich die schönen Schwestern ab, und wir machen dann zusammen die Runde bei unseren Bekannten und sagen jedem das Gescheidteste, was uns eben einfällt. Auf Wiedersehen, Mesdemoiselles.«
Im Delmont'schen Hause war eine besondere Aufregung, die Dienstboten rannten in höchster Geschäftigkeit herum, denn der sehr ungewöhnliche Fall war eingetreten, daß Gäste zum Nachtessen da waren.
Gewöhnlich gab es nur Diners und Kaffee-Gesellschaften, bei den Diners nur Herren, bei den Kaffees nur Damen. So stand es im Delmont'schen Hause, seitdem Frau Delmont ihre Hand in die des Herrn Simeon Michael Franz Delmont gelegt hatte. Und nun Besuch zum Abendessen! Und zwar als Gäste ein Herr und eine Dame! Die alte Köchin, die seit zweiunddreißig Jahren das Küchenregiment – das heißt als zweiter Commandeur, denn Frau Therese war der erste überall – führte, schlug die Hände über'm Kopf zusammen.
»Und sie kommt nicht einmal herunter,« sagte die alte Katharina, »schickt mir den Schlüssel zur Speisekammer – allein soll ich da hinein gehen – was ich in zweiunddreißig Jahren nicht gethan!«
Wegen dieser Verwirrung hatten auch die Dienstboten ein zweimaliges Läuten an der Hausthür überhört; jetzt endlich zum dritten Male ertönte die Schelle mit solcher Macht, daß die Gläser auf dem Theebrett des Bedienten, der damit den Gang überschreiten wollte, tanzten; er eilte schnell zu öffnen. Drei Masken standen vor der Thür, ein Mann in der Tracht eines Rheinfergen mit zwei Begleiterinen in demselben Costume.
»Alle Wetter! seit wann muß man denn hier am Hause eine Stunde auf Einlaß warten?«
Die Maske vergaß im Zorne, ihre Stimme zu verstellen, und der Bediente erkannte mit Schrecken den Sohn seines Gebieters.
Die eine der Begleiterinen, welche, wie der Leser ohnedieß weiß, Helene Velten war, zupfte Franz am Aermel.
»So verrathen Sie Sich doch nicht gleich beim Eintritte durch Ihren Zorn! wer wird so böse sein!«
Franz, der an der respectvollen Stellung des Bedienten sah, daß er erkannt war, sagte zu diesem: »Verrathe mich nicht, Gerhard, hörst Du?« und drückte ihm etwas in die Hand. »Aber wozu die Gläser? sind jetzt Gäste bei den Eltern?«
»Ja wohl, ein Herr und eine Dame.«
»Wer denn?«
»Das weiß ich nicht, sie müssen aber weit herkommen. Ich war dabei, wie die Madame sie empfing. Sie hat sich ganz unbändig gefreut und sie sogleich zum Nachtessen eingeladen. Aber ihren Namen weiß ich nicht – ich habe ihn vergessen, er ist ganz kurz …«
»Schon gut, schon gut.« – Franz ging mit den beiden Mädchen die Treppe hinauf und oben in's Wohnzimmer, wo seine Mutter zwischen einer ihm fremden Dame und einem ihm eben so fremden Herrn saß.
Er ging auf seine Mutter zu: »Eine Ferge mit seiner Frau und seiner Schwester bitten sich ein Nachtessen bei Dir aus; in solchen Tagen müssen reiche Leute offene Tafel halten. Dein luftiger Sohn hat uns versprochen, daß wir gut aufgenommen würden, und Du hast ja ohnedieß schon Gäste; sie sind freilich vornehmer als wir.«
»O, Ihr seid mir auch willkommen,« sagte Frau Delmont freundlich; denn an den feinen Stoffen der Fergenkleider sah sie wohl, daß sie ihres Gleichen vor sich hatte, obgleich Franz das allerplatteste Kölnisch redete und es sogar mit einigen nicht ganz ästhetischen Späßen würzte. Dann fragte er: »Wer ist die Fremde und ihr Mann?«
»Liebe Freunde aus Amerika. Frau Lee und ihr Gemahl; sie war früher mein Pflegetöchterchen, damals hieß sie Ellen Stanhope.«
Helene Velten fühlte, daß der Arm ihres Begleiters, auf dem noch immer ihre Hand ruhte, heftig zitterte; sein ganzer großer starker Körper erbebte wie eine Tanne im Winde. Starr hafteten seine Augen auf der Fremden, die keinen Blick für ihn hatte, sondern neugierig die schlanken Gestalten seiner Begleiterinen musterte. Sie ahnte nicht, wer er war; er sah das ein und beschloß nach der ersten Aufregung im natürlichen Grolle, sich ihr auch nicht zu erkennen zu geben. Ihren Mann, der zu seiner Verwunderung sehr gutes Deutsch sprach, redete er an und neckte ihn auf ziemlich derbe Weise mit den amerikanischen Sitten und Gebräuchen.
Herr Lee, der Franzens Dialekt nicht verstand und sich jedes Mal seine Reden von dessen Mutter übersetzen lassen mußte, schien kein großes Behagen an dem Spaße zu finden und sagte ihm kurz, daß er so wie seine Frau in England geboren sei und er sich nur seit vielen Jahren in Amerika als Kaufmann niedergelassen. Lee war ein hagerer, unschöner Mann, aber mit auffallend klugen Augen – man sah ihm an, daß er sein ganzes Leben auf dem Comptoir verbracht.
»Und diesem Pergamente hat sie mich geopfert!« dachte Franz. Aber so sehr er ihr grollte – wenn er sie ansah, schwand doch sein Zorn, und die erste und einzige Liebe seines Lebens war im Begriffe, sein erkaltetes Herz mit einer erstickenden Glut wieder zu füllen, mit einer Glut, die mehr brannte, als da er einundzwanzig Jahre alt war.
Ellen war noch immer wunderschön. Sie mußte zwar jetzt wohl siebenundzwanzig Jahre zählen, aber sie war stärker geworden, und die schöne runde Fülle ihrer Wangen verlieh ihr das kindliche Aussehen, welches immer ein so hoher Reiz ihrer Erscheinung gewesen, zum zweiten Male. Ihre Augen blickten noch eben so fromm und unschuldig, wie vor zehn Jahren, und ihr liebliches Lachen hatte auch noch den glockenhellen Klang von damals.
Franz hatte sich nun so weit gefaßt, daß er auch sie anreden konnte. Er that es immer in dem platten Dialekte, den er von Anfang an angenommen. Sie verstand ihn, sie hatte den kölnischen Dialekt auch in zehn Jahren nicht vergessen, aber sie antwortete in gutem Deutsch auf Franzens Frage, ob sie nie Heimweh nach Köln gehabt:
»Doch, ja, ich hatte Heimweh! aber auch welch' traurige Reise!« setzte sie schnell zu Frau Delmont gewendet hinzu. »Sie haben wohl erfahren, daß ein Sturm uns an die französische Küste verschlug …?«
»Nun, und …«
»Nun,« setzte Ellen lächelnd hinzu, »daß sich mein Begleiter, der junge Neppen, dort sterblich in die Tochter eines ihm befreundeten Kaufmannes verliebte, vom Vater den Antrag erhielt, als Compagnon einzutreten, diesen Antrag annahm, obgleich er mit meinem Bruder schon die festesten Verträge geschlossen, und mir eines schönen Morgens erklärte, ich könne nun allein nach Amerika reisen – sein Schiff natürlich, welches für dort befrachtet sei und einen guten Capitain habe, werde mich hinbringen und sein Geschäftsführer das Verhältniß mit meinem Bruder lösen, wobei er sich mein Fürwort erbat.«
»Es war aber doch unrecht von ihm,« sagte ernst die Hausfrau.
Ellen entgegnete aber lächelnd: »Warum? Er war ja verliebt, und da muß man Nachsicht mit den Menschen haben.«
»Sie geben den Verliebten so viele Freiheit, daß man wirklich Ihren Mann beneiden kann – er muß eine große Leidenschaft in Ihnen erweckt haben, da Sie die Sache so gut verstehen!«
»Mein Mann?« fragt Ellen, und eine dunkle Röthe überzog ihr schönes Gesicht – sie war in sichtbarer großer Verlegenheit; da wendete sie sich zu Herrn Lee und reichte ihm die Hand, die er mit so gutmüthigem Lächeln an seine Lippen drückte, als wollte er sagen: »Du weißt wohl, daß ich nie eine Leidenschaft von Dir gefordert.«
Franz aber war von diesem Handkuße und von dem offenbar sehr guten, wenn auch nicht leidenschaftlichen Vernehmen der beiden Eheleute so erbittert, daß er beinahe ganz die Herrschaft über sich selbst verlor und, um seinen Grimm zu maskiren, mit seinen beiden Begleiterinen ganz übertriebene Späße machte. Frau Delmont lachte herzlich, aber Ellen blieb ernst und blickte sogar etwas geringschätzig auf den tollen jungen Mann, wodurch sie die Sache nur noch ärger machte.
Frau Delmont hatte schon mehrere Male nach ihrem Gatten geschickt, aber immer nur zur Antwort bekommen, er werde sogleich erscheinen; jetzt meldete der Bediente, der Herr habe so wichtige Briefe erhalten, daß er sich entschuldigen lasse, weil der sie ungesäumt beantworten müsse.
»Wenn Franz nur käme!« sagte Frau Delmont.
Franz richtete scharf seine Augen auf Ellen und sagte: »Den erwarten Sie nicht, Madame, der sitzt wieder in irgend einem Wirthshause und so betrunken, wie immer.«
»Was fällt Dir ein?« rief ärgerlich die Dame.
»Gott, liebe Frau, versuchet doch nicht, das tolle Leben Eures Söhnchens zu entschuldigen das ist ja stadtkundig. Er ist der tollste und ausgelassenste Mensch in Köln, und die Mütter in der Stadt machen die unartigen Kinder mit seinem Namen bange.«
»Warum nicht gar!«
»Keine Nacht kehrt er nach Hause. Bloß seines wüsten Lebens wegen wohnt er nicht bei Euch – und auch nur in Deutz, um im Winter bei Eisgang einen Vorwand zu haben, bis zum Morgen im Wirthshause zu sitzen. An dem habt Ihr mit Eurer Erziehung keine große Ehre eingelegt.«
Frau Delmont war verlegen. Sie wußte nicht, sollte sie die Reden des frechen Gastes als Scherz nehmen – daß etwas Wahres an der Sache war, nahm ihr die sichere Haltung. Ellen hingegen war blaß geworden und hing mit offenem Ohre an Franzens Munde; auch ihr Gatte verrieth ungewöhnliche Aufmerksamkeit, obgleich er den Dialekt nicht immer verstand, woraus Franz schloß, daß Ellen ihrem Gemal ihre Jugendliebe vertraut. Er wurde in diesem Glauben nur bestärkt, als er sah, wie Lee theilnahmvoll den Arm um Ellen's Schulter legte und sie fragte, ob sie vielleicht von der Reise zu sehr ermüdet sei und sich zur Ruhe begeben wolle. Das wünschte auch Ellen, aber die Hausfrau gab es nicht zu, sie mußte mit zur Tafel, die im Nebenzimmer in reicher Beleuchtung stand und der Köchin extemporirte Kunst im höchsten Glanze sehen ließ. Die drei Fergen nahmen mit am Tische Platz, aber ohne die Masken abzunehmen – sie genossen deshalb nichts. Die beiden Mädchen waren so schweigsam, daß Franz sie fortwährend deshalb aufzog, er, der eigentlich der Einzige war, welcher sprach, obgleich es ziemlich wildes, wüstes Zeug war, was er vorbrachte. Seine Ruhe, seine Sicherheit hatten ihn verlassen, um jener krankhaften Lustigkeit Platz zu machen, die wohl Jeder in ähnlicher Lage einmal aus gekränktem Stolze angenommen. Dabei versäumte er den ganzen Abend keine Gelegenheit, den Sohn des Hauses in so schlechtem Lichte wie möglich erscheinen zu lassen, worüber Frau Delmont ebenfalls, so wie durch das ungewöhnliche Wegbleiben ihres Gatten, jede gute Laune verlor. Man trennte sich früh, und Jedes ging mit bitteren Empfindungen.
Als am folgenden Morgen Helene Velten bei dem Frühstücke erschien, war sie blaß und ihre Augen waren roth geschwollen. Sibylle sah verdrossen vor sich hin. Der Vater der beiden Mädchen, der seine Kinder zärtlich liebte, beobachtete sie schweigend, und als das Frühstück vorüber war, beschied er seine älteste Tochter auf sein Zimmer.
Helene erschien dort mit Herzklopfen: ihr ahnte, daß etwas Besonderes vorfallen werde.
»Mein liebstes Kind,« sagte Velten mit gütigem Tone, »ich bin sehr besorgt um Dich – die ganze Nacht hörte ich Dich in Deinem Schlafzimmer, welches über dem meinen liegt und wohin jeder Ton aus dem Deinen dringt, laut weinen und schluchzen. Worüber ist meine Helene so unglücklich?«
Das Mädchen warf sich weinend in die Arme ihres Vaters und verbarg ihre strömenden Augen an einer Schulter.
»Sage mir all' Dein Leid, mein Kind; Du kannst keinen bessern Vertrauten finden. Oder soll ich rathen?«
Helene nickte mit dem Kopfe, ohne ihren Vater anzublicken.
»Hast Dein Herz verschenkt, und zwar an Franz Delmont?«
Helene rührte sich nicht, nur weinte sie heftiger.
»Du liebst ihn; aber darin sehe ich kein so großes Unglück und begreife nicht, warum Dir es als solches erscheint. Delmont ist ein Ehrenmann, wenn er auch kein besonders fleißiger Kaufmann ist und ein etwas tolles Leben mit seinen Freunden führt. Was für Dich die Hauptsache ist, ich habe von unendlich viel wilden und lustigen Streichen, aber nie von einem Liebeshandel Franz Delmont's gehört.«
»O Vater, ich habe gestern Abend eine Entdeckung gemacht – er liebt!«
»Wen denn!«
»Eine verheirathete Frau, die er vor zehn Jahren als Mädchen kannte und gestern zufällig als Frau zum ersten Male sah.«
»Woher weißt Du das so sicher?«
»Anfangs erkannte er sie nicht; als aber seine Mutter – in ihrem Hause war es – ihren Namen nannte, schrack er zusammen und bebte wie Espenlaub, und dann gerieth er in eine so unnatürliche Lustigkeit, daß ich wohl sah, er hatte ganz die Herrschaft über sich selbst verloren! Und noch etwas war sehr auffallend; Franz, der, wie Sie wissen, uns maskirt abholte, um mehrere unserer Bekannten zu besuchen, und der bei seinen Eltern beginnen wollte, hatte uns im Voraus gesagt, er werde sich dort mit uns zum Nachtessen zu Gaste bitten, weil dieses gegen alle Gewohnheiten des Hauses anstoße und seiner Mutter einen komischen Schrecken bereiten werde. Wir würden das Nachtessen aber nicht annehmen.«
»Nun, und was weiter?«
»Zum Nachtessen blieb er nun doch, weil die Fremde da war, und wir mußten auch bleiben, eben so lange, und dann ließ er uns in seiner Sänfte nach Hause tragen, als hätten wir gar nichts Anderes vorgehabt. Er sagte uns kaum gute Nacht er hatte den Kopf verloren.«
»Mir schien aber doch, daß er Dich …«
»Auch ich, Vater, habe mich heute Morgen noch thörichten Hoffnungen hingegeben – ja, mir kam es vor, als sei er im Begriff, mir in Sibyllens Gegenwart eine Liebeserklärung zu machen – aber dann schien er sich plötzlich zu erinnern …«
»So schien es Dir!«
»Ja, Vater, und so war es auch. O, es ist bitter traurig, wie leichtsinnig die Männer, auch die besten, uns betrachten. Sie glauben unser Herz fortwährend mit dem Verlangen nach ihnen beschäftigt und unser Ohr einer Liebeserklärung immer offen und sind darum in ihrer Herzlosigkeit immer bereit, eine solche hinein zu flüstern.«
»Du bist bitter, Helene, und eben mit Unrecht, denn Dein Herz, mein armes Kind, ist leider Gottes wirklich diesem Delmont entgegen gegangen.«
»Nein, Vater, ich habe mich immer beherrscht. O Vater, glauben Sie nicht Unwürdiges von Ihrem ältesten, treuesten Kinde!« – Und sie sank von Neuem weinend an seine Brust.
»Ruhe, mein Kind! Ich bin ja stolz auf Dich und vertraue mir, vielleicht wird Alles noch gut der Himmel hat mir einen Faden in die Hand gelegt, der mich und Dich vielleicht glücklich aus allen diesen Irrsalen leitet. Weiter will ich nichts sagen, aber sei guten Muthes.« –
Der alte Delmont saß mit tief bekümmerter Miene in seinem kleinen Schreibcabinete, welches hinter dem Comptoir lag und keinen andern Ausgang, als in dieses, hatte. Die Schreiber blickten verwundert durch die Glasthür nach ihm hin; denn um diese Zeit pflegte er sonst immer schon sich unter ihnen zu befinden. Da trat Herr Velten in das Comptoir, und auf seine Frage nach dem Chef wies man ihn zu diesem.
Herr Delmont war offenbar nicht erfreut über diese Störung, obgleich er die gewöhnliche Höflichkeit nicht versäumte.
»Könnten Sie mich nicht in ein Zimmer führen, Herr Delmont, wo wir ganz ungesehen und ungehört uns unterhalten können?« fragte Velten mit sehr freundschaftlicher Miene.
»O ja.« – Und der Hausherr brachte ihn in ein großes finsteres Gemach – es war eigentlich der Thronsaal des Kaufherrn; denn so wie die Fürsten die fremden Gesandten da empfangen, wenn sie ihnen ihre Beglaubigungsschreiben bringen, so empfing hier Herr Delmont die fremden Handelsherren, die ihm vorher angekündigt wurden, und manche Handelsverbindung war schon seit drei Generationen hier geschlossen worden, die vielleicht eben so wichtig war, wie die diplomatischen Verbindungen der Fürsten – langwieriger und nachhaltiger waren sie gewiß.
In der Mitte des Zimmers stand ein großer eingelegter Tisch, mit hohen Ledersesseln umgeben; der eine davon, den der Hausherr immer einnahm, trug sein Wappen: einen grünen Berg im weißen Felde. Die Wände waren umstellt mit hohen Schränken von reichem Schnitzwerk, worin man hinter den kleinen Scheiben den reichen Vorrath von venetianischem Glas und chinesischem Porcellan des Delmont'schen Hauses gewahrte.
Nachdem die beiden alten Herren Platz genommen, sagte Velten:
»Verargen Sie mir es nicht, daß ich Ihrem Vertrauen voraus eile; ich habe zufällig erfahren, daß Sie gestern die Kunde eines bedeutenden Schadens erhalten.«
»Woher wissen Sie …?« fragte bestürzt und bleich Delmont.
»Durch einen Zufall – beruhigen Sie Sich, ich allein weiß darum; das Wie werde ich Ihnen später erklären. Seien Sie offenherzig mit mir …«
»Nun, wenn …«
»Hören Sie mich. Also Sie gestehen mir offen, daß Sie – in Verlegenheit sind?«
»Ja, ja, ich mache Ihnen gegenüber kein Hehl daraus. Der Schade, den ich augenblicklich decken muß, ist so bedeutend, daß mein ganzer baarer Cassenvorrath kaum hinreicht, und in den nächsten Tagen habe ich zwei Zahlungen zu machen, zwei so bedeutende Zahlungen, daß ich ganz rathlos bin, woher ich die Summen dazu schaffen soll.«
»Ja, ja, Herr Delmont, ich weiß es wohl! Viele Freunde haben Sie nicht. Man kann es hier immer noch nicht vergessen, daß Ihr Großvater aus Frankreich floh, weil man ihn dort für einen Hugenotten hielt. Und wenn Ihr Vater und Sie auch die katholische Religion offen bekennen, so sagt man doch …«
»Bitte, bitte, reden Sie jetzt nicht davon! Zur Sache, Herr Velten, zur Sache!«
»Dann Ihre zurückgezogene Lebensweise – ja, ehrlich gesagt, bei dem ganzen Kaufmannsstande verschafft Ihnen nichts Freunde, als die Solidität Ihrer Firma!«
»Ich weiß das!«
»Also diese Solidität darf nicht erschüttert scheinen. Ich mache Ihnen aber ein Anerbieten. Hören Sie mich. Sie haben einen Sohn, ich eine Tochter.«
»Sogar zwei, wie ich höre.«
»Die eine, älteste, genügt. Dieser Tochter Erbtheil wird hunderttausend Reichsthaler betragen. Wenn Ihr Sohn sich mit ihr verlobt, werde ich aber aus besondern Rücksichten ihr dieses Erbtheil augenblicklich auszahlen; und nun habe ich die Ehre, mich gehorsamst zu empfehlen.«
Herr Delmont starrte sprachlos mit offenem Munde dem Besuche nach, der mit einer kurzen Verbeugung das Zimmer verlassen hatte. Auf den Zügen des alten Kaufherrn war nichts als die gränzenloseste Verwunderung zu lesen. Endlich brach er in die Worte aus: »Wenn ich hunderttausend Reichsthaler zu vergeben hätte, würfe ich sie jetzt auch nicht der Firma Delmont an den Hals – obgleich der Mann nichts verlieren soll! Aber das Mißliche ist, daß mein Sohn mir sein Ehrenwort gegeben hat, Keine zu heirathen, auch nicht die Schönste und Beste! Aber halt – was hat mir denn heute meine Frau gesagt? Richtig, das hatte ich über Wichtigeres vergessen. Sie ist ja verheirathet, da haben wir ja freien Weg! Vortrefflich! – Gerhard, zu meinem Sohne! schnell meinen Sohn her! Wenn Er ihn mir binnen einer Stunde schafft, soll Er einen Ducaten haben.«
Nach drei Viertelstunden stand Franz vor seinem Vater.
»Warum wünschten Sie mich so eilig zu sprechen?« sagte der junge Mann.
»Warum ich Dich rufen lassen, lieber Sohn? Nur aus väterlicher Besorgniß um Dein Wohl. Deine Mutter sagt mir eben, daß Deine ehemalige Liebe, um derentwillen Du Deine alten Eltern so betrübt hast und nicht in Köln wohnen und nicht heirathen wolltest, jetzt als Frau mit ihrem Manne hier weilt. Ist dem so?«
»Ja, und deswegen haben Sie mich rufen lassen? Bester Vater, ich kenne Sie nicht mehr oder hängt vielleicht mein Liebesverhältniß mit einer kaufmännischen Speculation zusammen? Dann erklären Sie mir das schnell!«
»Du weißt, Franz, Deine Mutter und ich, wir wünschen beide, daß Du Dich verheirathest und mit Deiner Frau zu uns ziehest. Wir werden alt und bedürfen Eurer Anwesenheit – die Mutter deren Deiner Frau im Hauswesen, ich der Deinigen im Geschäfte, um welches Du Dich leider in der letzten Zeit gar nicht mehr gekümmert.«
»Sie sprechen von ›meiner Frau‹ wie von einer, die lebendig einherwandelt!«
»Hoffentlich thut sie das! Doch zur Sache. Deine Mutter hat eine Wahl für Dich getroffen.«
»Allzu gütig. Darf man fragen?«
»Ja, die älteste Tochter des Lederhändlers Velten.«
»Helene Velten?«
»Ja, ja. Hast Du etwas an ihr auszusetzen?«
»Durchaus nicht,« sagte Franz verwundert. »Sie ist das liebenswürdigste Mädchen von der Welt, dabei hübsch und gebildet.«
»Das ist Sie? Und dennoch …«
»Was dennoch, lieber Vater?«
»Und dennoch – und dennoch ist sie einem solchen Herrn, wie Du bist, gewogen – wie Deine Mutter meint.«
»Kann sein, Papa. Die Frauenzimmer haben oft sonderbaren Geschmack.«
»Willst Du uns denn den Gefallen thun?«
»Und sie heirathen?«
»Ja, mein lieber Sohn.«
»Papa, Papa!« rief Franz, in Lachen ausbrechend, »obgleich es mir gar nicht um Lustigkeit heute zu thun ist, kann ich sie doch nicht unterdrücken, wenn ich meinen gestrengen Herrn so eifrig ›in Heirathsgeschäften‹ erblicke.«
»Sag' nur, ob Du willst!«
»Warum nicht, Papa? Jetzt ist mir Alles gleichgültig, und Helene Velten ist jedenfalls die erste Beste, was nicht immer der Fall ist. Soll ich etwa gleich hingehen?« fragte er mit ironischem Eifer.
»Das thu', mein Sohn, oder warte lieber bis zum Nachmittage. Ich habe meine Gründe; Herr Velten war so eben in Geschäften bei mir, und da wäre es doch sonderbar, wenn Du sogleich zu ihm kämest. Aber heute Nachmittag bestimmt.«
»Bestimmt, Papa, und heute Abend Verlobung.«
Als Franz das Haus seiner Eltern verließ, sann er darüber nach, was wohl seinen Vater jetzt zu so großer Eile, ihn zu verheirathen, treibe. Eine rasche Heirath stimmte aber zu sehr mit seinen Wünschen überein, als daß er sich lange den Kopf darüber zerbrochen hatte. Er wünschte Ellen zu zeigen, daß auch er sie vergessen, wie sie ihn, daß auch er ein neues Bündniß einzugehen fähig sei. Wie er sich dies ausmalte, fiel ihm plötzlich das Kindische dieses Benehmens auf und wie er früher über Alle gespottet, die sich aus Rache über einen von einem Mädchen erhaltenen Korb möglichst schnell mit einer andern verheirathen und so nur sich selbst strafen. Dann fiel ihm schwer auf's Herz, daß er sich gestern Abend in Ellen's Augen so heruntergesetzt, verläumdet, ja, sich ihr in einem ganz unwürdigen Lichte dargestellt. Er hatte schon den Weg nach dem Rheine eingeschlagen, um sich nach seinem Hause überschiffen zu lassen, da erfaßte ihn die unendliche Sehnsucht, zu Ellen zu gehen und sich vor ihr zu rechtfertigen, mit solcher Gewalt, daß er nicht widerstehen konnte; er wendete seine Schritte und ging der Gasse und dem Gasthause zu, wo, wie er gestern gehört, das Lee'sche Ehepaar abgestiegen war.
Ohne sich melden zu lassen, klopfte er an die Thür, die man ihm als die Ellen's bezeichnet.
Ihre süße, so wohl bekannte Stimme rief: »Herein!« In diesem Augenblicke befiel ihn bei der lebhaften Vorstellung eines Alleinseins mit der einzigen Frau, die er je geliebt, ein solches Bangen, daß er nicht die Thür zu überschreiten wagte. Da öffnete sie selbst und blickte erstaunt den fremden Mann an. Ihr Name entglitt seinen Lippen – sie erkannte ihn, und die Hände vor das Gesicht pressend, wankte ihre zarte Gestalt, und Franz vergaß, daß sie einem Andern gehörte, und schloß die Halbohnmächtige in seine Arme.
Sie entwand sich ihm nicht, obgleich sie die Hände von dem Antlitze lös'te, das wieder in rosiger Schöne leuchtete; nein, sie legte auch noch den andern Arm um seinen Hals, sah ihm dicht in seine braunen Augen und sagte triumphirend: »Endlich, endlich! O mein Gott! Seit zehn Jahren kein anderer Gedanke, kein anderer Wunsch, als so mein armes, müdes Haupt an Deine Schulter zu lehnen – Dir in die lieben, treuen Augen zu sehen! Der Wunsch ist nun erfüllt, mir ist nun, als könnte ich sterben! Aber, Gott!« rief sie, indem sie ihn plötzlich erblaßt und sacht von sich drängte – »Du bist ja all' meiner Liebe nicht mehr werth. – Du bist ja ein wilder, gottloser Mensch geworden!« setzte sie weinend hinzu.
»Wer sagt Dir das, Ellen?«
»O, das habe ich gehört – gestern schon!«
»Weißt Du, wer Dir das gesagt hat? Ich selbst!«
»Du – das wärest Du gewesen? Unmöglich!«
»Und doch ist es so; ich konnte mir nicht die Freude versagen, Dich erblassen zu sehen bei meinen boshaften Nachrichten über mich – war mir das doch ein Beweis, daß Du mich noch liebtest, daß Du wenigstens noch Theil an mir nahmst.«
»Warum zweifeltest Du denn daran?«
»Sonderbare Frage, Ellen! Ich bleibe Dir treu, Du heirathest einen Andern, und ich soll, nachdem Du mir als Madame Lee vorgestellt worden, nicht an Deiner Treue zweifeln?!«
Ellen stand auf und trat wieder zu Franz. Sie legte ihre beiden kleinen weißen Hände auf seine starken Arme und fragte mit einem unbeschreiblich fröhlichen, schelmischen Ausdruck in ihren lieblichen Zügen: »Ist Dir mein Mann im Wege?«
Franz sah sie verwundert an – zum ersten Male begriff er sie nicht – sie, die sonst ihm so krystallklar und durchsichtig war – was sollte er von ihr denken?
»Du bist mir ein Räthsel, Ellen!«
Ellen wurde für Franz immer unverständlicher. Während der schmerzliche Gedanke, daß sie nicht sein Weib werden könne, sein Herz zerriß, strahlte sie in übermüthiger, wahrhaft kindischer Freude.
»Ellen – so thut es Dir gar nicht weh, daß Du nicht mein Weib werden kannst?«
»Willst Du mich denn noch?«
»Welche Frage!«
»O Francis, Francis! wie konntest Du von Deiner Ellen glauben, sie werde einem Andern angehören?«
»Ich habe es auch nie geglaubt, Gott ist mein Zeuge: aber träume ich denn? Du heißt Lee?«
»Nein, nein, Ellen Stanhope, wie immer; Lee ist mein Bruder – wird Dir's nun klar?«
Franz war wie von einem Schwindel erfaßt, er ergriff Ellen um die schlanke Taille und hob sie hoch zu seiner großen Gestalt auf und küßte sie auf den schönen kleinen Mund, der noch eben so frisch und roth war, wie vor zehn Jahren, wo er ihn aus der Ferne bewundert, und trug sie vor den Spiegel; dann stellte er sie auf den Tisch, kniete vor ihr hin und rief wie ein jubelndes Kind vor dem Weihnachtsbaume: »Mein, mein, ganz allein mein, ganz mein, von der Scheitel bis zur Sohle!«
Er war so außer sich, daß es Ellen förmlich beängstigte, und sie war froh, als ihr Bruder, von dem lauten Rufen in ihrem Zimmer erschreckt, die Thür öffnete. Wie erstaunte er über den Anblick, der sich ihm bot – die zierliche Gestalt Ellen's auf dem Tische und vor demselben auf dem Teppich knieend ein großer unbekannter Mann, der ihm den Rücken zukehrte.
»Lee!« rief Ellen ihren Bruder bei seinem Taufnamen, »ich habe die Ehre, Dir in diesem tollen Menschen Deinen künftigen Schwager vorzustellen!«
Franz sprang auf seine Füße und schüttelte herzlich die Hand des Bruders seiner Ellen, während diese demselben erklärte, wie es gestern Franz selbst gewesen, der ihr so ungünstige Nachrichten über den Geliebten mitgetheilt.
Dann stieg die kleine Ellen mit Hülfe der beiden Männer von ihrem improvisirten Throne herab und nahm zwischen ihnen Platz, und Beider Hände zwischen den ihrigen haltend, sagte sie in ihrer anmuthigen, kindlichen Weise: »Nun muß ich Dir erklären, warum ich Dich so getäuscht, mein Francis. Als ich zu meinem Bruder kam, sagte ich ihm gleich von Dir und meiner Liebe zu Dir, und der herrliche Mensch nahm so viel Theil an mir – o, er ist so engelgut! und er versprach mich zu Dir zu bringen, sobald er seine Angelegenheiten nur etwas in Sicherheit geordnet habe. Diese Kaufleute, Du lieber Gott! es sind eigentlich beklagenswerthe Menschen, Sorge und Arbeit von früh bis spät und keine Erholung. Anfangs hatte er mir versprochen, mich in drei Jahren zu Dir zu bringen; ›da bin ich ein gemachter Mann,‹ sagte er, ›und kann mein Gut schon fremden Händen überlassen;‹ aber aus den drei Jahren sind zehn geworden, von Jahr zu Jahr hat er mich vertröstet – er fand noch immer nicht, daß er genug habe – da hat ihn mein Wort: ›wenn Du mich jetzt nicht zurück nach Deutschland bringst, werde ich zu alt, und er mag mich gar nicht mehr!‹ endlich aufgerüttelt –und da sind wir.«
»Gott sei Dank!« jubelte Franz und bedeckte ihre Hände mit Küssen.
»Als wir ankamen – da quälte mich nur Eins: wie erforschen, ob Du mich noch liebtest? Es wäre für ein Mädchen unweiblich gewesen, Dich bei Deinen Eltern aufzusuchen – deshalb die Täuschung. Als Frau konnte ich gesichert meine Beobachtungen anstellen, und liebtest Du mich nicht mehr, so reis'te ich als Madame Lee nach Amerika zurück.«
»So seid Ihr Frauen,« brach Franz los, »um Euch und Eurer ›Weiblichkeit‹ nichts zu vergeben, setzt Ihr uns Männer lieber dem tiefsten und bittersten Schmerz aus. Du auch.«
»War denn der Schmerz so tief und bitter?« sagt Ellen lächelnd; aber Franz sprang auf und rief: »Nun zu meinen Eltern, sie müssen sich nun mit mir freuen.«
»Gehen Sie voraus,« sagte Lee, »ich komme mit meiner Schwester nach; ich muß erst hier ein Geschäft schlichten, ich habe den Unterhändler auf diese Stunde bestellt.«
»O, Ihr guten Kaufleute, wohl mir, daß ich ein schlechter bin!« –
Es ist uns nun eine bittere und schmerzliche Pflicht, Franz zu seinen Eltern zu begleiten.
Herr Delmont war außer sich, als er von Franzens Verlobung mit Ellen Stanhope hörte, nannte sie eine Abentheurerin und gebot seinem Sohne bei Strafe der Enterbung, von ihr zu lassen und sich mit Helene Velten zu verloben. Als Franz entschieden sich weigerte, da erklärte ihm sein Vater zitternd vor Zorn und Angst, weshalb eine Verbindung mit Velten nöthig sei. »Ich bin verloren,« sagte er dringend, »wenn mir nicht geholfen wird, und Velten ist mir wie ein Engel aus dem Himmel erschienen.«
»Ich kann Ihnen nicht helfen, mein Vater,« sagte Franz traurig, aber entschlossen. »Ich habe Ihnen schon einmal mein Glück geopfert. Und jetzt seit zehn Jahren – habe ich Sie nicht immer dringend gebeten, mich nach Amerika ziehen zu lassen, um mir dort die Braut zu holen? und bin ich nicht immer als gehorsamer Sohn auf Ihren Befehl geblieben?«
»Du warst immer eigensinnig.«
»Ich hielt nur mein Wort, das ich auch jetzt halten werde. Als ich mich jetzt mit Ellen verlobt, wußte ich nichts von Ihrer traurigen Lage; hätte ich es gewußt, vielleicht wäre ich gar nicht zu ihr gegangen – vielleicht doch. Jetzt ist nichts mehr zu ändern. Sie werden nicht so tief d'rin stecken, daß Sie nicht Ihre Schulden bezahlen und als ehrlicher Mann Ihr Geschäft aufgeben könnten!«
»Schöne Aussicht das für einen Mann, der vierzig Jahre wie ein Lastthier gearbeitet – mit leeren Händen in die Armuth zu gehen!«
»O, mein Vater, das sollen Sie nicht! Kommen Sie mit der Mutter zu mir, ich will Sie beide und meine Frau erhalten. Mit dem Engel an meiner Seite bin ich ein anderer Mensch.«
»Ein verwöhnter Müßiggänger wie Du? O, mir geschieht recht! Warum war ich ein so schwacher Vater?« – Und heftig Franzens dargebotene Hand von sich stoßend, schritt der alte Herr zur Thür hinaus. Franz verließ das Haus in verzweifelter Stimmung und ließ sich von zwei kecken Schiffern mitten durch die großen Eisschollen übersetzen.
Es war spät am Abend desselben Tages. Am Rheine war es still, nur die brechenden Eisstücke, die gegen einander trieben, knisterten durch die stille Nacht. Hier und da brannte noch ein Licht in den Schiffen. Der Mann im Wachthäuschen aber war in seinem dicken, warmen Pelzrocke eingeschlummert, als ihn ein heftiges Rütteln weckte. »Was giebt's?«
»Wo finde ich einen Schiffer, der mich übersetzt?«
»Sind Sie toll? jetzt in der Nacht! es ist zehn Uhr vorbei, und starker Eisgang – daß einer ein Narr wäre!«
Der junge Mann, der so kühne Vorsätze hatte, ließ sich nicht zurückschrecken. Sein rothes, munteres Gesicht lachte den grämlichen Wächter aus, der noch immer mit ihm schalt und zankte. Da mischte sich eine rauhe Stimme in das Gespräch der Beiden.
Sie gehörte einem riesigen Schiffer, der eben etwas betrunken nach seinem Schiffe am Ufer zurückkehren wollte; er war aus Mainz und hatte mit einigen lustigen Cameraden in der Stadt gezecht.
»Was will der junge Mensch? Warum seid Ihr so grob mit ihm?« sagte er zu dem Wächter.
»Ich will überfahren, zwei Thaler dem, der mich hinüberbringt.«
»Ja, warum denn nicht?« sagte der Schiffer Claus, »warum denn nicht? Da hänge ich meinen Nachen los und fahre ihn über.«
»Wenn Ihr in der Nacht nicht wieder herüber wollt,« sagte freundlich der junge Mann, »dann könnt Ihr in Deutz in einem guten Bette übernachten und erst bei hellem Tage die Rückfahrt machen und noch einen Thaler verdienen; ich komme dann auch wieder mit.«
»Könnt Ihr mir jetzt auch noch drüben etwas vorsetzen?«
»Was Ihr wollt, vom Besten und Alles gratis.«
»Da müßte ich ja nicht klug sein, wenn ich nicht einschlüge!« – Und er schlug ein, und die beiden Männer bestiegen den kleinen schwanken Kahn und ruderten muthig und gewandt und wichen den großen Eisschollen aus, so viel sie konnten. Sie hatten schon beinahe das jenseitige Ufer erreicht, als ein großes Eisstück so heftig gegen den Nachen anstieß, daß er umschlug und beide Männer in's Wasser fielen. Aber Beide waren gute Schwimmer und erhielten sich oben. Sie erreichten mit ziemlicher Anstrengung das Ufer, wo der Jüngere, der zuerst angekommen, dem Aeltern die Hand reichte und ihm hinauf half.
In einem eleganten Landhause, nahe am Rheine, waren noch mehrere Fenster erleuchtet – dorthin eilten die Männer.
Der Jüngere klopfte heftig an die Thüre; es dauerte eine Weile, bis man ihm öffnete, und als es geschah, war es der Herr selbst, Franz Delmont.
»Was willst Du noch so spät, Gerhard? Du bist ja naß, hast Du Dich jetzt noch übersetzen lassen?«
»Ja, mein Herr! Die Frau Mama gab mir hier den Brief und sagte: Sie würden glücklich sein, wenn Sie ihn hätten – morgen Früh wäre es vielleicht zu spät. Ihnen verdanke ich ja Alles – da setzte ich Alles daran, um Ihnen Freude zu machen.«
Franz riß das durchnäßte Papier, das der Bursche aus seiner Rocktasche zog, ihm aus der Hand und eilte in's nächste Zimmer, um es zu lesen. Es war »Lee Stanhope« unterzeichnet, und an seinen Vater gerichtet. Es lautete:
›Euer Hochedelgeboren waren meine Schwester und ich heute so unglücklich, nicht zu Hause zu treffen, darum muß ich Ihnen schriftlich eine dringende Mittheilung machen. Dero Herr Sohn hat sich mit meiner Schwester verlobt – ich frage nun ergebenst an, ob Sie diesem Bündnisse Ihre Einwilligung nicht versagen werden. Der Ordnung halber bemerke ich, daß die Mitgift, die ich meiner Schwester gebe, leider nur zwanzigtausend Pfund beträgt – aber ein so edler Mann wie Sie wird das wohl nicht beachten. Wann kann ich die Ehre haben, Ihnen meine ergebenste Aufwartung zu machen?‹
Darunter stand von des alten Delmont Hand:
›Aendert die Sache, daß die Amerikanerin mehr für Dich bietet, als die Velten.‹
Franz starrte eine Weile das Papier an, dann brach er plötzlich in ein unauslöschliches Gelächter aus und rief: »Ich bin ja gar nichts werth, und meinem Vater wollen sie so viel für mich geben!« Dann ging er wieder hinaus und sorgte auf's Menschenfreundlichste für die beiden Männer, die ihm die frohe Nachricht gebracht. –
Es waren vier Wochen verflossen. Im Delmont'schen Hause wurde ein großes Fest gefeiert – die Vermählung des Sohnes.
An einer großen Tafel saßen die Gäste in bunter Reihe, obenan Franz und Ellen, ein Paar Stühle weiter Helene Velten, ungewöhnlich blaß aber auch ungewöhnlich schön. Neben ihr saß der Bruder Ellen's, Lee Stanhope, dem sie mit großer Aufmerksamkeit zuhörte, wie er ihr Amerika und dessen unerschöpfte Naturreichthümer schilderte.
»Dahin möchte ich – das würde mir gut thun,« sagte sie, tief Athem holend; »ja, wenn ich das alte Europa von den Füßen schütteln könnte, dann ist mir auch, als blieben aller Schmerz, alle bitteren Täuschungen meines Herzens hier zurück.«
»Gehen Sie mit mir,« sagte Stanhope.
»Könnte ich's!« entgegnete Helene.
Beide sprachen nicht mehr mit einander, aber sie musterten sich unbemerkt mit jener prüfenden Genauigkeit, die man anwendet, wenn die Vernunft dazu auffordert und das Herz keine verwirrende Einsprache thut.
Während die Nebenpersonen diese kleine Scene spielten, saß die Hauptperson, Franz, in der Glorie eines Halbgottes da, und unzählige Bonmots, allgemein bewunderte und belachte Witze flossen von seinen beredten Lippen. Alles hing an seinem Munde, staunte, lachte, bewunderte. Nur Eine Person hatte keinen Beifall für ihn, und gerade diejenige war es, um deren Beifall er am meisten rang, seine Braut.
Sie blieb ernst und ruhig; zuletzt verdunkelte ihr schönes Gesicht sogar ein Zug von Trauer.
Franz bemerkte das und schwieg und sah besorgt seine Geliebte an. Bald darauf entfernten sich die Gäste.
Franz nahm die Hand seiner jungen Frau und fragte sie betrübt, als sie allein waren: »Warum hast Du nie gelacht, wenn ich scherzte, und warum wurdest Du zuletzt sogar ganz traurig?«
Helle Thränen stürzten aus ihren Augen. »Zürne mir nicht, Francis, aber es schmerzt mich, Dich so zu sehen. Ein Mann wie Du sollte sich nicht herablassen, die Unterhaltung der Andern zu machen, durch wohlfeile Scherze ihre träge Natur aufzustacheln, durch lärmende Lustigkeit ihre abgespannten Nerven zu beleben – dazu bist Du zu edel, zu groß. Es beeinträchtigt Deine Würde – und Würde ist ja der höchste Schmuck des Mannes. Vor zehn Jahren, als Du noch ein Jüngling warst, da wären diese kindischen Scherze leicht hingegangen, ja, ich hätte vielleicht mit Dir gelacht, aber jetzt bist Du ein Mann – o Francis, könntest Du mich verstehen!« –
Franzens Bekannte fingen nach einiger Zeit an, sich über ihn zu beklagen, sie bezeichneten sein Benehmen mit dem Ausdrucke: ›Es ist nichts mehr mit ihm anzufangen!‹ Sein Vater fand das Gegentheil, denn er war jetzt regelmäßig auf dem Comptoir zu finden. Die Stadt aber, was man so die Leute nennt, sagte: »Franz Delmont muß sehr unglücklich in seiner Ehe sein, denn man sieht ihn bei keinem Spaß mehr; der arme Mensch muß sehr unter'm Pantoffel stehen!«
Dann wunderten sich die Leute noch über etwas, über Helene Velten nämlich, die plötzlich mit Herrn Lee Stanhope nach Amerika ging – eine Stunde vorher ließ sie sich mit ihm trauen. Stanhope's Geschäfte waren, als er dort ankam, durch seine Abwesenheit etwas zurückgegangen, und es war gut, daß Franz jede disponible Summe nach Amerika sendete, um so nach und nach seinem Schwager Helenens Mitgift wieder zu erstatten, die er sich durchaus zu behalten weigerte – was er aber bei seinem Vater, dessen Geschäfte sich wieder sehr gehoben, mit dem Vorgeben, es seien seinem Schwager gemachte vortheilhafte Anleihen, bemäntelte.
Er wollte von Ellen nichts als sie selbst – und so wurde sie ihm auch zu Theil, als ein sanftes, treues, ergebenes Weib, von der er außer jener Predigt am Hochzeitsabende nie mehr eine vernahm.