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Erzählung.
Wir klagen oft das Schicksal an, weil es unsere liebsten Wünsche nicht erfüllt, und doch ist es oft noch viel grausamer, indem es sie uns erfüllt. Es giebt Tausende, die dem Fluch eines erfüllten Lebenswunsches erlegen sind. Es ist, als wollte die Gottheit dem kindischen Menschenherzen die thörichten Wünsche verbieten, als wollte sie es darauf beschränken, in Demuth hinzunehmen, was die ewige, einzig hellsehende Weisheit als ihm heilsam erkannt; und doch werden die Herzen, auch die besten und frömmsten, wünschen, begehren und verlangen so lange sie schlagen. – Als einen Beleg hiefür wollen wir eine Geschichte mittheilen, die sich in einer uns bekannten Familie zugetragen hat.
Der Vater.
Im Jagdschlosse zu Maiendorf herrschte große, ungewöhnliche Bewegung, da der Besitzer, Graf Otto von Cronberg, dort ein Fest gab, dessen Glanzpunkt für die eingeladenen Herrn in einer großartigen Treibjagd bestand. Seine Gemalin, die Gräfin Violante, war ebenfalls zugegen mit mehreren Damen, denn am Abend, nach dem Schluß der Jagd, sollte ein kleiner Ball stattfinden. Am Vergnügen des Tanzes konnte sie freilich selbst keinen Theil nehmen, da sie in wenigen Monaten der Erfüllung des höchsten Wunsches einer jungen Frau entgegen sah.
Sie war deshalb auch nicht mit den andern Damen hinausgefahren, um der Jagd zuzusehen, sondern stand einsam, die Rückkehr derselben erwartend, an einem Fenster ihres Schlafgemachs.
Es waren traurige Gedanken, welche eben ihre sonst so heitere Stirn umwölkten. Vor wenigen Tagen war ihr Gesellschaftsfräulein, ein auffallend schönes und liebenswürdiges Mädchen, plötzlich spurlos verschwunden. Alle Nachforschungen waren bis jetzt ohne den mindesten Erfolg geblieben. Da es nicht denkbar war, daß im Schlosse Cronberg, wo die gräfliche Familie wohnte, eine gewaltsame Entführung stattgefunden, denn bis spät in die Nacht waren alle Räume belebt, konnte die Gräfin nichts anderes als eine Flucht vermuthen, und dieser Gedanke kränkte sie tief. Sie hatte das junge Mädchen, obgleich es erst seit einem Jahr bei ihr gewesen, wirklich lieb gehabt. Natürlich dachte sie sich eine Liebesgeschichte als Veranlassung der Flucht, aber nicht die leiseste Vermuthung konnte sie ergrübeln, wer wohl der schönen Felicitas so gefährlich geworden. Sie dachte mit wahrhaft mütterlicher Sorge an das Loos des verlassenen, elternlosen Mädchens und ihre Flucht war ein Wermuthtropfen in den vollen Becher ihres Glücks.
Violante war seit fünf Jahren die Gemalin des Grafen Otto. Als er sie heimführte, hatten viele seine Wahl nicht begriffen, denn Violante war weder schön noch reich. Sie war von ungewöhnlicher Größe, aber schlank und ebenmäßig gebaut. So wie ihr Wuchs, erschienen auch ihre Augen, ihre Hand und ihr Fuß tadellos. Ihr größter Reiz war ihr Haar, das sie trotz ihrer Größe, wenn es aufgeflochten war, wie ein Mantel bis zu den Füßen umwallte. Der Ausdruck ihrer lichtbraunen Augen war von unbeschreiblicher Sanftmuth, und wenn auch Niemand ihr schmales bleiches Gesicht schön fand, so konnte doch eben so wenig Jemand es unschön nennen, und ihre ganze Erscheinung machte den Eindruck einer vollkommen harmonischen, ja einer edlen und ausgezeichneten Persönlichkeit.
Graf Otto hingegen war ein auffallend schöner Mann und er hatte als solcher eine Art von Berühmtheit erlangt. Dabei war er eine durchaus vornehme, ritterliche Natur, tapfer, elegant in allem was von ihm ausging, verschwiegen, zuverlässig in jeder Beziehung und von den angenehmsten Formen im Umgang. Violante konnte in der That sich eines seltenen Glückes rühmen. Während ihrer fünfjährigen Ehe war sein Benehmen gegen sie nicht einen Augenblick vom Pfade abgewichen, den es am ersten Tage gegen sie eingehalten. Und da sie den Mann wirklich liebte und sein äußeres Verhalten ihr gegenüber nur der Ausdruck seiner innern Gefühle war, genoß sie mit Dankbarkeit ihr seltenes und tief erkanntes Glück. – Durch die Geburt eines Kindes sollte diesem Glück nun die Krone aufgesetzt werden. Beide hatten bis jetzt den Himmel vergeblich um einen Erben angefleht. Da Graf Otto Majoratsherr war und sein einziger Bruder unvermählt, so wurde um der großen Güter willen, die dem Kinde, wenn es ein Sohn war, zufallen sollten, seine Ankunft vom Vater mit doppelter Sehnsucht erwartet.
Das Paar hatte bisher meistens in der Stadt gewohnt, jetzt aber, da Graf Otto ein volles Familienglück vor sich sah, war er entschlossen seine Zeit auf seinen Gütern zuzubringen und seine ganze Sorge der Verbesserung derselben, so wie dem Wohl seiner Bauern zuzuwenden, die zur Zeit der hier erzählten Ereignisse noch ganz abhängig von ihrem Gutsherrn waren. Violante freute sich herzlich über diese Aussicht, obgleich sie als eine begabte und ungewöhnlich gebildete Frau dadurch jede Aussicht verlor in der Welt zu glänzen. Aber ihr etwas eifersüchtiges Herz jubelte bei dem Gedanken, den Gegenstand seiner leidenschaftlichen Liebe nun allein und ungetheilt zu besitzen. Sie war geistig bedeutender als ihr Gemal, aber sie selbst war die einzige, welche keine Ahnung davon hatte; ihr überlegener Verstand beugte sich in weiblicher Hingebung stets vor dem seinigen und ordnete sich ihm bei jeder Gelegenheit unter.
Es ist häufig, daß Frauen in glücklicher Ehe ihre Originalität, ja sogar ihre geistige Individualität verlieren, indem sie unbewußt den früher so sicher betretenen Pfad des eigenen Urtheils verlassen, um nur noch dem Geiste des Mannes zu folgen. Bei Violante ging diese unbewußte Fügsamkeit so weit, daß sie ihren Geist herabdrückte, um den des Grafen nicht zu überflügeln, daß sie treffende Einfälle und Bemerkungen nicht aussprach, um die Aufmerksamkeit nicht von ihm ab auf sich selbst zu lenken, kurz, daß sie sich klein machte um seinem Ansehen nicht Eintrag zu thun. Davon wußte sie aber selbst nichts. Ihr Herz gab und gab fortwährend und glaubte immer nur zu empfangen. Nicht als ob Graf Otto unbedeutend gewesen wäre. Niemand hatte dies noch gefunden; er war klug genug, aber auch nicht klüger als nöthig ist, um vollkommen liebenswürdig zu sein. Er gehörte zu den Glücklichen, bei denen die Tiefe des Geistes nie zum Abgrund wird, der sie von der übrigen Welt trennt.
Vor den Fenstern, an deren einem die Gräfin stand, befand sich die Fasanerie des Schlosses. Man hatte über dem festlichen Tumult vergessen, die Thiere, wie gewöhnlich um diese Stunde, in ihren Behälter einzuschließen, und die schlanken, schillernden Vögel lustwandelten langsam im kleinen Hofraume, der ihnen angewiesen war, und aus dem ein enges Pförtchen unmittelbar in den Wald führte, dessen hohe Wipfel über die Mauern nickten. Violante dachte eben daran, zu den Vögeln hinabzugehen und ihnen selbst ihren Käfig zu öffnen, da sie wußte, daß die ganze Dienerschaft im Hauptflügel beschäftigt war, um die Tafel zum Empfang der rückkehrenden Gäste zu decken, als plötzlich die kleine Thüre im Fasanenhof von außen geöffnet wurde und sie ihres Mannes Windspiel hereinspringen sah. Da diese Thüre beinahe nie gebraucht wurde und die Gräfin wußte, daß der Verwalter immer den Schlüssel bei sich trug, so blickte sie neugierig hinab nach der offenen Thüre, wer dem Hunde wohl folgen werde. Ein paar Secunden vergingen, dann drängten sich zwei Männer mühsam durch die Thüre, noch zwei folgten. Die Gräfin sah, daß die Vier eine Last trugen, aber sie erkannte nicht, was es war, doch schien es ihr eine grauenhafte Aehnlichkeit mit einer menschlichen Gestalt zu haben.
Eine furchtbare Angst überkam sie, sie verließ das Zimmer, sie eilte über den Corridor; aber als sie schon die obere Stufe der Treppe betreten, an deren Fuß sie das Geräusch mühsam heraufsteigender Tritte vernahm, erinnerte sie sich daran, wie sehr es jetzt ihre Pflicht sei, jede Gemüthsbewegung zu vermeiden, kehrte deshalb langsam und zitternd in ihr Zimmer zurück und setzte sich mit gefalteten Händen. Sie hörte die Männer mit ihrer Last oben ankommen, die schweren Schritte kamen immer näher – sie blieben vor ihrem Zimmer stehen – jetzt wurde die Thüre geöffnet und sie traten ein, aber bei der herrschenden Dämmerung erblickte keiner die Gräfin in ihrer Ecke.
»Auf das Bett müssen wir ihn legen,« sagte nun der Verwalter, der zuletzt eingetreten war, und nachdem die Vier ihre Last dort niedergelegt, sagte er weiter: »Nun rasch Licht! der Wundarzt muß bald da sein, Jacques ist auf dem Veloce fort, ihn zu holen.« – Jacques war der Leibjäger des Grafen, Veloce das Pferd, auf dem ihr Gemal heute fortgeritten. Das alles hörte Violante, und ihr Herz schlug, als wolle es ihre Brust zersprengen, aber sie vermochte keinen Laut hervorzubringen, kein Glied zu regen. Stumm und starr wie eine Bildsäule saß sie da.
Endlich brachte man Licht; die Gräfin, die noch immer von Niemand bemerkt war, sah nun bei'm Scheine des Armleuchters, daß auf dem Bett eine leblose Männergestalt, in einen Mantel gehüllt, lag. Das Gesicht konnte sie nicht sehen, denn der Verwalter stand vor dem Bett und beugte sich über den Ohnmächtigen. Nach einer Weile sagte er traurig: »Kaum daß ich noch den Athem spüre, nur ein leises Zucken verräth, daß noch Leben da ist.« Dann trat er zurück, und Violante sah nun das todtenähnliche Gesicht des Verwundeten. Im ersten Augenblick erkannte sie es nicht, dann aber nur zu wohl – es war ihr Gemal.
Die Gräfin schrie nicht auf, nicht einmal leise jammerte sie, aber wie im Traume erhob sie sich und ging mit wankenden Schritten nach dem Bette. Als die Männer die große Frauengestalt plötzlich zwischen sich auftauchen sahen, riefen sie aufs Höchste erschrocken: ›die Gräfin!‹ Sie aber kniete vor das Bett, nahm die kalte herabhängende Hand ihres Mannes zwischen ihre beiden Hände und legte ihr Antlitz darauf; dann blieb sie eine Weile regungslos. – Niemand wagte zu sprechen, Todtenstille herrschte im Zimmer. Dann erhob sich die Gräfin und blickte mit starren Zügen die Umstehenden, einen nach dem andern an.
»Sagt mir, was geschehen ist, was zu thun möglich ist?« – Der Verwalter nahm das Wort: »Die Jagd war schon zu Ende, der Herr Graf ritten dem Schlosse zu, die übrige Gesellschaft war noch weit zurück. Da wollte es das Unglück, daß Graf Eberhard mit seinen neuen Füchsen an ihm vorüber fuhr. Er lud unsern Herrn Grafen ein, sich zu ihm zu setzen und sein Pferd dem Reitknecht zu geben. Da der Herr Graf müde war, nahm er es an. Ich war mit dem Wagen, in dem wir die Erfrischungen hingefahren hatten, in kleiner Entfernung dem Herrn gefolgt, und sah, wie er sich zu seinem Bruder setzte, und weil die Pferde sehr wild waren und dieser sie nicht bändigen konnte, ihm die Zügel abnahm und selbst fuhr. Aber die Pferde wurden immer unruhiger und gingen zuletzt trotz allen Bemühungen unsers Herrn durch. Graf Eberhard und die beiden Bedienten sprangen nun vom Wagen, der Graf aber blieb sitzen, und weit zurückgelegt suchte er mit aller Kraft die wilden Thiere zurückzureißen; es half aber Alles nichts. Noch waren sie bisher auf dem Wege geblieben, und so lange ging Alles gut; nun rannten sie aber seitwärts in den Wald und wir sahen nichts mehr. – Als wir hinzukamen, lag der zerschmetterte Wagen zwischen den Bäumen, die Pferde standen still, weil sie nicht weiter konnten. Den Grafen sahen wir Anfangs gar nicht, dann fanden wir ihn unter dem Wagen. Als wir ihn aufhoben, sah er uns an und sagte leise: ›Bringt mich nach dem Schloß, aber nicht durch's Hauptthor, damit die Gräfin mich nicht sieht.‹ Dann schloß er wieder die Augen und wurde von Neuem ohnmächtig. Wir legten ihn in den Wagen, in dem ich gesessen, und fuhren langsam bis hieher an die kleine Pforte, zu der ich den Schlüssel bei mir trug. Ich wußte nicht, daß die Frau Gräfin heute in diesem Zimmer sei.«
Graf Eberhard trat athemlos herein, hinter ihm kam der Wundarzt. Dieser machte ein bedenkliches Gesicht. Graf Otto war schon wieder bei voller Besinnung, das sah man, obgleich er noch nicht gesprochen: nur zuweilen drückte er Violantens Hand, die noch immer neben seinem Lager kniete. Endlich erhob er sein Haupt ein wenig und verlangte, daß Alle das Zimmer verlassen sollten, bis auf die Gräfin, seinen Bruder Eberhard und den Wundarzt. Als sein Wille geschehen, sagte er mit klarer Stimme: »Ich fühle, daß es mit mir zu Ende geht, ich empfinde einen Schmerz in der Seite, den ich nicht mehr lange ertragen kann. Was ist das, Doctor? ohne Umschweife!« – »Eine Lungenverletzung, die –« – »Stille, stille! ich weiß genug! Laßt mich die mir karg zugemessene Zeit benützen« – er ergriff beide Hände seiner Frau – »um Dir, meine geliebte Violante, für Deine Treue und unaussprechliche Güte zu danken, und Dich bei der Erinnerung daran zu beschwören, Dich für unser Kind zu erhalten. Der Gedanke an dieses Kind ist der einzige Trost meiner letzten Stunde, weil eine Ahnung mir sagt, daß es ein Sohn sein wird, ein Sohn, der das Haus seiner Väter erben und meinen alten Namen fortpflanzen soll. Auch Du, Violante, denke an dieses kommende Geschenk des Himmels, denke mehr daran als an den Verlust, den Du jetzt erleidest! Sprich ihm von mir und erziehe ihn nach Deinen Grundsätzen, trenne Dich nicht früher von ihm, als bis er erwachsen ist. – Dich, mein Bruder, ernenne ich zu des Kindes Vormund. Wache über seine Mutter und verwalte sein Vermögen zu seinem Besten. Ich werde Dir Neu-Cronfeld als Wohnsitz anweisen, damit Violante auf dem alten Schloß wohnen bleiben kann. Mein Sohn kann dann später in meinen Gemächern hausen. – Schickt mir die Gerichtsleute, damit ich Alles ordne, ich habe wohl noch ein paar Stunden Zeit. Lebe wohl, meine Violante!«
Die Gräfin rührte sich nicht. Sie kniete vor dem Bette, ihre eiskalte Stirne ruhte auf seiner Hand und nur ein krampfhaftes Schluchzen deutete an, daß sie nicht ohnmächtig sei. Graf Otto winkte dem Arzt und dieser hob sie sanft auf. Sie weigerte sich nicht, sie ließ sich von ihm fortführen, aber an der Thüre blieb sie stehen, wendete den Kopf noch einmal nach ihrem Manne, der ihr nachblickte, und den Ton der Stimme, mit welchem sie ›Otto‹ rief, konnte der Wundarzt in seinem Leben nicht vergessen.
Als er sie über den Corridor brachte, hörte er im Saale Instrumente stimmen. Die Musikanten, die man zum Balle bestellt, und die zuerst bei der Tafel spielen sollten, waren während der allgemeinen Verwirrung in den Saal gelangt, wo schon die Tafel gedeckt und alle Lichter angezündet waren. Sie standen, der Gäste gewärtig, hinter ihren Notenpulten und stimmten ihre Geigen, als der Arzt zu ihnen trat und sie anwies zum Verwalter hinab zu gehen, der sie befriedigte und nach Hause schickte.
Die arme Violante lag in ihrem Zimmer auf den Knieen, als der Arzt kam, sie abzuholen. Der Graf hatte ihren Namen gerufen; als sie aber hinüber kam, war sie bereits eine Witwe.
Drei Monate darauf war sie wirklich die Mutter eines Sohnes, und wunderbarerweise eines blühenden, gesunden Sohnes, obgleich ihre Gesundheit zerrüttet war und blieb. Die Aerzte versicherten ihr Leben immer nur auf ein paar Monate hinaus, und wer sie sah, war derselben Meinung. Das Kind wurde in der Taufe nach dem ausgesprochenen Wunsche seines Vaters Gaston genannt. Seine Mutter wollte jetzt schon eine Aehnlichkeit zwischen Vater und Kind entdecken, Graf Eberhard fand gerade das Gegentheil.
Graf Eberhard.
Graf Eberhard war, wie schon erwähnt, der einzige Bruder des verstorbenen Majoratsherrn. Wenn er ihn auch vielleicht an Geist überragte, so stand er ihm an Charakter und Gemüth bei weitem nach. Otto war ein durchaus ritterlicher Mann gewesen; das konnte man von seinem Bruder vielleicht auch sagen, aber in der schlimmeren Bedeutung des Wortes. Keine noble Passion war ihm fremd. Er war ein leidenschaftlicher Spieler, seine Abenteuer mit Frauen waren in Aller Mund, und die tollen Streiche, die er im Champagnerrausch verübt, ließen sich gar nicht alle erzählen. Sein Aeußeres – er war weit eher häßlich als hübsch – hatte ihm bei seinen Eroberungen nie geschadet. Frauen legen ja im Ganzen wenig Werth auf Männerschönheit; auf was sie eigentlich Werth bei der Wahl ihres Herzens legen, ist schwer zu sagen, da die Legion der sogenannten ›Gefährlichen‹ aus so ganz verschiedenen Sorten besteht. Nur Eines kann man sicher behaupten, daß nämlich die Männer die glücklichsten sind, die Frauenliebe am wenigsten verdienen, die egoistischen, die kältesten Herzen unter ihnen. Das alte Gleichniß von der Epheunatur der Frauen muß doch richtig sein; sie schmiegen sich am liebsten an Steine an und entfalten sich am reichsten in einer kalten, sonnenlosen Atmosphäre.
Violante hatte, wie die meisten besseren Frauen, einen tiefen Widerwillen vor ›Helden‹ dieser Gattung, und ihrem Schwager gegenüber war diese Abneigung vom ersten Augenblick an sehr heftig gewesen, obgleich er nach seiner gewöhnlichen Weise kein Mittel unversucht gelassen, auch dieses Frauenherz zur Bewunderung seiner Liebenswürdigkeit zu zwingen; ja er hatte es im Anfang so stark getrieben, daß seines Bruders leicht erregbare Eifersucht schon Flamme fing und nur Violantens schlecht verhehlter Widerwille ihren Gemal beruhigen konnte. Jetzt machte Eberhard keine ähnlichen Versuche mehr, er kannte die Abneigung seiner Schwägerin, aber er schrieb sie einer ganz falschen Ursache zu. Die Rente, die er als jüngerer Sohn bezogen, bildete ein sehr anständiges Einkommen, aber Eberhard befand sich beständig in Geldverlegenheiten, und zuweilen waren diese Schulden der Art, daß sie seinem reichsgräflichen Namen einen kleinen Flecken anzuhängen drohten. In diesen Verlegenheiten war ihm dann immer nichts übrig geblieben, als sich an seinen Bruder zu wenden, der ihn auch jedesmal mit unermüdlicher Nachsicht daraus befreit hatte. Diesen pecuniären Umständen, glaubte nun Eberhard, entspringe allein die Abneigung seiner Schwägerin gegen ihn. Er that ihr das bitterste Unrecht. Erstens hatte sie meist nichts davon erfahren, und zweitens kümmerte sie sich, so lange ihr Mann lebte, um nichts als um sein Glück. Er hätte seine ganze Grafschaft weggeben mögen, wäre er selbst dabei heiter und zufrieden geblieben, sie hatte sich deshalb nicht bekümmert.
Seit dem Tode ihres Gemals war freilich das Verhältniß ein anderes geworden. Als Mitvormünderin ihres Sohnes beobachtete sie oft mit etwas mißtrauischen Blicken den ungewöhnlichen Luxus ihres Schwagers; aber ihr erster Beamter, der alte Kammerrath Goldfuß, versicherte sie, Eberhard könne kraft der getroffenen Verfügungen keine Schulden auf ihres Sohnes Güter machen. Das genügte ihr, denn obgleich Otto auf seinem Sterbebett um der Vormundschaft willen seines Bruders Einkommen bedeutend vergrößert hatte, so lag ihr nichts daran, wenn er unter verschiedenen Vorwänden, wie er sie bei seiner unbeschränkten Vollmacht leicht finden mußte, sich sein Einkommen noch vergrößerte.
Die Familie wohnte so, wie Otto es bestimmt, Violante mit ihrem Sohne auf dem alten Stammschlosse, Eberhard auf dem nur eine Stunde davon entfernten Jagdschlosse Neu-Cronberg. Dort ging es glänzend her. Eine wohleingeübte Capelle, ein Marstall, eine Falknerei, eine Meute, ja sogar ein Liebhabertheater, das immer zuströmende Gäste neu recrutirten, eine zahlreiche Dienerschaft, die in der elegantesten Livree durch die decorirten Gänge des Schlosses schwärmte, brachten dort das geräuschvollste Leben hervor. Graf Eberhard's lange, hagere, aber biegsame Gestalt bewegte sich gewandt unter allen diesen zur Verherrlichung seines Lebens versammelten Elementen.
Seit dem Tode seines Bruders waren siebzehn Jahre verflossen und er zählte jetzt achtundvierzig Jahre, machte aber noch immer einen jugendlichen Eindruck. Dies lag jedoch mehr in seinem sorglosen Benehmen und in seiner sorgfältigen Toilette, als in seinen Zügen, die verwittert und alt genug aussahen. Seine hohe, tiefgefurchte Stirn, seine schmalen, klugen grauen Augen, seine spitze feine Nase paßten nicht besonders zu den aufgeworfenen Lippen mit dem runden Kinn, dem sicheren Zeichen des Materialismus.
Alle Tage um vier Uhr war große Tafel bei ihm, und an Gästen konnte es nicht fehlen, wo ein vornehmer Wirth, ein guter Koch und ein wohlbesetzter Keller zu finden waren. – Heute aber hatte Graf Eberhard noch ganz besondere Anstalten getroffen. Seine Schwägerin hatte ihm die seltene Ehre zugesagt, bei ihm zu speisen. Aber es hatte schon Vier geschlagen und sie war noch nicht da. Die Gäste waren im Gartensaal, der an den Speisesaal grenzte, versammelt und in ungeduldiger Erwartung ging der Hausherr von Fenster zu Fenster, um nach dem Wagen Violantens zu spähen. Da sie die Trauer um ihren Gemal nicht wieder abgelegt, so hatte sich Eberhard heute aus feiner Aufmerksamkeit auch ganz schwarz gekleidet; das kleine weiße Johanniterkreuz auf seinem Kleide war sein einziger Schmuck. Endlich kam Violante mit ihrem Sohne angefahren, dieselbe Violante, die, trotz dem toddrohenden Ausspruch der Aerzte vor siebzehn Jahren, noch immer lebte; freilich ein trauriges Treibhausleben, nur erhalten durch die größte Schonung. Aber dieses Leben war dennoch für ihren Sohn unschätzbar.
Als sie mit ihm die Treppe vor dem Schlosse hinaufstieg, er, der schöne, kräftige Jüngling, sie, die zarte, schwache, blasse Gestalt, da war es rührend anzusehen, mit welcher Liebe und Sorgfalt er sie stützte und führte und mit welcher sanften Ergebenheit und Selbstverleugnung sie ihre Füße zu kräftigerem Ausschreiten zwingen zu wollen schien. – Eberhard ging ihr entgegen und wollte ihren Arm aus dem ihres Sohnes lösen, um sie selbst in den Saal zu führen, aber Gaston gab das nicht zu. – »Lassen Sie mir die Mutter, Onkel, ich bin gewöhnt sie zu führen und bilde mir ein, ich könnte es am Besten.« – Violante sagte nichts, aber sie drückte leise mit ihrer Hand auf den Arm ihres Sohnes.
»Sie müssen verzeihen, daß wir nicht zu rechter Zeit hier eingetroffen sind,« sagte Violante zum Hausherrn, während sich Alles um die Tafel reihte; »aber wir hatten ein Fest im Schlosse – Marie wurde heute confirmirt.« – »Welche Marie?« – »Wie Sie fragen können! Ich habe ja keine andere Marie als meine kleine Pflegetochter.« – »Ach ja – der Findling!« – »Ja wohl, der arme Findling!« – Violante betonte besonders das Wort ›arm,‹ weil sie ihrem Schwager dadurch zu verstehen geben wollte, daß sie das, was er als eine Schmach anzusehen geneigt war, nur als ein großes Unglück betrachtete. Eberhard schien aber diese feine Zurechtweisung nicht bemerken zu wollen, denn er sagte in leichtfertigem Tone: »Solche Aufnahme, wie Sie dem Kinde in Ihrem Hause und in Ihrem Herzen gewährt, ist wohl noch selten einem Findling in einer vornehmen Familie geworden. Sie wird ja bei Ihnen gerade wie eine Tochter behandelt.« – »Und bin ich nicht reichlich dafür belohnt worden?« erwiederte Violante mit etwas krankhafter Gereiztheit. »Ist sie nicht ein gutes, sanftes Kind, das Gaston's liebste Gespielin war? Wie meine Tochter halte ich sie aber nicht: ich werde sie nie in ein anderes Haus mitnehmen.« – »Das werden Sie nicht thun, weil Sie fürchten, daß andere Menschen dem Kinde seine Herkunft würden entgelten lassen.« – »Seine Herkunft! Wer kennt sie denn?« – Eberhard lächelte boshaft. »Wenn man auch sagt, daß der beste Ruf einer Frau sei, wenn man gar nichts von ihr wisse, so möchte man doch zu weit gehen, wenn man dies bis auf ihre Geburt erstrecken wollte.«
Violantens bleiches Gesicht wurde roth, wie immer, wenn sie etwas bewegte, und sie sagte nur kurz: »Wir wollen über diesen Punkt den so oft geführten Streit nicht wiederholen. Das können Sie mir doch nicht absprechen, daß Marie jedem Salon, den sie betritt, zur Zierde gereichen wird.« – »Leider!« – »Warum leider?« – »Weil es nicht gut ist, daß unser Gaston, der ohnedem schon die Kinderschuhe ganz abgestreift hat, noch immer mit einem so hübschen Mädchen zusammen ist. Hat meine sonst so kluge Frau Schwägerin nie an diese Gefahr gedacht?«
Erschrocken blickte Violante in Eberhard's spöttische Augen. »Nein, daran habe ich wahrhaftig noch nicht gedacht, aber ich danke Ihnen für Ihre Warnung, obgleich sie jetzt wohl noch zu früh kommt. Gaston denkt an dergleichen noch nicht; er ist ja erst siebzehn Jahre alt, noch ein Kind!« – »Byron's Don Juan war mit fünfzehn Jahren kein Kind mehr.« – Violantens wachsbleiches Gesicht wurde auch jetzt mit Purpur überzogen, aber aus einer andern Ursache als vorhin. Obgleich eine Frau von vierzig Jahren, hatte sie dennoch die Reinheit der Seele sich bewahrt, die Männer wie Eberhard nur mit der Unwissenheit der Jungfrau, die sie dann Unschuld nennen, vereinbar glauben.
Die Gräfin wendete sich jetzt zu ihrem andern Nachbar, den sie sich als solchen von ihrem Schwager besonders ausgebeten, weil sie über einige Geschäftssachen mit ihm zu reden hatte, und das lieber bei dieser Gelegenheit als in ihrem Zimmer erledigte, wo er durch seine nie endende Redseligkeit sie oft ganz nervenschwach machte. Dieser Mann war ein getaufter Jude, aber die blonde Perrücke, so wie eine gewisse Bonhommie trugen dazu bei, den scharfen, charakteristischen Ausdruck seiner orientalischen Physiognomie zu mildern. Es liefen über ihn nur zweierlei Meinungen um, eine sehr gute und eine sehr schlechte. Violante theilte die erste und hielt Herrn Goldfuß für einen durchaus zuverlässigen und durchaus redlichen Mann. Das Einzige, was sie zuweilen an ihm stutzig machte, war seine grenzenlose Ergebenheit für ihren Schwager, aber sie entschuldigte das mit dem natürlichen Grunde seines dienstlichen untergeordneten Verhältnisses zu ihm, so lange er Vormund ihres Sohnes und dadurch unumschränkter Herr der Güter war.
Außer ihm waren noch der Amtmann und seine Gattin, zwei Damen aus einem benachbarten Stift, ein Paar gräfliche Lieutenants auf Urlaub, nahe Verwandte des Hausherrn, der Stallmeister und neben ihm ein Herr an der Tafel, der in seiner äußern Erscheinung etwas besonders Eigenthümliches zur Schau trug. Er vereinigte in seiner Person die beiden entferntesten Extreme: halb sah er aus wie ein Candidat der Theologie, halb wie ein Demokrat. Er trug eine Brille, aber langes wallendes Haupthaar, einen schwarzen Frack mit sehr langen Schößen nach der Mode der damaligen Zeit, aber anstatt der hohen Cravate ein leicht umgeschlungenes schwarzes Seidentuch, und anstatt des üblichen stehenden Hemdkragens einen umgeschlagenen. Seine Gestalt war auffallend groß, eckig und steif, aber sein Kopf war eigentlich schön und seine Züge recht regelmäßig, was indessen die Wenigsten bemerkten, weil seine ganze Erscheinung etwas durchaus Unharmonisches hatte. Er hieß Doctor Emanuel Kerkholz und war der Erzieher des jungen Grafen Gaston, nebenbei Dichter und Recensent für ein großes norddeutsches Journal. Seine Kritiken waren der Schrecken aller jungen Poeten, derjenigen, die man den hoffnungsvollen Nachwuchs nennt, von dem aber so wenige, trotz langen und üppigen Blühens, bis zur Fruchtreife gedeihen. Er gehörte zu den entsetzlichen Leuten, die nie ein unbedingtes Lob ertheilen, aber eben darum der Menge imponiren, weil diese Menge nie ›bedingt‹ ist, immer nur für oder gegen Partei nimmt, freilich die blinde genannt wird, aber doch mit ihrem blinden » ou tout ou rien« weniger irrt als so mancher jener lauen Besserwisser, die sich ›vom Fach‹ und ›Sachverständige‹ nennen. – Gräfin Violante hatte dem Doctor Kerkholz wegen seiner vielseitigen Kenntnisse vor den übrigen Bewerbern den Vorzug gegeben, obgleich ihr seine Persönlichkeit ganz besonders unangenehm war und sein mußte; aber es gab nichts, was sie nicht ihrem Kind zu Liebe überwand.
Als das Dessert aufgetragen war, bat die Gräfin ihren Schwager ihr zu gestatten, daß sie sich leise entferne, um die übrige Gesellschaft nicht zu stören. Er ließ es sich natürlich nicht nehmen, sie bis an ihren Wagen zu begleiten, kehrte aber dann an die Tafel zurück, wo die Uebrigen wieder Platz genommen, nachdem sie sich nur erhoben hatten, um die weggehende Gräfin zu grüßen, und die Unterhaltung, die bisher in etwas gedämpftem Ton geführt worden, wurde jetzt laut und lustig.
Marie.
Unter dem Portale ihres heimathlichen Schlosses trat der Gräfin ein schönes Mädchen entgegen, eine Blondine, aber keine schwächliche, schmachtende, zarte, sondern eine blühende, üppige, im ersten Schmelz der Jugend prangende, eine eben erschlossene Centifolie.
»Wie lange sind Sie ausgeblieben, Frau Gräfin! Ich habe kaum Ihre Rückkunft erwarten können,« sagte sie mit einer fröhlichen, lerchenhaften Stimme, indem sie die Hand Violantens küßte, die mit mütterlichem Wohlgefallen die reine Stirne des Mädchens mit den Lippen berührte. – »Willst Du eine Partie Federball mit mir spielen, Marie?« fragte Gaston. – »Diesen Wunsch mußt Du aufgeben, liebes Kind,« fiel Violante ein. »Marie geht jetzt mit mir, ich habe sie so lange entbehrt und habe einiges mit ihr zu besprechen.« Gaston sagte nichts, aber mit einem etwas trotzigen Gesicht wendete er sich ab und ging die Allee hinunter.
Violante war Gaston's üble Laune bei ihrem Ausspruch nicht entgangen und sie dachte mit Schrecken daran, daß ihr Schwager mit seiner Warnung Recht haben könnte, doch beruhigte es sie, daß wenigstens Marie heiter und gefällig wie immer war und keine Spur von Verstimmung verrieth. Bei Marie war diese Freundlichkeit keine Verstellung, denn die Gesellschaft Violantens war ihr unendlich lieber als die Gaston's, und ihre süßeste Befriedigung war es, sich der Gräfin nützlich zu machen. Ihre Dankbarkeit gegen die edle Frau kannte keine Grenzen, und freilich war auch diese Dankbarkeit eine wohlbegründete.
Vor sechszehn Jahren hatte eine arme Frau aus dem Dorfe sie als einjähriges Kind auf das Schloß gebracht und dabei Folgendes erzählt: In aller Frühe war sie ausgegangen, um, ehe ihre Kinder erwachten, im Walde Holz zu sammeln; da begegnete ihr vor den ersten Häusern des Dorfes eine verschleierte Dame, die ein Kind auf dem Arme trug. Die Dame rief sie und sagte ihr, unweit von da, im Walde, sei ihr Wagen gebrochen und der Postillon mit den Pferden zurückgeritten nach der letzten Station; sie selbst, weil sie die frische Morgenluft für das Kind fürchte, habe sich nach dem Schlosse auf den Weg gemacht, da sie die Gräfin kenne und diese sie aufnehmen werde, bis der Wagen ausgebessert sei. Ihr Mädchen habe sie beim Wagen zurücklassen müssen, da er viel werthvolles Gepäck enthalte. Jetzt aber sei ihr das Kind zu schwer, und so bitte sie die Frau, der sie zugleich ein Geldstück in die Hand drückte, ihr das Kind bis zum Schlosse zu tragen. Die Frau nahm sogleich das Kind, während seine Mutter hinterher ging. Plötzlich blieb die fromme Dame stehen und sagte: »Ich habe etwas im Wagen vergessen und muß zurück. Bringt einstweilen mein Kind auf das Schloß, und da die Gräfin noch schlafen wird, so übergebt es der Kammerfrau; ich kenne die gute Georgine schon lange, sie soll mir das Kind bewahren, bis ich komme. Darauf küßte sie das Kind und sagte zu ihm: »Adieu, Mariechen, ich komme gleich, Adieu!« Der armen Frau fiel es auf, daß die Dame das Kind immer wieder von Neuem küßte und dabei zu weinen schien. Endlich aber riß sie sich los und eilte in den Wald zurück, die Bäuerin aber trug das Kind, das Anfangs seiner Mutter nachrief, sich aber bald beruhigte, auf das Schloß und brachte es der Kammerfrau, wie ihr die Dame befohlen.
Die Kammerfrau war sehr verwundert und wußte durchaus nicht, wem das Kind gehören möge, nahm es aber in ihrer gutmüthigen Weise freundlich auf und erwartete von Minute zu Minute die Ankunft seiner Mutter. – Als das Kind in's Schloß kam, war es sechs Uhr, einige Stunden später stand die Gräfin auf, aber die Mutter des Kindes war noch nicht erschienen. Georgine erzählte Alles der Gräfin, die sogleich nach dem Kinde verlangte. Es war ein reizendes, blondlockiges Ding mit den schönsten blauen Augen, einfach, aber doch wie ein Kind der höheren Stände gekleidet. Es sprach nur einzelne abgebrochene Sylben und war wie Kinder seines Alters einem Fremden ganz unverständlich.
Violante schickte sogleich Leute auf den Waldweg in der Richtung, welche die Bäuerin angab, aber nicht die Spur eines Wagens oder überhaupt eines Menschen war zu entdecken, und wenn die Gräfin an die Rührung der Frau beim Abschied dachte, wovon die Bäuerin erzählt, so stieg in ihr der Verdacht auf, daß die Mutter des Kindes nicht heute, vielleicht nie mehr auf dem Schlosse erscheinen werde. Es wurde Abend und Niemand kam. Das Kind hatte sich wunderbar in die neue Umgebung gefunden; zuweilen rief es nach seiner Mutter, aber wenn man ihm dann ein Spielzeug reichte, vergaß es wieder sein Verlangen. Abends beim Auskleiden fand die Kammerfrau, daß die Kleine ein seidenes Täschchen an einer Schnur um den Hals trug, und in dem Täschchen einen Brief, überschrieben an Gräfin Violante. Georgine eilte sogleich damit zu dieser.
Der Brief war nicht unterzeichnet und enthielt nur die Worte:
›Um der Barmherzigkeit des ewigen Gottes willen, gnädige Gräfin, nehmen Sie sich meines Kindes an. Es ist an demselben Tage wie Graf Gaston geboren und hat in der Taufe die Namen Marie Elfriede erhalten. Die unglückliche Mutter wird vor ihrem Tode sich nennen; jetzt ist ihr nichts vergönnt, als der edelsten Dame, der milden und großmüthigen Gräfin Violante zu betheuern, daß sie keine Unwürdige ist und in glücklicheren Zeiten von ihr gekannt und beschützt wurde.‹
Die Gräfin war von diesen Zeilen sehr erschüttert, und sie erhoben die Ahnung, die sie beim Anblick des Kindes gehabt, zum festen Gedanken: Marie konnte nur die Tochter ihres Gesellschaftsfräuleins sein, jener Felicitas von Werther, welche wenige Wochen vor dem Tode ihres Gemals plötzlich aus dem Schlosse verschwunden war. Sie theilte der treuen Dienerin ihre Vermuthung mit und diese eilte sogleich zu der armen Frau, um von dieser eine möglichst genaue Beschreibung der Persönlichkeit der Mutter des Kindes zu erhalten. Was die Frau ihr darüber sagen konnte, war nicht viel, denn die Fremde war, wie schon erwähnt, verschleiert gewesen, aber dieses Wenige stimmte, was Größe, Farbe des Haars, Haltung und Gang betraf, vollkommen mit der Person des vermißten Fräuleins überein.
Marie wuchs mit Gaston auf, und außer der Gräfin und Georginen hatte Niemand die leiseste Ahnung von der Herkunft der Kleinen. Man dachte, der Ruf der Menschenliebe und Mutterliebe der Gräfin habe irgend eine fremde Abentheuererin bewogen, ein ihr lästiges Kind im Schlosse unterzubringen. Das Mädchen, das der Gräfin von Jahr zu Jahr lieber und zuletzt unentbehrlich geworden, war dieses jetzt doppelt, da Violante daran denken mußte, Gaston die Hochschule beziehen zu lassen. Der Gedanke, sich von ihrem Kinde zu trennen, war ihr so schrecklich, daß sie sich jedesmal mit Schauder davon abwendete. Ihres Schwagers Warnung wegen Marien bestimmte sie aber jetzt doch sich dieser Nothwendigkeit zu fügen; nur wollte sie auch Marien noch prüfen.
Als sie oben im Zimmer sich niedergelassen, die Gräfin in ihrem gewöhnlichen großen Sessel, Marie auf einem niedern Tabouret daneben, sagte sie freundlich, dem Mädchen die blonden Haare aus der Stirne streichend: »Ich will mit Dir reden wegen Deiner selbst, Marie; es ist jetzt die höchste Zeit Deiner Erziehung den Abschluß zu geben.« – »Was haben Sie über mich beschlossen?« fragte das Kind, indem es aufmerksam zu ihr aufsah. – »Ich denke daran, Dich auf ein Jahr in eine Pension nach Paris oder Brüssel zu schicken; Du wirst dort einsehen, was Dir noch mangelt, und es mit dem Eifer, den ich immer an Dir gekannt, nachholen.« – »Ist das durchaus nöthig?« fragte Marie mit traurigem Blick, und Violante, diese Stimmung mißdeutend, sagte: »Gaston muß auch noch in diesem Jahre die Universität beziehen.«
»O das ist gut!« rief Marie, jubelnd in die Hände schlagend. »Dann können Sie mich nicht fortschicken, dann können Sie mich nicht entbehren!« – »Bist Du dessen so sicher?« – »Ob ich es bin! Sie können doch nicht allein hier bleiben. Wenn Gaston fort ist, muß ich nicht nur Sie trösten über seine Abwesenheit, ich muß ihn auch zu ersetzen suchen, so gut es eben möglich ist.« – »Aber, liebes Kind, Du selbst –« – »Ich selbst habe dann zum erstenmal in meinem Leben Gelegenheit, mich Ihnen dankbar zu erweisen für Ihre unbegrenzten Wohlthaten.« – »Marie!« – »Warum soll ich das nicht sagen? Nehmen Sie meiner Armuth nicht diese einzige Befriedigung!« Und mit überströmenden Augen preßte das arme Kind die Hand seiner Wohlthäterin an die Lippen.
Violante legte tief gerührt die andere Hand auf den dichten Scheitel des Mädchens. – »Weine nicht, mein Kind, Du bist nicht arm, Du bist reich an Lieblichkeit und Herzensgüte, an Jugend und strahlender Gesundheit.« – »Mein einziger Reichthum ist die Erziehung, die Sie mir gegeben. Haben nicht dieselben Lehrer, die Sie aus allen Ländern kommen ließen, um Ihrem einzigen Sohn eine seiner Geburt würdige Erziehung zu geben, auch mir, dem aufgedrungenen Kind der Fremden, dem namenlosen Findling, alle ihre Sorgfalt widmen müssen?« – »Wer hat Dir das gesagt?« fragte die Gräfin erschrocken; »habe ich Dir nicht gesagt, Du seiest das mir anvertraute Kind einer Freundin?« – »Wer mir das gesagt hat? O, das weiß ich schon lange! Das habe ich, als ich noch ganz klein war und mit Gaston spazieren geführt wurde, aus den Spottreden der Dorfkinder heraus gehört. Und jetzt muß ich es gestehen, lange, lange, wenn ich einsam war, habe ich mit meinem Stolze schmerzlich zu kämpfen gehabt. Ein Findling! Es ist schrecklich, so namenlos in der Welt zu stehen! Oft habe ich Nachts auf meinen Knieen gelegen und gerufen: O nur einen Vater und eine Mutter, und wären es auch die ärmsten Leute, nur nicht dieses schimpfliche Dunkel, das die abscheulichsten Vermuthungen in sich bergen kann! Diesen schrecklichen Gedanken habe ich jetzt nach und nach mehr in den Hintergrund meiner Seele gedrängt; ich sage mir, daß ich in der Zukunft suchen muß, was mir die Vergangenheit versagt – die Liebe einer Mutter!« – »Weihe ich Dir denn diese Liebe nicht, mein armes Kind?« – »Gott,« rief Marie laut schluchzend, »Gott gebe mir Gelegenheit, sie zu verdienen!«
Die Lippen der Gräfin zuckten schmerzlich und sie dachte an die Worte ihres Schwagers. Sie sagte: »Wünsche das nicht, mein Kind, Vergeltung ist oft eine schwere Pflicht.« – »Mir kann sie das niemals werden; selbst für Sie zu sterben wäre mir das höchste Glück.« – »Glaube mir, es giebt weit Bittereres als der Tod!« – »Was ich um Ihretwillen trage, ist mir süß!« rief Marie mit dem vollen Enthusiasmus der Jugend. – »Auch wenn Du mir zu Liebe etwas – etwas anderes – etwas Dir Liebes opfern solltest?« fragte die Gräfin stockend. »Da Sie mir immer das Liebste sind, ist mir kein Opfer denkbar, das ich nicht gern brächte.« – »Wenn aber,« fuhr Violante leise fort – »wenn Du einmal Jemand mehr lieben solltest als mich?« – »Das werde ich nie!! – »Auch nicht Deinen künftigen Gatten?« – Eine dunkle Röthe überzog plötzlich die Stirn der Siebzehnjährigen, aber die Gräfin ruhig anblickend, sagte sie ernst: »Ich werde nie heirathen!« – »Warum nicht, wenn einmal später ein würdiger Mann sich um Dich bewirbt und ich seine Fürsprecherin bei Dir werde.« – »Nie, auch keinen aus Ihrer Hand. Das ist das einzige, worin ich Ihnen nie gehorchen werde.« – »Warum aber?« – »Weil,« sagte Marie offenbar mit Ueberwindung, »weil ich zu stolz bin, um vor allen Dingen die Nachsicht meines Gatten in Anspruch zu nehmen. So lange ich Niemand angehöre als Ihnen, hat auch Niemand das Recht, mir meine dunkle Geburt vorzuwerfen. Sie werden es nie thun, und ob die Fremden sich's erlauben, das ficht mich jetzt nicht mehr an, das habe ich überwunden.« – Ihre abwechselnde Röthe und Blässe bezeugte aber, daß sie diesen Schmerz noch keineswegs überwunden.
Violante fuhr fort: »Aber wenn ich todt bin?« – »Wenn der Himmel mir wirklich auferlegt, Sie zu überleben, so gehe ich weit fort – dahin, wo mich Niemand kennt.« – »Aber,« sagte Violante mit Ueberwindung, »Gaston würde Dich vermissen, er liebt Dich wie eine Schwester.« – »Er wird mich bald vergessen; er wird sich vermählen.« – »Wenn er, wie ich hoffe, eine liebenswürdige Frau wählt, so wird sie Dir nach meinem Tode mich zu ersetzen suchen.« – »Niemals! Seine Gemalin kann nicht so gut und mild sein wie Sie, solch ein Herz schlägt nur einmal auf der Welt. Sie wird sich nie herablassen, das namenlose Mädchen, den Findling wie ihres Gleichen zu behandeln, und das ist ja auch unmöglich. Nein, das Unmögliche kann ich nicht verlangen, aber das, was natürlich kommen würde, auch nicht ertragen. Sie haben mich verwöhnt.«
Die Gräfin war nun zu ihrer großen Beruhigung überzeugt, daß Marie ihren Sohn nur wie einen Bruder liebe. Was sie längst gewollt, ohne es recht zu wissen, wurde in diesem Augenblick in ihr zum bewußten Entschluß: sie wollte in ihrem Testament für Marie auf eine Weise sorgen, daß ihr die volle Selbstständigkeit bewahrt blieb.
Gaston.
Gaston, der müde war, sich unten im Garten herumzutreiben, trat ein. Er öffnete den Flügel und legte die Noten eines Volkslieds auf, das er besonders gern von Marien singen hörte. Marie sang wie immer, Gaston begleitete sie und hörte ihr wie immer zu, aber Violante bemerkte zum erstenmal die Aufregung, worin ihn jedesmal der Gesang des schönen Mädchens versetzte. »Eberhard hat Recht,« sagte sie zu sich, »die Kinder müssen getrennt werden.«
»Du weißt, mein lieber Sohn,« begann Violante, als Gaston neben ihr Platz genommen, »daß Dein Vormund mit mir darin übereinstimmt, daß Du bald eine Universität beziehen mußt, wohin natürlich Doctor Kerkholz Dich begleiten wird.« – Mit sichtbarem Erschrecken fragte Gaston: »Aber doch jetzt noch nicht? diesen Herbst noch nicht?« – »Warum nicht?« sagte Violante mit einem so großen Aufwand von Heroismus, um ruhig zu scheinen, daß es beinahe ihre Kräfte überstieg und ihr die Stimme versagte. – »Daran denkst Du im Ernste nicht!« rief ihr Sohn aufspringend.
Violante wäre noch gestern bei diesen Beweisen von ihres Sohnes Abneigung, das Schloß zu verlassen, in die dankbarste Rührung versetzt worden und hätte sie einzig und allein der treuen Liebe zu ihr zugeschrieben, aber heute lagen ihr Eberhard's Worte zu sehr im Sinn und sie war jetzt fest überzeugt, daß die Neigung zu Marien die Hauptquelle seiner Anhänglichkeit an die Heimath war. Dieser Gedanke zog ihr das Herz zusammen und sie antwortete in strengerem Tone, als sie ihn sonst dem verwöhnten Kinde gegenüber anzunehmen pflegte: »Es ist mein fester Entschluß, daß Du in einigen Wochen gehst und Du würdest mir einen großen Gefallen thun, wenn Du schon morgen Früh Deinen Oheim von meinem Wunsche in Kenntniß setzen und mit ihm das Nähere besprechen wolltest, namentlich was die Wahl der Hochschule betrifft, die Du zuerst beziehen sollst.« – »Aber warum denn plötzlich solche Eile? Ich habe ja noch Zeit genug! Die wenigsten jungen Leute beziehen schon in meinem Alter die Universität.« – »Desto mehr Ehre für Dich,« sagte Violante gezwungen lächelnd, »und Herr Kerkholz hat mich schon vor einem Jahr versichert, daß Du für die Hochschule reif seiest.«
Gaston antwortete nicht, denn er wußte der ungewöhnlichen Festigkeit seiner Mutter nichts entgegen zu setzen, als einen kleinen Trotz. Als ob sie diesen Trotz gar nicht bemerkte, sprach Violante nun in heiterem Ton zu Marien, die eben so antwortete. Gaston nahm erst nach längerer Zeit wieder Antheil am Gespräch, aber immer nur widerstrebend und von den beiden Frauen dazu aufgefordert. – Auch als Gaston seiner Mutter wie gewöhnlich zur Nacht die Hand küßte, that er es zum erstenmal in seinem Leben mit grollendem Herzen. Violante bemerkte wohl den Unterschied zwischen diesem und seinem gewöhnlichen Abschied, aber auch dies überwand sie, und als sei Alles im gewöhnlichen Geleise, sagte sie wie immer: »Gott mit Dir, mein Kind!«
Am folgenden Morgen erschien er bei'm Frühstück ernst und niedergeschlagen. Violante hatte aus Kummer die ganze Nacht kein Auge geschlossen, aber sie wußte dies vor den beiden Kindern zu verbergen. Als Gaston das Zimmer verlassen wollte, rief sie ihn zurück und sagte: »Sage doch Deinem Oheim, daß ich ihn um einen Besuch bitte.«
Gaston beugte das Haupt zum Zeichen des Gehorsams und verließ das Zimmer. Unten ließ er sich ein Pferd satteln und trabte mit seinem Reitknecht nach Neu-Cronberg. Wenn er zu Pferd saß, war er immer der Vormundschaft seines Hofmeisters ledig, denn so oft sich Herr Kerkholz auch schon im Sattel versucht, so hatte das immer ein für ihn so demüthigendes Ende genommen, daß er es endlich aufgegeben, wodurch der junge Graf in seiner Leidenschaft für das Reiten nur bestärkt worden war; es schmeichelte seiner jugendlichen Eitelkeit nicht wenig, mindestens in diesem Punkte seinem Lehrer überlegen zu sein. Graf Eberhard konnte es sich selbst vor Gaston nicht versagen, über den steifen Hofmeister zu spotten, so sehr auch Violante ihn davon abzuhalten suchte. Gaston natürlich fand großes Vergnügen an diesen Späßen seines Oheims, wie er denn überhaupt sehr gern in dessen Gesellschaft war.
Violante hatte niemals ihrem Sohne ihre Abneigung gegen Eberhard verrathen. Sie war überhaupt zu feinfühlend und zu wohlerzogen, um einem so jungen Gemüthe irgend ein unangenehmes Gefühl einimpfen zu wollen, und hier würde es ihr als ein ganz besonderes Unrecht erschienen sein, da Eberhard der Bruder seines Vaters und im Falle ihres Todes, den sie immer vor Augen sah, des Jünglings einziger Rathgeber war und als sein Vormund über ihn zu beschließen hatte. Daß übrigens Violantens kaltes Benehmen gegen ihren Schwager einem so aufgeweckten Kopf wie Gaston nicht aufgefallen sein sollte, ist nicht anzunehmen; aber glücklicherweise schrieb er es wohl einzig und allein dem Umstande zu, daß Eberhard die unschuldige Ursache des Todes seines Vaters gewesen und Violante diesen Eindruck nicht vergessen und verwinden könne.
Eberhard selbst bemühte sich natürlich, das Herz seines Neffen zu gewinnen. Konnte nicht die kränkliche Violante täglich aus dem Leben scheiden, und hing es dann nicht von Gaston ab, dem von ihm geliebten Vormunde auch nach seiner Mündigkeitserklärung noch einen Theil der Macht und der Verwaltung der Güter und des Vermögens zu lassen? Eberhard hatte wahrhaftig nicht Lust, Alles aus den Händen zu geben und mit einer kleinen Leibrente in irgend einer benachbarten Stadt eine unbedeutende Rolle zu spielen. Schon am Schluß des zweitfolgenden Jahres, beim Eintritt in sein zwanzigstes Jahr, wurde Gaston nach den Hausgesetzen mündig, also in einem Alter, wo Alles hoffen ließ, daß der junge Mann dem Vergnügen mehr Zeit widmen werde als der Verwaltung seiner weitläufigen Güter.
Eberhard entging es nicht, daß Gaston heute mit verdrießlichem Gesicht bei ihm eintrat. Er ahnte die Ursache. »Nun, Gaston, was bringst Du mir Neues?« sagte er, mit gewinnender Freundlichkeit ihm die Hand entgegenstreckend. – »Meine Mutter will, ich soll fort von hier, eine Universität beziehen und deshalb Ihren Rath einholen, wohin ich zuerst gehen soll.« – Der kluge Eberhard errieth Alles, aber er fragte scheinbar verwundert: »Aber, mein lieber Junge, warum verkündigst Du mir das nicht mit einem Jubelgeschrei? Ich bin bei diesem Wendepunkt meines Lebens allen Bewohnern des Schlosses vor Freude um den Hals gefallen.« – »Ich freue mich nicht, mir thut es im Gegentheile leid, das Schloß zu verlassen,« sagte Gaston kurz. – »Natürlich um Deiner Mutter willen. Sie ist so kränklich, Deiner Pflege so sehr bedürftig, wenn Du gehst, ganz und gar verlassen.« – »O das nicht. Marie wird sie nichts vermissen lassen.« – »Ja, ja, Marie mag wohl ein gutes Mädchen sein.« – »Sie ist viel mehr als das! Sie ist ganz vortrefflich, die Güte, die Sanftmuth, die Bescheidenheit –« »Und die Schönheit selbst!« fiel der ältere Graf lächelnd ein.
Gaston wurde dunkelroth, aber er beherrschte sich doch noch ziemlich und setzte gemessen hinzu: »Ja sie ist schön und so wohl erzogen wie die ersten jungen Damen des Landes; meine Mutter hat sie ganz wie eine Tochter gehalten und aufwachsen lassen.« – »Ich weiß, ich weiß! Hast Du wirklich gar keine Ahnung von ihrer Herkunft?« – »Nein, aber es kommt mir zuweilen vor, als wisse meine Mutter und selbst die alte Georgine etwas darüber, obgleich, wenn man sie fragt, beide hartnäckig leugnen.« – »Was sagte denn Georgine?« – »Sie läßt hie und da Winke fallen, und einmal, als wir über den seltsamen Zufall sprachen, daß Marie mit mir an einem und demselben Tage geboren sei, sagte sie: ›Marie ist auch von vornehmer Geburt und Alles wird sich noch aufklären.‹« – »Wenn das geschieht, kannst Du ja Marien heirathen.« – »Ich bitte Sie, bester Oheim, wer denkt daran!« – »Nun, ich sage nur so.« – »Wenn es einmal so weit kommen sollte, so seien Sie fest überzeugt, daß Marie dann nicht nöthig hat, mir erst ihre vornehme Geburt zu beweisen.« Und mit großem Pathos setzte er hinzu: »Ihr Charakter, ihre Erziehung und ihre Schönheit stellen sie jeder Fürstin gleich.«
Eberhard lachte. »Das sind Dinge, die man mit siebzehn Jahren denkt und ausspricht, mit siebenundzwanzig noch ausspricht, aber schon nicht mehr denkt, und mit siebenunddreißig weder denkt noch ausspricht.«
»Aber wie kann ein so kluger Mann wie Sie den Zufall der Geburt so hoch anschlagen!« – »Gerade weil ich ein kluger Mann bin, mein Kind, und weiß, welchen Werth die Welt auf solche ›Zufälle‹ legt.« – »Aber Sie selbst für Ihre eigene Person verachten doch diese aristokratischen Thorheiten?«
Eberhard antwortete nicht gleich, weil er durch eine ehrliche Antwort seinen Neffen, an dessen Anhänglichkeit ihm viel lag, nicht verletzen wollte, und als Gaston gespannt zu ihm aufblickte, half er sich, indem er anstatt einer Antwort eine Frage aussprach; er sagte freundlich: »Gieb mir erst Dein Glaubensbekenntniß in dieser Sache, das meinige soll folgen.« – »Werden Sie mich auch nicht auslachen? und vor allem nicht verrathen, selbst meiner Mutter nicht?« – Eberhard reichte ihm die Hand. »Du kannst auf mich zählen, mein Junge – und auslachen? dazu habe ich Dich viel zu lieb.« – »Nun wohl, Sie sind der erste, dem ich mein volles Herz öffne – Sie sollen den Fluch, das Unglück meines jungen Lebens kennen lernen!« – »Das Unglück Deines Lebens? Du erschreckst mich!«
Gaston ging ein paar Augenblicke in heftiger Erregung mit verschränkten Armen im Zimmer auf und ab, dann blieb er vor Eberhard stehen und begann in leidenschaftlichem Tone: »Seitdem ich denken und fühlen kann, ist mir das Leben bequem gemacht worden, jede Anstrengung entfernt, ja jedes peinliche Gefühl aus dem Wege geräumt. Nichts, gar nichts als Zuvorkommen, Lob und Entzücken habe ich von meiner Umgebung geerntet. Ich mochte noch so ungezogen, so störrisch und eigensinnig, noch so ungefällig, faul und egoistisch sein, immer derselbe Ausruf: der junge Graf ist charmant, liebenswürdig, unvergleichlich! Ist das nicht zum Verzweifeln?«
Eberhard lachte laut auf. – »Sehen Sie, daß Sie mich auslachen?« – »Es klingt zu komisch, mein Junge!« – »Und doch ist es so begreiflich! Dieses ewige Loben und Hätscheln und Bewundern muß ja für Einen, der eine männliche Seele in sich fühlt, zuletzt die größte Demüthigung sein!« – »Ich gebe freilich zu, daß Deine Mutter Dich zu sehr verwöhnt.« – »Meine Mutter hat keine Schuld. Gott sei davor, daß ich sie anklage, denn ich könnte ihr doch nichts anderes vorwerfen als zu große Liebe. Nein, ich klage das Schicksal an, daß es mich in einem gräflichen Schloß, als den Erben von Reichthum, Titeln und Würden geboren werden ließ.« – »Ist das Dein Ernst?« – »Gewiß! Wäre ich ein einfacher, bürgerlicher Mensch, so hätte ich Freude auf der Welt; ich hätte die Genugthuung, durch meinen Fleiß, meine Kenntnisse einst das Alter meiner Mutter verschönern zu können, und die Welt würde mich darob achten. Jetzt kann ich faul, dumm und schlecht sein, das ist alles einerlei, man wird doch immer finden, daß ich der charmante, liebenswürdige Graf Gaston bin.«
»Oho, oho!« sagte Eberhard, »das macht doch einen Unterschied!« – »Vielleicht nur in der Art,« sagte Gaston bitter, »wie die Leute in meiner Abwesenheit von mir reden würden; ich selbst würde die Wirkung meines schlechten Lebens nie bemerken, so lange meine Güter nicht gepfändet sind, meine Grafenkrone nicht zerbrochen ist.« – »Wäre Dein Vater noch am Leben, so hättest Du doch wohl mehr Strenge und ein unnachsichtigeres Urtheil kennen lernen, aber die große Güte Deiner Mutter –« – »Und die große Güte meiner Mutter kommt nur davon, daß sie eben weiter nichts zu thun hat als gut zu sein. Wäre sie eine Bürgerfrau, so müßte sie strenger und deshalb auch gerechter gegen mich sein, so aber läßt sie mich gehen, denn – mein Schicksal ist gemacht!« – »Wenn Du diese Ansichten wirklich schon lange hegst, dann wundert es mich, daß Du noch so viel gelernt hast und noch so ein anständiger Mensch geworden bist.«
Gaston lachte bitter auf. »Mich wundert es auch, aber was wollen Sie? Die Ameisen arbeiten auch von Natur; Reflexion ist es bei mir wahrhaftig nicht, aber ich kann nicht anders. Wie es eitle Frauen geben soll, die bei'm Anblick jedes schönen Kleides, das einer Andern gehört, vor Neid gelb werden, so geht es mir mit dem Wissen. Ich könnte wie Eugen Aram Eugene Aram (1704-1759), ein englischer Philologe, der des Mordes überführt und hingerichtet wurde (durch Aufhängen am Galgen). – In der Gefängniszelle gestand er seine 14 Jahre zurückliegende Tat und gab als Motiv an, dass der Ermordete, ein Freund, und seine eigene Ehefrau eine unzüchtige Beziehung gehabt hätten. – Edward Bulwer-Lytton veröffentlichte 1832 den Roman » Eugene Aram«. einen Mord begehen, um meine Kenntnisse zu bereichern, warum, weiß ich selber nicht.« – »Mir sind in meinem großen Bekanntenkreise schon viel kuriose Ursachen von Lebensunglück vorgekommen, aber diese da noch nicht. Sollte nicht vielleicht Fräulein Marie durch ihre Schönheit diesen demokratischen Tic ausgebildet haben?« – »Warum soll ich es läugnen? – ja, die Liebe zu ihr macht mir meinen Stand besonders verhaßt.« – »Weiß Marie etwas von Deiner Liebe?« – »Nein, gesagt habe ich ihr nichts und bemerkt scheint sie auch nichts zu haben; das zeigt mir ihre Unbefangenheit mir gegenüber. Ach, diese Unbefangenheit macht mich eigentlich recht unglücklich!« – »Das liegt doch wohl nur in den Verhältnissen, mein Kind, weil Du der Sohn ihrer Wohlthäterin bist, und zweitens darin, daß Ihr in gleichem Alter seid. Für ein Mädchen sind siebzehn Jahre schon völliges Erwachsensein, für einen Mann ist es noch halbe Kindheit.«
Gaston trat vor den Spiegel und strich statt aller Antwort den keimenden Flaum, der auf seiner rothen Lippe sich schon in sichtbar dunkler Färbung zeigte. – »Ja, ja,« sagte Eberhard lachend, »eigentlich müßtest Du schon Deinem Kammerdiener ein Paar Rasirmesser kaufen!« – »Rasiren? Ich lasse meinen Bart wachsen.« – »Thue das nach Deinen Belieben,« versetzte Eberhard ernsthaft, »aber um auf Marien zurück zu kommen: Du darfst ihr jetzt keine Erklärung machen. Versprich mir das; ich verspreche Dir dagegen, daß ich Schildwache stehen und Jeden, der sich Deiner Auserwählten nähert, Dir sogleich denunciren will.« – »Wenn Sie das thun wollen, Oheim, so will ich nichts sagen; ich glaube ohnedem kaum, daß ich es herausbrächte.« – Eberhard sprach nun von Gaston's Studien, der Wahl einer Hochschule und seiner Reise, und als ihn der Neffe verließ, ritt dieser mit unendlich leichterem Herzen zu seiner Mutter zurück, als er gekommen war.
Violante war bei'm Anblicke seines heitern Angesichts freudig überrascht und zum erstenmal in ihrem Leben dachte sie mit dankbarem Herzen Eberhard's, den sie sonst in ihrem Innern ihren bösen Genius zu nennen pflegte; hatte er doch ihres Lieblings Stirne entwölkt.
»Was meint Eberhard zu Deiner Abreise?« fragte sie den Sohn, der ihr freundlich die Hand küßte. – »Er ist ganz Deiner Meinung; er war sehr freundlich gegen mich; ich dachte gar nicht, daß er mich wirklich so lieb hat.« – »Wodurch bewies er Dir denn seine Liebe?« fragte Violante ängstlich und mißtrauisch. – Verlegen und ärgerlich, daß er sich selbst verrathen, stotterte der Jüngling: »Er bewies mir das – im Allgemeinen – durch seine Theilnahme, seine Sorge für mein Wohlergehen.« – »Ja, ja,« sagte Violante kurz, »ich kenne das, Eberhard kann sehr aufmerksam sein.«
Durch Mariens Eintritt wurde hier das Gespräch unterbrochen. In Eberhard's Seele aber hatte Gaston's Vertrauen den Keim zu einem gefährlichen Plane gelegt. Gaston's demokratische Neigungen nahmen in seinen Augen alles Strafbare von einem Schritt, vor dem selbst sein nicht allzu ängstliches Gewissen sonst zurückgebebt sein würde.
Die einsame Mutter.
Er war fort, er, um den sich eigentlich Alles im Schlosse Cronberg gedreht hatte; Gaston, der Erbe und Majoratsherr, der Stolz der Mutter, der Gesellschafter Mariens, war seit mehreren Tagen abgereist. Violante lag zu Bett. Sie war wie die Pflanze, welche, vom Strahl der Sonne verlassen, zusammenbricht. Es war jetzt Niemand da, von dem sie glaubte, daß der Anblick ihrer Leiden ihn schmerzen werde, also verbarg sie diese Leiden auch nicht mehr. Was Marie bei ihrem Anblick empfand, ahnte die Gräfin nicht, weil sie überhaupt nicht ahnte, in welchem Grade Mariens Herz an ihr hing. Sie würde denjenigen geradezu als einen Lügner betrachtet haben, der ihr gesagt hätte, Marie liebe sie mehr als Gaston und doch war dem so. Weil sie nur für Gaston athmete und lebte, wie sie früher für ihren Gemal gelebt hatte, und weil deshalb nur seine Liebe Werth für sie hatte, bemerkte sie gar nicht den Grad von Hinneigung, den andere Menschen für sie empfanden; und weil sie für Marien nur dasselbe Wohlwollen hegte, wie für alle Welt – das Gegentheil davon empfand sie nur für eine einzige Person, für Eberhard – so ahnte sie nicht, daß sie diesem Kinde war, was Gaston ihr, ihr Eins und Alles.
Mariens ganzes Glück ruhte in der Gräfin. Ihre eigenthümlich isolirte Stellung im Leben gab ihr jedem andern Menschen gegenüber etwas Scheues und Aengstliches und auf der andern Seite wieder etwas Stolzes und Herausforderndes im Gefühle einer vielleicht nahenden unverdienten Kränkung; nur bei Violanten nicht: sie war ihr Schutz, ihre Vorsicht, ihr Idol. Hatte nicht sie sich ihrer angenommen, als die eigene Mutter sie verstieß, und sie behandelt und erzogen wie ihre Tochter? Und schaltete sie nicht in diesem Schlosse unter dem Schirme der kranken Frau wie die Herrin selbst? Ehrten nicht die alten treuen Dienstboten sie auf deren Geheiß wie das Kind des Hauses? – Violante hätte das gute Mädchen jetzt geradezu mißhandeln können, ohne daß der mindeste Groll in ihrem Herzen aufgestiegen wäre; wie aus Gottes Hand würde sie jede, auch die unverdienteste Züchtigung von ihr hingenommen haben. In Gaston's Herz war, wie wir gehört, wenig Dankbarkeit für seine Mutter, weil überhaupt der härteren männlichen Natur die zarte, aufopfernde, liebevolle Erziehung einer Mutter nicht ersprießlich ist, während die sensitive, weiche, weibliche Natur mit seltenen Ausnahmen kaum rücksichtsvoll genug behandelt werden kann. Ein geistreicher Mann sagt: ›Frauen sind wie die Obstbäume, die in der Jugend zart behandelt und gepflegt, vor dem Wetter geschützt und von der Sonne beschienen sein wollen, wenn sie groß, kräftig und fruchtbringend werden sollen; Männer dagegen wie die Eichen des Waldes, die nur im Sturm erstarken.‹
Es war eines Abends spät. Marie kniete vor dem Bett der Gräfin, um ihr eine Erfrischung zu reichen. Als Violante getrunken, sagte sie lächelnd: »Es ist recht selbstsüchtig von mir, daß ich, in den Jammer und die Trennung von meinem Kinde versunken, ganz vergessen, Dir zu sagen, daß sich ein Freier für Dich gefunden hat.« – Marie wurde roth bis an die Haarwurzeln. – »Sei ruhig,« fuhr Violante fort, »sei ganz ruhig, einen halben Korb habe ich ihm schon gegeben; Dir liegt es also nur noch ob ihm die andere Hälfte zukommen zu lassen. Doch nicht, weil Du mir gesagt, daß Du unvermählt bleiben willst, habe ich ihn abgewiesen; nein, ich habe ihn abgewiesen, weil er meine Rosenknospe nicht verdient.«
Marie stellte den Teller weg, kniete aber wieder nieder und nahm die Hand ihrer Wohlthäterin, um ihre heißen Lippen darauf zu legen; aber sie fragte nicht. – Da sagte Violante nach einer Pause: »Es ist Herr Kerkholz. Am Abend vor Gaston's Abreise ließ er sich feierlich bei mir melden und brachte dann nach vielen vorangegangenen tiefen Bemerkungen die Werbung um Dich an. Ich fragte ihn, ob er sich Dir offenbart; er verneinte es, weil Du noch zu jung seiest und er überhaupt erst bei seiner Rückkehr an ein Amt und eine Verheirathung denken könne.« – »Das wird er sich wohl beides aus dem Sinne schlagen müssen,« sagte Marie kalt; »ich bilde mir ein, so wenig ein Consistorium einem gottlosen Philosophen eine Pfarre giebt, so wenig nimmt ihn ein Mädchen zum Mann.«
Die Gräfin lächelte: »Wer weiß, ob nicht doch vielleicht eine aus ›Lebensphilosophie,‹ weil ihr keine bessere Partie sich bietet, mit Kerkholz's Philosophie sich befreundet?« – »Ich glaube es kaum. Erinnern Sie sich noch des Abends, wo ich ihn bat, mir irgend ein philosophisches System zu erklären? Was war das für gräßliches, unchristliches, ja gottesläugnerisches Zeug, was er da vorbrachte! Ob ich gleich nicht die Hälfte verstand, schauderte ich doch bei'm Gedanken, daß so etwas gelehrt und fortgepflanzt wird.« – Die Gräfin strich lächelnd mit der Hand über Mariens blonden Scheitel und sagte: »Sorge nicht darum und danke Gott, daß Deinem Glauben des Zweifels Gift nie etwas anhaben wird; ebenso bin ich auch für Gaston unbesorgt.« – »Es ist aber doch ein gefährlich Wagniß, den jungen Grafen immer in der Gesellschaft eines Atheisten zu lassen, denn dazu fehlt doch dem Candidaten wenig.« – »Ich glaube das nicht. Erstens ist Gaston aufrichtig religiös, und dann hat er, so sehr er die Kenntnisse seines Hofmeisters achtet, einen solchen Widerwillen gegen dessen ganze Lebensanschauung, daß kein Gift, von ihm geboten, Eingang bei Gaston findet. Aber sage mir, Marie, warum nennst Du Gaston jetzt immer den ›jungen Grafen‹? früher thatest Du das nicht.«
Wieder überzog ein dunkles Roth die Züge des Mädchens, und sie sagte im Tone gezwungenen Scherzes: »Ich übe mich einstweilen, denn wenn er zurückkehrt, muß ich ihn doch so nennen; erlauben Sie mir jetzt damit anzufangen.« – In Violanten stieg der Verdacht auf, Gaston möchte beim Abschied Marien seine Neigung verrathen haben, und sie suche deshalb sich ihm jetzt ferner zu stellen als sonst. Und dem war auch wirklich so; Gaston hatte zwar seiner früheren Gespielin nicht geradezu eine Liebeserklärung gemacht, aber trotz seines Oheims Warnung sich bei'm Abschied so auffallend benommen, daß Marie nicht im Zweifel bleiben konnte. Anstatt ihr seine Mutter anzuempfehlen, wie sie erwartet, hatte er sie flehentlich gebeten, ihm zuweilen zu schreiben und ihn nicht zu vergessen. Marie hatte ihn um so eher durchschaut, als ihre Stellung im Leben sie besonnener und frühreifer machte, als es sonst Mädchen in ihrem Alter zu sein pflegen. Sie beschloß auch das Geheimniß, das sie entdeckt, der Gräfin, von der sie hoffte, daß sie nichts bemerkt habe, auf's Sorgfältigste zu verbergen. Ihr eigenes Herz prüfte sie streng, aber zu ihrer Freude fand sie, daß keine Saite für Gaston anders als in schwesterlicher Liebe schlug, und beruhigt und dankbar, daß der Himmel ihr dadurch ihre Aufgabe erleichtert, sah sie, was diesen Punkt betraf, ruhig der Zukunft entgegen. Des Candidaten Liebe suchte sie sich ganz aus dem Sinne zu schlagen; es ärgerte sie, daran zu denken; wie alle stolze Frauen bei ähnlicher Gelegenheit fühlte sie sich förmlich beleidigt, daß dieser, ihr so widerwärtige Mann sie zu lieben und zu begehren wage.
Die Gräfin wurde von Woche zu Woche schwächer und leidender. Gaston's häufige Briefe vermochten sie nicht zu stärken, so sehr auch die jedesmalige Kunde von ihm ihrem Herzen wohl that; denn sie merkte gar zu gut, daß diese Briefe eigentlich nur für Marien geschrieben waren, da er überzeugt sein konnte, daß die Gräfin sie ihr mittheilte. Er schrieb immer von seinem Heimweh, seiner trüben Stimmung, seinem Alleinsein, und nebenbei kramte er ziemlich ungeschickt seine liberalen Ansichten und wenig aristokratischen Grundsätze in Beziehung auf die Gesellschaft aus. – Violante, die dem ein Ende machen wollte, ließ sich nun, statt wie bisher ihre Briefe an den Sohn Marien in die Feder zu dictiren, ihre Schreibmappe auf das Bett bringen und schrieb selbst. Sie sagte ihm, sie sei jetzt wohler und werde von nun an Marien nicht mehr zu ihrer Correspondenz bedürfen; so sehr sie auch das junge Mädchen liebe und ihr vertraue, so sei es ihr doch schmerzlich, immer einer Dritten als Mittlerin zwischen sich und ihrem einzigen Kinde zu bedürfen. Sie wünsche, daß seine Briefe von nun an ihr allein gehörten, denn seit sie von ihm getrennt sei und nichts mehr von ihm besitze als seine Briefe, sei sie auf dieses Einzige eifersüchtig. – Die Gräfin, die eigentlich damit nichts beabsichtigte als eine Probe, die ihre Vermuthungen zur Gewißheit machen sollte, erreichte ihren Zweck vollkommen. Gaston schrieb von nun an weit seltener und viel kürzere Briefe, aber sie hatten den Vorzug, daß sie aus dem sentimentalen, geschraubten Tone eines zum erstenmal liebenden Jünglings in den natürlichen eines Kindes übergingen, das an seine Mutter schreibt, und sie machten dieser deshalb viel mehr Freude als die früheren.
Der Student.
Seit beinahe einem Jahre war Gaston eifriger Zuhörer in den Collegien der kleinen Landesuniversität, wohin ihn sein Oheim zuerst geschickt hatte. Sein Fleiß, der unter den übrigen Zuhörern seines Standes etwas Phänomenales war, wurde noch durch das Verlangen befeuert, seine Studien möglichst bald zu beenden und nach Cronberg zurückzukehren. – An Gaston war nichts von dem zu bemerken, was man sonst an jungen Leuten seines Alters wahrnimmt. Seine Freiheit – denn Herr Kerkholz beschränkte sie durchaus nicht – der Wechsel der Umgebungen, die studentische Ungebundenheit, ja sogar seine glänzenden, ganz seinem Ermessen anheimgestellten Einkünfte machten ihm nicht die geringste Freude, und das nicht, weil er verliebt war und sich nach der Geliebten zurücksehnte, sondern weil er, trotz seiner liberalen Grundsätze und seiner zur Schau getragenen und betheuerten Nichtachtung seiner vornehmen Geburt, die empfindlichste, verwöhnteste aristokratische Natur von der Welt war. Er vermißte, wie kaum ein Mann von vierzig Jahren, das geregelte stille Leben seines väterlichen Schlosses, dem freilich die Gräfin durch seltenen Geschmack und ausgezeichnete Bildung ganz besondere Anmuth zu verleihen wußte. Es war nicht möglich, behaglicher eingerichtete Zimmer, eine bessere und zugleich doch einfache Tafel, eine aufmerksamere und geräuschlosere Dienerschaft, überhaupt leichtere und anmuthigere Lebensformen zu finden als im Schlosse Cronberg. – Was war dagegen Gaston's jetzige Wohnung, obgleich die eleganteste des ganzen Städtchens, die Wirthstafel und die Zusammenkünfte der Studenten, von denen er sich unmöglich ganz ausschließen konnte, da sie ihn um seiner Gefälligkeit und Gastfreiheit willen ganz besonders aufsuchten! – Welch einen Contrast boten ihm erst die Gesellschaften des Städtchens, wozu man ihn häufig einlud, da er keine Bälle besuchte, und diese Gesellschaften also die einzige Gelegenheit waren, ihm die jungen Damen der Universitätsstadt vor Augen zu bringen. Aber diese Mädchen, mochten sie auch noch so hübsch, noch so munter und wohl erzogen sein, waren ihm in ihren altmodischen Toiletten, mit ihren rothen Händen und ihrem Provinzialdialekt so antipathisch, daß er für ihre Vorzüge gar kein Auge hatte.
Wenn ihm Kerkholz, der ihn besser kannte, als er sich selbst, diese aristokratischen Vorurtheile vorwarf, dann lachte Gaston und pochte so stolz auf seine demokratischen Gesinnungen, daß Kerkholz zuletzt schwieg, weil er sah, daß Gaston über sich selbst hoffnungslos blind war. Vornehme Frauen pflegen sonst viel exclusiver zu sein als ihre männlichen Angehörigen, aber bei Violanten und ihrem Sohne war es umgekehrt. Er war in allem weit empfindlicher und tadelsüchtiger als seine Mutter. Sie hatte Herrn Kerkholz vor allen seinen viel schmiegsameren und eleganteren Mitbewerbern als Erzieher für ihren Sohn gewählt, während Gaston jetzt, nach mehreren Jahren, sich noch immer nicht über desselben eckige Manieren und kleinbürgerliche Formen beruhigen konnte, obgleich er seine Antipathie sich selbst gegenüber durch andere Gründe motivirte.
Er hatte an seine Mutter wieder einen seiner Klagebriefe geschrieben und ihr auseinander gesetzt, daß er jetzt hinreichend lange auf der Universität sich aufgehalten und in dem einen Jahre, wie Herrn Kerkholz's beigelegter Brief bezeuge, so viel gelernt wie andere junge Leute in dreien, und da sie aus ihm weder einen Beamten noch einen Advokaten zu machen beabsichtige, sondern nur wünsche, daß er so viel von der Rechtswissenschaft verstehe, als er zur Aufsicht über die Thätigkeit seiner Beamten bedürfe, so bitte er dringend um Erlaubniß zurückkehren und ihr seine kindliche Pflege widmen zu dürfen, da er nach der Kürze und der Haltung ihrer letzten Briefe schließe, daß sie kränker geworden. – Violante schrieb ihm darauf, er möge denn in Gottes Namen die Universität verlassen, aber statt zu ihr zurückzukehren, eine Reise antreten, wozu sie ihm ein Jahr bewillige. Kerkholz erhielt in einem langen, von Mariens Hand geschriebenen und von der Gräfin dictirten Brief die nöthigen Anweisungen und Winke. – Gaston bat nun wenigstens um die Erlaubniß, seine Mutter noch einmal sehen und persönlich von ihr Abschied nehmen zu dürfen; aber auch das wurde ihm abgeschlagen, unter dem Vorwande, es liegen Rücksichten vor, welche sie wünschen ließen, daß Gaston nicht eher zurückkehre, als bis er majorenn sei, also erst nach Jahresfrist.
Der junge Graf begriff das nicht, fügte sich aber dem Willen seiner Mutter, obgleich er nicht ohne Groll darin eine Vorsichtsmaßregel wegen Marien zu erblicken glaubte, deren Anblick ihm seine Mutter nicht eher gewähren wollte, als bis er durch »Welt- und Menschenkenntniß« gestählt sei. – Die wahre Ursache, weshalb Violante ihrem Herzen diese bittere Entsagung auferlegte, war aber, daß sie täglich schwächer und leidender wurde, und sie war fest überzeugt, daß wenn ihr Sohn sie so sähe, er sie nimmermehr verlassen werde, und dann war die Verbindung mit Marien eine natürliche Folge der gemeinsamen Pflege der Gräfin. Er sollte erst die Welt sehen; wollte er dann noch Marien seine Hand reichen, so konnte er wenigstens seine Mutter nicht anklagen; sie hatte dann alles gethan, was in ihrer Macht stand.
Die Rückkehr.
Ein Jahr war verflossen und Gaston auf der Rückkehr begriffen. Niemand ahnte in dem gebräunten kräftigen jungen Mann einen Neunzehnjährigen. Er war von jeher wohlgebildet und talentvoll gewesen, ohne jedoch in andern Augen als denen seiner Mutter für ein liebenswürdiges Kind zu gelten; denn er war nie mittheilend und anhänglich gewesen, und zu ernst für ein Kind. Jetzt aber verlieh ihm dieser Ernst eine gewisse Würde und paßte sehr gut zu seinem regelmäßigen Antlitz mit den dunkeln, von seiner Mutter geerbten Augen.
Groß war seine Sehnsucht, das heimathliche Schloß wieder zu sehen. Er hatte in der letzten Zeit keine Briefe erhalten, da er einen andern Rückweg eingeschlagen und so die an ihn abgesendeten Briefe ihm nicht zugekommen waren. Von der letzten Poststation schickte er einen reitenden Boten voraus mit ein paar Zeilen an Marie, worin er sie bat, seine Mutter auf seine Ankunft vorzubereiten, denn die letzten Briefe hatte sie nicht selbst geschrieben, sondern Marien dictirt, und deshalb fürchtete er, daß sie sehr unwohl sein werde, obgleich sie ihm über ihr Befinden so gut wie nichts gesagt hatte, wie sie überhaupt nie gerne von sich selbst sprach. An Marien dachte Gaston mit mehr Neugierde als Zuneigung. Er war darauf gespannt, wie ihm jetzt, nachdem er die schönsten und vornehmsten Frauen von London, Paris und Rom kennen gelernt, die einfache, nie von Schloß Cronberg entfernt gewesene Jugendgefährtin gefallen werde; denn wir müssen es gestehen, er hatte sich jetzt etwas mehr an den Fluch und das Unglück seines Lebens, ein reicher Graf zu sein, gewöhnt. Er hatte hie und da an einer Persönlichkeit Gefallen gefunden, aber ernstlich verliebt hatte er sich nie, und das lag überhaupt in seinem etwas schwerfälligen Wesen, das sich nicht leicht Jemanden zuneigte.
Er stieg aus, als er des heimathlichen Schlosses ansichtig wurde, und ließ den Wagen mit Herrn Kerkholz auf der Landstrasse fahren, während er selbst den Park betrat, durch den er zu Fuß eben so rasch das Schloß erreichen konnte, denn er wollte allein ankommen. Er ging nicht rasch, obgleich sein Herz von Sehnsucht und Sorge hoch schlug; eine gewisse trübe Ahnung hielt ihn zurück und ließ ihn die sonst so beflügelten Sohlen schwer heben. – Schon sah er den Schloßgarten vor sich liegen, schon hatte er das schwere Gitterthor geöffnet, zwischen dessen Eisenstäben die verschlungenen Namen seines Großvaters und seiner Großmutter sich zeigten, derselben Großmutter, deren lebensgroßes, sehr schönes Conterfei zu den lieblichsten Erinnerungen an die Heimath gehörte. Das Bild hing über dem Ruhebett seiner Mutter im Cabinet, wo er immer die Abende bei ihr zubrachte, und indem er jetzt daran dachte, fiel ihm ein, daß er doch auf seiner ganzen Reise in den großen Gallerien zu Versailles, im Louvre, in den Palästen der Großen von London, Genua, Wien und Rom keinen so schönen Frauenkopf gesehen wie seine blonde Großmutter, Gräfin Therese, eine geborene Fürstin S., gewesen, die sehr jung gestorben war, so daß sich sein Vater nur noch dunkel ihrer erinnert hatte.
Indem sah er durch die breite Nußbaumallee, welche vom Schlosse herführte, eine Gestalt herabkommen, die ihm in dieser Entfernung wie seine wieder zur Welt zurückgekehrte Großmutter erschien. Das goldgelbe Haar wehte, vom scharfen Herbstwinde gehoben, um das bleiche Antlitz, Schultern gewickelt und ein schwarzes Wollkleid fiel in breiten Falten bis über die Füße. – Gaston blieb stehen und sagte, in Staunen versunken, denn die Aehnlichkeit verschwand beim Näherkommen der Gestalt keineswegs: »Es ist wahrhaftig die Fürstin Therese!« – Die Dame im Burnus eilte aber rasch herbei, und ihm die Hand entgegenstreckend rief sie mit unbeschreiblichem Ausdruck: »Graf Gaston!« Bei dem Ton dieser Stimme fuhr der junge Mann zusammen. Nun erkannte er sie, und indem er ihre Hand mit Küssen bedeckte, rief er in jubelndem Tone: »Marie! Marie!« – »Sie haben mich nicht gleich erkannt –« – »Weil Du – weil Sie gerade so aussehen wie meine Großmutter, der Sie doch früher nie geglichen; ich glaubte wahrhaftig, sie sei es. Sie sind viel schmaler und blässer geworden und doch viel –« Er stockte und setzte dann rasch hinzu: »Aber jetzt zur Mutter!«
Marie stand noch immer vor ihm, als wolle sie ihm den Weg zum Schloß vertreten. Das fiel Gaston beängstigend aufs Herz und er fragte beklommen: »Wie geht es ihr?« – Marie blieb stehen, dann versetzte sie zögernd und mit niedergeschlagenen Augen: »Die Gräfin ist sehr krank gewesen. Sie dürfen noch nicht in das Schloß. Setzen Sie sich einen Augenblick mit mir auf diese Bank.« – Gaston gehorchte, aber er sagte ängstlich: »Gehen Sie lieber zu meiner Mutter, ich will hier warten, bis Sie mich zu ihr rufen.« – »Die Gräfin weiß, daß Sie hier sind.« – »Sie weiß es – und will mich nicht sehen?« – »O Graf Gaston!« – Mehr konnte sie nicht sagen, ihre Lippen zitterten und zwei große Thränen fielen aus ihren niedergeschlagenen Augen.
Gaston faßte erschreckt ihre Hand, er bog sich vor und sah ihr in's Gesicht, aber sie hob nicht die Augenlider. Da sah er auf ihre kalte, zitternde Hand, die er in der seinen hielt, und wie wir oft im entscheidendsten Augenblicke den kleinsten Nebenumstand bemerken, so sah er jetzt, daß der wollene Aermel, der ihr Handgelenk umschloß, mit einem schmalen, schwarzen Krepp umsäumt war. Dieses Zeichen tiefer Trauer traf ihn in's Herz, und mit einem Schrei aufspringend rief er im Ton eines Verzweifelnden: »Meine Mutter ist todt!«
Marie bedeckte die Augen mit den Händen, aber sie sagte nichts, und ob auch Gaston mit der Angst eines Verurtheilten nach einem Laute ihrer Lippen lauschte, blieb sie wie ein Steinbild sitzen. Endlich fragte er, und Niemand würde sein Organ in diesem Augenblick erkannt haben, so hohl und tonlos klang seine Stimme: »So ist es also wahr?« – Marie bewegte das Haupt bejahend; sie wußte nicht, wie Gaston so schnell zur Ueberzeugung seines Unglücks gekommen, denn um ihm nach und nach die Trauerkunde beizubringen, hatte sie nicht in voller Trauerkleidung vor ihm erscheinen wollen und deshalb rasch den weißen Burnus umgeschlagen. – »Wann starb sie?« fragte Gaston. – »Heute vor acht Tagen, Nachts ein Uhr. Da ich die letzten acht Tage keine Briefe mehr von Ihnen erhalten und Sie Ihre Route nicht angegeben hatten –« – »Ja, ja,« sagte Gaston leise, »sie ist mir im Traume erschienen, gerade heute vor acht Tagen.«
Weiter konnte er nicht reden! er stand auf und ging die Allee hinab, um mit seinem Schmerze allein zu sein. Marie aber ging in das Schloß zurück.
Sie traf dort den Grafen Eberhard, der bereits Gaston's Ankunft durch die Dienerschaft erfahren. »Haben Sie ihm den Tod seiner Mutter mitgetheilt?« fragte er Marien mit mehr Neugierde als Theilnahme. – »Ja, er weiß es. Und er will allein sein,« setzte sie rasch hinzu, als Eberhard sich anschickte in den Garten zu gehen. Der Graf wendete sich um und auf Marien fiel ein nicht besonders freundlicher Blick aus seinen schmalen, scharfen Augen.
Sein Aussehen war in den beiden letzten Jahren nicht vortheilhafter geworden. Obgleich seine große, schlanke, sorgfältig in tiefe Trauer gekleidete Gestalt sich noch mit gewohnter Biegsamkeit und Grazie bewegte, so war doch sein Gesicht so bleich und schmal, seine Augen so tiefliegend geworden, daß seine Häßlichkeit noch auffallender als sonst hervortrat. Auch hatte der Ausdruck seines Gesichtes sich verändert, die frühere Heiterkeit war daraus gewichen, um einem grämlichen Ernste Platz zu machen, der sich auch in Mariens Gegenwart durch finsteres Brüten kund gab und sie ängstigte.
»Hat er nicht nach mir gefragt?« wendete er sich jetzt wieder zu Marien, »oder,« setzte er mit bitterem Lächeln hinzu, »spielt er jetzt schon den Majoratsherrn, wozu er freilich seit vorgestern berechtigt ist? Aber er hätte doch wohl seine Mündigkeitserklärung abwarten können.« – »Es war gar nicht möglich, daß er von Ihnen sprach, Herr Graf, da ihm wahrscheinlich mein trauriges Aussehen sogleich sein furchtbares Unglück verrieth.« – »Auf dieses ›furchtbare Unglück‹ mußte er ja aber seit seiner Geburt vorbereitet sein; das Wunderbare am Tode meiner Schwägerin besteht nur darin, daß er nicht neunzehn Jahre früher erfolgt ist.«
Marie stieg, ohne auf diese herzlosen Worte zu achten, die Schloßtreppe hinauf, und es vergingen mehrere Stunden, ehe Gaston im Schlosse erschien. Er war blaß, aber ruhig und gefaßt. Den sehr warmen Empfang seines Oheims nahm er zu dessen sichtbarem Befremden ziemlich kalt auf, aber aus keinem andern Grunde, als weil jetzt Alles, was nicht in Beziehung zu seinem Verluste stand, ihm gleichgiltig war.
»Bitte, lieber Oheim,« sagte er, als Eberhard ihn fragte, auf wann er seine Mündigkeitserklärung festsetzen wolle; »sprechen Sie mir jetzt nicht von diesen Dingen. Aber wo ist Marie? sie soll mir von meiner Mutter erzählen.« – Eberhard läutete und befahl dem eintretenden Diener, Marie in den Salon zu rufen. Sich dann zu Gaston wendend, sagte er scharf: »Du darfst sie des Anstandes halber jetzt nicht mehr in ihrem Zimmer aufsuchen.« – »Ich würde das ohnedem nicht gethan haben,« erwiederte Gaston eben so scharf.
Als Marie kam, ging Eberhard, der bis dahin schweigend wie sein Neffe am Fenster gestanden. Gaston aber setzte sich zu Marien und bat sie, ihm von seiner Mutter zu erzählen. Das that sie mit gewissenhafter Treue, bis auf Einen Punkt. Eine gewisse Verlegenheit, von der sie sich selbst kaum Rechenschaft gab, hielt sie ab, von jener Stunde zu sprechen, wo ihr Violante den Brief übergeben, den man, als sie in's Schloß gebracht worden, bei ihr gefunden; eben so wenig erwähnte sie der von der Gräfin ihr zum erstenmal mitgetheilten Vermuthung, daß Violantens frühere Gesellschafterin, Felicitas von Werther, ihre Mutter sei. Diese hatte freilich seitdem nichts von sich hören lassen; auch hatte die Gräfin trotz der sorgfältigsten Nachforschungen seit ihrer Flucht nicht das Mindeste von ihr vernommen, und es war als habe sie damals die Erde verschlungen. – Von dieser ganzen Sache sprach Marie mit Gaston kein Wort; es war ja aber auch ihr eigenstes Geheimniß und Niemand hatte ein Recht darauf. Desto ausführlicher erzählte sie ihm Alles, was ihn betraf, und händigte ihm zuletzt ein versiegeltes Papier ein, welches ihr die Gräfin an ihrem letzten Lebenstage für ihren Sohn übergeben und worin sie ihm Marien auf's Dringendste empfahl und ihn bat, ihr außer dem Familienschmuck, der natürlich dem Hause verblieb, all' ihr Geschmeide und die kleinen Geräthschaften, deren sie sich bedient, zum Andenken zu überlassen. Violante schrieb:
›Deine künftige Frau wird diese Dinge alle moderner und eleganter mitbringen und die meinigen nicht benutzen, für Marien aber wird es der Nachlaß einer Mutter sein und sie wird sich daran freuen. Behandle sie überhaupt wie eine Schwester, lasse ihr freien Willen in Allem; unabhängig wird sie durch mein Testament, das ich nur um ihretwillen aufgesetzt habe, denn meine alten Diener würdest Du doch nicht vergessen, Marie aber würde aus Deinen Händen kein Vermögen angenommen haben. Du wirst glücklich sein, so hoffe ich und so ahnt es mir; was wird aber aus meiner armen Marie werden? Der Gedanke an sie macht mir den Tod so schwer!‹
Gaston legte den Brief hin; ein Gefühl zog durch seine Brust, das er bisher noch nicht gekannt; es beklemmte ihn, es nahm ihm den Athem und einen Augenblick wohnte Groll statt Trauer in seinem Herzen. Er war eifersüchtig auf Marien: aus diesem letzten Abschiedsworte seiner Mutter sprach mehr Liebe für Marien als für ihn selbst. Und doch liebte er Marien so leidenschaftlich wie je.
Als er am Abend mit Marien und Kerkholz sich im Salon befand, kam auch Eberhard wieder, und Gaston bemerkte jetzt erst die große Veränderung, welche mit ihm vorgegangen. Er, der von allen Anwesenden die wenigste Ursache zur Trauer hatte, war der Niedergeschlagenste, Wortloseste. Er brach frühe auf, weil er noch nach Neu-Cronberg zurückfahren wollte, obgleich Gaston ihn dringend bat, hier zu übernachten. Als er fort war, fragte Gaston Marien: »Finden Sie meinen Oheim nicht merkwürdig verändert?« – »Ja wohl finde ich das, und es beängstigt mich. Sein ungewohnter Ernst und die üble Laune, deren gänzliche Abwesenheit früher Jedermann an ihm rühmte, fielen schon der Gräfin bei seinen letzten Besuchen auf, und seitdem ist es viel schlimmer geworden; es ist mir als brüte er Unheil.« – »Marie!« sagte Gaston verweisend, »ich glaube Sie haben die ungerechte Abneigung gegen meinen armen Oheim von meiner Mutter geerbt, und doch war sie bei ihr eher zu entschuldigen.« – »Es kann sein,« sagte Marie sanft, »und ich will mich freuen, wenn ich ihm Unrecht gethan habe.«
Nach mehreren Tagen wurde in feierlicher Versammlung das Testament der Gräfin eröffnet. Sie vermachte darin Marien ein bedeutendes Capital und ein zierliches Haus, das einst ihr Gemal für seine Schwiegermutter an der Grenze des Parkes erbauen lassen, das aber die alte Dame nie bezogen, weil sie gestorben, ehe es vollendet war. Dahin sollte Marie die treue Georgine mitnehmen, die zudem ein sehr ansehnliches Legat erhielt, und dieselbe dort wohnen lassen, auch wenn sie selbst das Haus nicht mehr benützte. Gaston fiel alles andere zu und Eberhard's war in dem Testament mit keiner Sylbe erwähnt, was übrigens Niemand auffallen konnte.
Als die Gerichtspersonen sich entfernt hatten und Eberhard mit Gaston allein in einer Fensternische stand, fragte jener kurz, ohne den Neffen anzusehen: »Wann willst Du Dich mündig erklären lassen?« – »Wann Sie es wünschen, lieber Oheim.« – »Wann ich es wünsche!« Und ein spöttisches Lachen folgte diesen Worten.
Gaston kam jetzt erst der Gedanke, daß seine Mündigkeit seinem Oheim unangenehm sein könnte; früher hatte er in aller Unschuld geglaubt, der ältere Graf werde froh sein, alle Sorgen und Arbeiten los zu werden, und er sagte deshalb sehr freundlich: »Es versteht sich von selbst, lieber Oheim, daß Sie auch ferner in Neu-Cronberg wohnen und das Schloß sammt Gärten und dem Hirschpark zu Ihrer Verfügung bleibt wie bisher.«
»Wirklich?« erwiederte Eberhard noch spöttischer.
»Gefällt es Ihnen denn nicht dort?« fragte Gaston sehr befremdet. – »Das nicht, aber ich denke mir nur, wie unterhaltend es für mich auf dem Schlosse sein wird, wenn die Beamten sammt den Büreaus von dort weg und hieher gezogen sind. Der Castellan, die Haushälterin und mein alter französischer Kammerdiener werden dann les charmes du chateau ausmachen.« – »Ich sehe aber gar nicht ein, warum Sie nicht in Zukunft einen eben so heitern Kreis um sich versammeln sollten wie bisher?« – »Weil in Zukunft Alle zu Dir kommen werden.«
»Ich verstehe Sie nicht!« – »Mein Gott, wie egoistisch die Jugend ist! So ist es Dir denn nie eingefallen, daß, nachdem Deine Eltern fünf Jahre in kinderloser Ehe gelebt, alle Welt in mir den künftigen Majoratsherrn begrüßte?« – »Aber, lieber Oheim, es ist doch nicht meine Schuld –« – »Ich weiß wohl, lieber Junge, daß Du nichts dafür kannst, daß Du für mich so mal à propos in diesem Schlosse zur Welt kamst. Und vielleicht hast Du sogar dieses unbewußte Unrecht nicht einmal begangen – viele Leute behaupten das wenigstens.« – »Was soll das heißen?« – »Ich habe schon zu viel gesagt!« – »Nein, nein, Oheim, Sie müssen mir durchaus Ihre Worte erklären.« – »Mein Gott, es ist ja natürlich, daß viele Leute nicht anders meinen, als Du seiest ein unterschobenes Kind, da Deiner Mutter zu viel daran liegen mußte, einen Sohn zu besitzen.«
»Ein unterschobenes Kind!« rief Gaston und faßte seines Oheims Arm dabei so heftig an, daß dieser sich losmachte und wie begütigend sagte: »Was reden die Leute nicht alles! Ueberall wittern sie Betrug, und da Marie, das Findelkind, hier im Schlosse wie die eigene Tochter erzogen wurde, und überdem verlautete, sie sei am selben Tage wie Du geboren, so sagten sie natürlich –« – »Doch nicht, sie sei das Kind der Gräfin Cronberg und ich das verkaufte Kind irgend einer Bettlerin?« rief Gaston mit solcher Seelenangst, daß jeder Andere als Eberhard Mitleid mit ihm gehabt hätte. Dieser aber fuhr gleichmüthig fort: – »Natürlich sagten sie das; der Schein war dafür, und Du weißt, mein Kind, die Menge urtheilt immer nach dem Schein.« – »Aber Sie, Oheim, Sie – was sagen Sie?« – »Ich, mein Kind? Von mir ist ja nicht die Rede; ich glaube natürlich, was mir meine Frau Schwägerin gesagt hat – nämlich, daß Du ihr und meines verstorbenen Bruders Kind seist!« setzte er mit einem unbeschreiblichen Ausdruck hinzu.
Hier hielt Eberhard inne, denn selbst er erschrack jetzt über die Wirkung seiner Worte auf Gaston. Todtenblaß, mit weit offenen Augen und an allen Gliedern zitternd starrte der Jüngling seinen unheilverkündenden Oheim au. Als dieser schwieg, schlug er die Hände vor das Gesicht und sank in einen Stuhl, und nur das krampfhafte Heben seiner Brust verkündete, daß er nicht ohnmächtig sei.
Aber zu Gaston's Ehre sei es gesagt: was ihn bei der Insinuation seines Oheims zuerst am meisten erschütterte und aller Fassung beraubte, war nicht der Gedanke, daß er nicht der Majoratserbe von Cronberg sei, sondern daß es eine Möglichkeit gebe, daß Violante nicht seine Mutter, daß sie nicht die fleckenlose Frau sei, deren Sohn zu sein er immer so stolz gewesen.
Eberhard wollte wieder sprechen, aber Gaston winkte ihm zu schweigen, und so mußte der ältere Graf sich entfernen, was ihm auch jetzt ganz bequem war, da er überzeugt sein konnte, daß Gaston selbst diese Unterhaltung wieder aufnehmen werde, auf deren Erfolg Eberhard alle seine Pläne für die Zukunft gebaut hatte. Gaston aber, sobald er sich allein sah, verschloß sich in sein Zimmer, um sich einer Gedankenfluth hinzugeben, die ihn zu vernichten drohte.
Ein unterschobenes Kind! Der Unglückliche glaubte es, ja er hatte eigentlich gar keinen Zweifel mehr! Hatte er nicht erzählen hören, daß bei seiner Geburt auf den ausdrücklichen Wunsch der Gräfin Niemand zugegen gewesen als Martha, eine alte Frau aus dem Dorfe, die in solchem Falle bei jeder Bäuerin zu finden war, und die treue Kammerfrau, die ihr Leben für die Gräfin ließ? Hatte er nicht gehört, daß die beiden Aerzte, die man aus der Residenz geholt, abreisen mußten, ohne die Wöchnerin gesehen zu haben, weil diese ihnen sagen lassen, sie bedürfe glücklicherweise ihres Beistandes nicht? War nicht die alte Martha reich belohnt im Wohlstand gestorben, und Georgine, wie sorgte die Gräfin für Georgine! Und war es nicht auffallend, daß diese alte Kammerfrau bei Marien bleiben sollte bis zu ihrem Tode, sie, die Einzige auf Erden, die wissen konnte, wer Marie war? Und Marie selbst! Wie hatte die Gräfin sie gehalten! Und zuletzt noch, hatte sie nicht selbst gesagt, daß sie nur um des Mädchens willen ein Testament errichtet, um des armen Kindes willen, weil der Gedanke an dasselbe ›ihr den Tod erschwere‹? Und dann, was alle Zweifel in seinem sanguinischen Sinne hob, war Mairie nicht der Fürstin Therese, jener Dame, die er bisher für seine Großmutter gehalten, wie aus den Augen geschnitten? Konnte das eine Fremde sein? – Alle diese Umstände zusammen genommen waren zu schlagend – sie war es, nicht er.
Es war ein Glück und ein Unglück zugleich für den Jüngling, daß sein männlicher Stolz seinen gräflichen Stolz so weit überwog: ein Glück, weil dieser Stolz es ihm unmöglich machte, in unrechtmäßigem Besitz zu schwelgen, und ihn rasch in das sich finden ließ, was ihm nun einmal sein Schicksal schien; ein Unglück, weil er ihn ohne weitere Prüfung der Insinuation seines Oheims glauben und so unbesonnen Alles aufgeben ließ, in dessen ungestörtem und unzerstörbarem Besitz er sich befand, daß er es sogar verschmähte, Georgine zu vernehmen, die Einzige, die ihm Auskunft geben konnte.
Weiblicher Cart Wagen, Karre, Fahrgleis..
Als Marie am folgenden Morgen ihr Schlafzimmer verließ, brachte man ihr einen Brief von Gaston mit der Nachricht, der junge Graf sei schon in aller Frühe abgereist. Erschrocken und Unheil ahnend erbrach sie den Brief, der hier folgt:
›Diese Zeilen sollen Ihnen, meine liebe Marie, ein ewiges Lebewohl vom Bruder und Jugendgespielen bringen. Binnen wenigen Stunden wird man Ihnen zwei Documente übergeben, wovon Sie das Eine meinem Oheim einhändigen wollen. Es enthält meine Verzichtleistung auf die Verwaltung der Güter und überträgt ihm dieselbe auf seine Lebenszeit. Das für Sie Bestimmte enthält die Schenkung meines ganzen Allodialvermögens. In fünfundzwanzig Jahren wird man mich für verschollen erklären und dann ist mein Oheim, wenn er noch lebt, Majoratsherr. Sagen Sie ihm, mehr könne ich nicht thun, da es auf Erden keinen Preis giebt, um welchen ich das Andenken meiner Mutter – der Gräfin Violante von Cronberg wollte ich sagen – beflecken möchte. Nur unter der Bedingung, daß Graf Eberhard schweigt, bleibe ich verschollen, bin ich gestorben. Wagt er aber zu erklären, daß ich ein unterschobenes Kind sei, so erstehe ich und werde dann um mein Recht kämpfen, Zahn um Zahn, Auge um Auge. Sie wissen nun das furchtbare Geheimniß, das mich aus der Heimath treibt, aber Sie werden mir nicht zürnen, daß ich Ihnen nicht den Namen einer Gräfin von Cronberg zurückgegeben, der Ihnen gebührt. – O wäre ich an Ihrer Stelle – so im Recht, wie ich im Unrecht bin! möchte dann auch Niemand mich für den Berechtigten halten! Ja, Sie sind edel, Sie werden nicht um den Preis, daß man vor der Menge die Gräfin Violante zur Betrügerin stempelt, von derselben Menge als ihre Tochter anerkannt sein wollen. Ihnen genügt das Bewußtsein, ihr gegenüber, ohne es zu wissen, die Pflicht einer Tochter erfüllt und sie wie ein Engel gepflegt zu haben. – Leben Sie wohl und vergessen Sie einen Unglücklichen, der keinen andern Namen mehr hat als
Gaston.‹
Marie glaubte einen beängstigenden Traum zu haben. Das also hatte der finstere Eberhard ausgebrütet! diesen heillosen Betrug gegen den Sohn ihrer Wohlthäterin! Denn nicht einen einzigen Augenblick glaubte sie an die Wahrheit dessen, was Gaston zum Unglücklichsten der Menschen machte.
Die edle Violante, diese tugendhafte Frau, deren ganzes Leben eine Kette von Aufopferung, Liebe und Wohlthun war, sollte eines Betruges fähig sein? Nimmermehr! – Und dann, konnte ein Weib ein fremdes Kind so lieben, wie Violante Gaston geliebt? Nimmermehr! – »O Gaston!« das war ihr erstes Wort, als sie sich vom Schrecken etwas erholt, »Gaston, wie undankbar, zweifach undankbar bist Du gegen das Andenken Deiner Mutter!« Sie ließ anspannen und fuhr zur nächsten Stadt, wo der Rechtsgelehrte wohnte, der alle Angelegenheiten des gräflichen Hauses besorgte. Der alte Mann kam ihr mit besorgten Blicken entgegen und sagte: »Eben wollte ich zu Ihnen; der junge Graf war hier und ich habe zwei Documente aufsetzen müssen, die ich Ihnen selbst überbringen sollte.« – »Wo ist Graf Gaston?« – »Fort, mit Postpferden, schon vor einer Stunde, wohin, weiß ich nicht. Ueberhaupt, was ist dem jungen Herrn?« – »Ich werde Ihnen Alles nachher erklären, bester Doctor, aber jetzt schicken Sie vor allen Dingen auf das Postamt, damit man den rückkehrenden Postillon frage, welchen Weg der Graf eingeschlagen, und ihm dann sogleich Jemand nachschicke.«
Als Alles geschehen, ging Marie mit dem Advocaten in sein Cabinet, und dort enthüllte sie dem alten bewährten Freunde des Hauses die Intrigue des Grafen Eberhard und beschwor ihn, die Documente, die er von Gaston erhalten, vor keines Menschen Blick, am allerwenigsten vor Eberhard's Augen zu bringen, der durch seine Herrschsucht und Habgier verhärtet, erbarmungslos den jungen Mann in einen Abgrund geschleudert habe.
Der alte Herr war außer sich; ein ergebener Anhänger und Bewunderer von Violantens glänzenden Eigenschaften und von Marien in ihrem Enthusiasmus fortgerissen, gelobte er zu thun, wie sie wünschte. Sie hoffte Gaston wieder zu finden und ihm dann jenen unglücklichen Glauben benehmen zu können. Bis dahin aber gelobten Beide zu schweigen wie das Grab, so wie Eberhard gegenüber, den der alte Herr, wie er äußerte, zu Allem fähig hielt, die Unwissenden zu spielen.
Von Gaston wurde nichts entdeckt. Er hatte sich bis zum Rhein führen lassen und dort ein Dampfboot bestiegen und seinen Reisewagen verkauft. Der Paß, den seine Mutter bei seiner Abreise für ihn ausfertigen lassen, lautete auf mehrere Jahre und war unbeschränkt, was die Ausdehnung der Reise betraf. Mariens Boten kamen überall zu spät, auch was der Advocat, nur für Gaston verständlich, in deutsche, englische und französische Zeitungen rücken ließ, fruchtete nichts, er war und blieb verschollen. Auf Alt-Cronberg und Neu-Cronberg blieb Alles bei'm Alten. Eberhard machte einige boshafte Bemerkungen über die Flucht seines Neffen und schickte allwöchentlich zu Marien, um sie fragen zu lassen, ob sie nichts von Gaston gehört. Sie hatte ihr eigenes, von der Gräfin ihr vermachtes Haus nicht bezogen, da Eberhard sie bat, bis zur Rückkehr Gaston's im Schlosse zu bleiben.
Der Flüchtling.
Weit, bis über das Weltmeer müssen wir wandern, um unsern Flüchtling wieder zu finden. In Washington, der Residenz des Präsidenten der Vereinigten Staaten, hatte Gaston sich niedergelassen. Dort, meinte er, kenne ihn Niemand und das neue Leben, das nun vor ihm lag, werde ihm durch keine Mahnung an seine Vergangenheit erschwert werden. Denn wir müssen gestehen, es war ihm bang vor diesem neuen Leben. Das Bewußtsein seiner Talente, seiner bedeutenden Kenntnisse, seiner Jugend und blühenden Gesundheit vermochten ihm nicht den Muth wiederzugeben, den ihm die Entziehung des Glaubens an seine Geburtsrechte genommen. Er, der immer seine vornehme Geburt für einen ganz werthlosen und zufälligen Umstand angesehen haben wollte, er, der es einst so bitter und leidenschaftlich beklagt, daß der Rang und der Reichthum seiner Familie es ihm unmöglich mache, durch eigene Kraft und eigenes Verdienst sich eine Stelle im Leben zu erringen, er benutzte jetzt nicht im Mindesten diese Gelegenheit, sondern saß, in thatenlosem, düsterem Brüten versunken, entweder tagelang in seinem Zimmer oder streifte in der Umgegend oder in den Straßen Washington's umher.
Da begegnete er eines Tages einer Dame, deren Bekanntschaft er in Paris gemacht, die ihn als Graf Cronberg gekannt, und ihn auch jetzt als solchen begrüßte. Er bat sie das zu unterlassen, da er in diesem demokratischen Lande seinen Namen abgelegt und nur seinen Taufnamen Gaston führe, weil er in dieser anspruchslosen Hülle eher Gelegenheit zu haben hoffe, die Eigenthümlichkeiten des merkwürdigen Landes kennen zu lernen.
Die Dame, die in Paris durch Herrn Kerkholz die Verhältnisse Gaston's auf's Genaueste erfahren hatte, sah in diesem Schritt des reichen jungen Majoratsherrn nur eine Folge der deutschen romantischen Lebensanschauung, die sich gerne in Verkleidungen und dadurch herbeigeführten Abentheuern gefällt. Ihr Mann, ein geborener Deutscher, aber schon seit vielen Jahren als Consul eines deutschen Staates in Amerika etablirt, hatte ihr ja so viel von den romantischen, unpractischen Neigungen seiner Landsleute erzählt. Unpractisch fand sie diesen Einfall Gaston's auf jeden Fall, da in Amerika so gut wie anderswo ein deutscher Graf unendlich mehr Gelegenheit hat sich in Allem, was er wünscht, zu orientiren, als ein Mr. Nobody. Sie suchte Gaston davon zu überzeugen und bat ihn sein Incognito abzulegen, aber er ging auf ihre gutgemeinten Rathschläge nicht ein. Indem sie ihn auf ihre Trauerkleidung aufmerksam machte, theilte sie ihm mit, daß ihr Gemal vor einem halben Jahre gestorben sei, und sie nun mit ihrer kleinen Tochter ganz einsam lebe. Mrs. Sarah Wilkins, so hieß die junge Witwe, erzählte das mit jener ruhigen, kalten Fassung, welche die Frauen der neuen Welt auszeichnet, denn sie selbst war eine geborene Amerikanerin, und obgleich ihr der Abschied vom Continent und besonders von Paris damals sehr schwer geworden, doch eine enthusiastische Bewundererin der Vorzüge ihres Vaterlandes. Sie lud Gaston mit großer Herzlichkeit ein, öfter ihr Haus zu besuchen, und obgleich er Anfangs kaum wußte, ob er diese Einladung annehmen solle oder nicht, ging er dennoch hin, und bald fühlte er sich im eleganten und behaglichen Hause der schönen Witwe wohler als seit langer Zeit.
Man weiß, wie günstig die Lebensstellung der Frauen in Amerika ist, wie sie dort, jeder Sorge enthoben, jeder häuslichen Pflicht entbunden, ein blumenartiges Leben führen. Dabei sind sie gewöhnlich schön, fein gebaut, von zarter Haut, und mit einer großen Empfindlichkeit gegen jedes rauhe Lüftchen und jedes rauhe Wort ausgestattet. Dies alles verleiht einer Amerikanerin, welche nur die Frau eines wohlhabenden Kaufmanns ist, eine so aristokratische Atmosphäre, wie sie in Deutschland nur eine Frau aus den höchsten und reichsten Ständen umgiebt. Wir wissen, wie anziehend für Gaston diese Sphäre war, obgleich er es sich sogar jetzt noch nicht gestehen wollte, eine Selbsttäuschung, die nur bei seiner großen Jugend möglich war.
Sarah war nicht nur schön, sie war auch anmuthig und sehr wohl erzogen, und das Vermögen, welches ihr Mann ihr hinterlassen, erlaubte ihr, mit ihrer Tochter, einem Kinde von zwei Jahren, ihr Haus ganz auf demselben Fuße zu erhalten, wie zu Lebzeiten ihres Mannes. Die eigentliche Hausfrau, das heißt der Mittelpunkt aller häuslichen Thätigkeit und Sorge, war eine Deutsche. Frau Waldner nannte sie sich, und seit Sarah's Vermählung hatte sie all' das im Hause besorgt und verwaltet, was selbst zu thun eine deutsche Frau sich zur höchsten Ehre rechnet. Sie überwachte die Dienstboten, machte den Küchenzettel, ließ scheuern und waschen und bügeln; die Handwerker des Hauses sprachen nur mit ihr, und als Sarah Mutter geworden, war sie es wieder gewesen, welche die kleine Ellen gepflegt und versorgt hatte. Sarah war freundlicher mit ihr und behandelte sie mit viel mehr Rücksicht, als sonst amerikanische Frauen solchen abhängigen Wesen gegenüber gewöhnt sind. Wissen doch die eingewanderten Gouvernanten, Gesellschafterinen und Haushälterinen nicht genug zu klagen. Geld erhalten sie freilich die Hülle und Fülle, aber leider befinden sich in diesem Verhältniß gewöhnlich Frauen, die weit über jener Stufe stehen, wo Geld für Mangel an Achtung entschädigt.
Frau Waldner vereinigte in ihrer Person die genannten Chargen und war deshalb Sarah ganz und gar unentbehrlich. Als Master Wilkins noch lebte, hatte sie öfters die Deutsche durch ihre Zurückhaltung gekränkt, seit dem Tode ihres Mannes fühlte sie sich aber so hülflos und verlassen, daß sie Frau Waldner als ihre einzige Stütze betrachtete und sie seitdem wie eine Freundin zu behandeln anfing.
Wenn Gaston Abends da war und die Waldner den Thee einschenkte, mußte er, indem er ihre bleichen, wohlwollenden, aber unaussprechlich melancholischen Züge ansah, immer an seine Mutter, wie er sie in seinem Innern doch noch nannte, denken, ohne selbst zu wissen warum, denn eine Aehnlichkeit mit Violanten war nicht da, aber es war ihm, als müsse sie seine Mutter gekannt haben. Er fragte sie einmal, ob sie die Gegend seiner Heimath kenne, und nannte dabei die Cronberg am nächsten gelegene große Stadt, aber sie verneinte. Trotzdem glaubte er ihr nicht, denn ihr Ton hatte etwas Unbestimmtes und Schwankendes. Sarah sprach bald von andern Dingen, das Kind wurde hereingebracht, aber die Waldner blieb zerstreut und vergaß bei ihrem Theegeschäft hundert Dinge, die sie noch nie vergessen, so daß es sogar der sorglosen Hausfrau auffiel, die lächelnd fragte, was ihr sei?
Da sagte die Frau, die sich nicht länger zurückzuhalten vermochte: »Die Frage Herrn Gaston's nach jener Stadt hat eine Jugenderinnerung in mir geweckt, die mich so lebhaft ergriff, daß ich davon ganz zerstreut wurde. Die Gegend selbst kenne ich nicht, wohl aber bin ich einmal im Norden von Deutschland einer Dame begegnet, die aus jener Gegend war und die mir einen so tiefen Eindruck hinterließ, daß ich jetzt, es sind bald zwanzig Jahre, ihr edles Gesicht mir vor Augen schweben sehe. Es war« – fuhr sie in halber Selbstvergessenheit fort, indem sie träumerisch in's Leere sah – »eine ungewöhnlich große, aber schlanke und feine Gestalt. Ihre schönen, lichtbraunen Augen, das schmale, blasse, sanfte Antlitz, von einem mir nie wieder vorgekommenen Reichthum von kastanienbraunen Haaren umwallt –«
»Sie hieß Gräfin Violante von Cronberg,« rief Gaston, indem er aufsprang und die Hand der Frau ergriff, während helle Thränen in seinen Augen standen. – Die Waldner fuhr zusammen, als habe ein Geist sie angerufen. Sie antwortete nicht, aber sie sah erschrocken den jungen Mann an, der sich nun beschämt zurückzog und entschuldigend sagte: »Ich habe Sie nicht ausreden lassen – Sie meinten vielleicht eine andere.« – »Ja, ja,« sagte die arme Frau in sichtbarer Verwirrung, »ich meinte eine andere;« denn Sarah, welche Gaston's Erschütterung bemerkt und von ihm vernommen, daß seine Mutter kürzlich gestorben sei, hatte ihrer Gesellschafterin gewinkt zu schweigen und die Herzenswunde des Sohnes nicht von Neuem aufzureißen. Sarah schrieb die Veränderung, welche ihr in Gaston's jetzigem melancholischem Wesen gegen seine heitere Stimmung in Paris auffiel, einzig und allein der Trauer um die geliebte Mutter zu, von deren Vortrefflichkeit ihr damals Herr Kerkholz so viel erzählt hatte.
Gaston nannte nun nicht mehr den ihm so theuern und doch so schmerzlichen Namen, und Frau Waldner kam auch nicht mehr auf das frühere Thema zurück, obgleich ihr Sarah, als Gaston fort war, Alles auseinandersetzte und ihr mittheilte, daß Gaston ein Graf Cronberg und Violantens Sohn sei. Die nicht zu verbergende Gemüthsbewegung, welche bei dieser Eröffnung sich der Frau bemächtigte, konnte Sarah nicht begreifen, und zu zartfühlend, um sich darnach zu erkundigen, brachte sie die Sache in ihrem Kopfe mit irgend einer Jugendliebe ihrer Gesellschafterin in Verbindung, da sie von ihrem Manne auch gehört, daß die Deutschen ihre erste Liebe so schwer vergessen.
Gaston kam jetzt öfter in das Haus der jungen Witwe, ja nach einiger Zeit kam er täglich und brachte alle seine Abende bei ihr zu. Zwischen ihm und Sarah entstand jetzt das eigenthümlichste Verhältniß von der Welt. Sie suchten sich lange, ohne sich zu finden, und als sie endlich meinten sich gefunden zu haben, waren sie sich noch so fremd wie vorher.
Gaston kam schon mehrere Monate täglich in Sarah's Haus, ohne daß sich irgend etwas geändert hätte. Er übte sich auf Sarah's Klavier, er las in ihren Büchern, er zeichnete in ihre Albums, er spielte mit ihrem Kinde, aber für die Herrin aller dieser Dinge blieb er gleichgültig, obschon ihm ihre Gegenwart angenehm war. – Sarah war zum Glück eine von den Musterfrauen, die sich nie zuerst in einen Mann verlieben, aber dennoch erwartete sie jedesmal, wenn Gaston bei ihr eintrat, daß er als ihr Verlobter sie wieder verlassen werde.
Endlich gab ein Zufall den Ausschlag. Die Hauswirthin Gaston's fragte ihn eines Morgens, bis wann sie wieder über seine Wohnung verfügen könne, da sich ein neuer Miether gefunden. – »Ich denke noch nicht abzureisen,« sagte Gaston. – »Ich weiß,« versetzte die Frau lächelnd; »der Bediente der Mrs. Wilkins, der gestern hier war, hat mir erzählt, daß Sie, sobald Ihre Trauer vorüber sei, sich mit ihr vermählen werden, aber dann bleiben Sie doch nicht hier wohnen.« – »Sie haben recht,« sagte Gaston mit schnell gewonnener Fassung, »hier kann ich nicht bleiben. Verfügen Sie über meine Wohnung, wie es Ihnen gefällig ist.«
Er ging sogleich zu Sarah, entschlossen, ihr seine Hand anzubieten. Sollte um seinetwillen ihr makelloser Ruf leiden? um seinetwillen, der sich als ein überflüssiges, ganz unbrauchbares Glied der menschlichen Gesellschaft betrachtete? Er liebte sie zwar nicht, wie er Marien geliebt, aber ihre harmonische Erscheinung that ihm wohl, ihre kleine Tochter war sein liebstes Spielwerk, ja selbst ihre Gesellschafterin war ihm äußerst angenehm, denn ihre Melancholie paßte zu der seinigen, und sie erinnerte ihn, wie schon erwähnt, an seine Mutter. Kurz, Sarah's Haus war seine zweite Heimath geworden, von welcher er sich nicht zu trennen vermochte. Und an Marien durfte er ja doch nicht mehr denken; konnte er von ihr als Almosen annehmen, was er ihr früher als Geschenk seiner Liebe geben wollte? Ja, so jung er war schien ihm doch Sarah's Haus der einzige Port für seine heimathlos umherirrende Seele, welcher sogar die liebste Erinnerung eines Sohnes, die Erinnerung an seine Mutter, zur Schmerzensquelle geworden, von der er sich zitternd abwendete.
Er traf Sarah nicht zu Hause, sie war zu einer Freundin gefahren, nur Frau Waldner und die kleine Ellen befanden sich im Wohnzimmer. – Die Aufregung, in welcher er sich befand, entging seiner Landsmännin nicht und sie fragte mit plötzlichem Schrecken, als er zum drittenmal es beklagte, dass Mrs. Wilkins so lange verweile: »Sie kommen doch nicht, um Abschied zu nehmen?« Gaston, welcher doch an die Möglichkeit eines Korbes von Sarah dachte, sagte lächelnd: »Wer weiß?« – Frau Waldner erhob sich, ging auf ihn zu, und seine Hand ergreifend, sagte sie mit bebender Stimme: »Dann muß ich mein Mrs. Wilkins gegebenes Wort brechen und einen Gegenstand berühren, von dem sie mir verboten zu sprechen, weil es Sie offenbar schmerzlich bewegte – von Ihrer Mutter.« – »Von meiner Mutter!« sagte Gaston mit wehmüthigem Lächeln. – Die Waldner war viel zu aufgeregt, um den Ausdruck seiner Züge zu beachten. Sie fuhr fort: »Ja, von Ihrer Mutter. Wann sahen Sie zuletzt die edle Frau?« – »Zwei Jahre vor ihrem Tode.« – »War damals – verzeihen Sie meine unbescheidene Frage, aber von deren Beantwortung hängt das Wohl und Weh meines Lebens ab war damals ein junges Mädchen im Hause, das Marie hieß?« – »Marie! wissen Sie von ihr? Meine Mutter hielt, so lang sie am Leben war, diese Marie wie ihre Tochter.« – »Lebt sie – lebt sie noch?« – »Ich habe bei meiner Abreise von Europa Marie gesund im Schlosse Cronberg verlassen.« – Da stürzten aus den Augen des armen Weibes zwei Thränenströme, und die Hände faltend sagte sie: »Gelobt sei Gott! Gelobt sei Gott!« – Gaston stand eine Weile staunend vor ihr; da fuhr es wie ein Blitzstrahl durch seine Seele, und die Hand der Landsmännin ergreifend, rief er athemlos: »Wissen Sie etwas von Marien? von ihrer Herkunft, ihren Eltern?« – Frau Waldner wischte die Thränen aus den Augen, und Gaston groß ansehend, sagte sie: »Und wenn ich etwas wüßte? – was dann?« – »O dann wäre Alles gut! Der Geist meiner Mutter geht klagend durch unser ödes Schloß – Marie leidet – ich gehe zu Grunde!« – »Da sei Gott vor! Dann will ich reden! Ja, ich kenne Mariens Herkunft, ich kenne ihre Eltern.« – »Wenn Sie mir sagen, wer sie sind, so schwöre ich bei'm Andenken meiner Mutter – obgleich ich selbst nicht ahne, wer dies ist –« – »Sie ahnen nicht, wer Ihre Mutter ist? Sind Sie nicht Graf Gaston, Gräfin Violantens Sohn?« – »Ja doch, ja doch! das alles später; aber wer sind Mariens Eltern?« »Sie schwören mir, daß Sie nie es verrathen wollen?« – »Bei meinem Leben, bei meiner Ehre!« – »Nun wohl, ich bin Marien's Mutter, ich habe sie vor neunzehn Jahren durch eine Bäuerin zur Gräfin Violante bringen lassen.« – »Aber wie – wie kamen Sie dazu? – Verzeihen Sie, aber wenn Sie wüßten, weshalb ich diese Frage mache –« – »Wie ich dazu kam? Weil ich Violante als die edelste Frau kannte; während eines jahrelangen Aufenthaltes in ihrem Hause hatte ich ihre schöne Seele kennen lernen.« – »Und wie hießen Sie damals?« fragte Gaston noch immer athemlos. – »Damals hieß ich – wer weiß, ob Sie je den Namen des unwürdigen, aber unglücklichen Flüchtlings vernommen? damals hieß ich Felicitas von Werther.«
Lösung.
Gaston schrie laut auf, er umarmte in stürmischer Freude die Frau, die ihn nicht begriff. Nun war Alles aufgehellt, die dunklen Reden seiner Mutter und Georginens, die Liebe der Gräfin zu dem Kinde, da sie dessen Herkunft wohl geahnt, Mariens Erscheinen auf dem Schlosse. Nur Eines blieb unaufgeklärt: ihre sprechende Aehnlichkeit mit seiner schönen Großmutter. Freilich konnte das auch ein Zufall sein, aber dieser Gedanke erinnerte ihn daran, zu fragen, wer denn Mariens Vater sei?
Frau Waldner verhüllte ihr Antlitz und trat zum Fenster. »Seinen Namen darf ich nicht nennen,« sagte sie bestimmt; »ich habe ihm geschworen, daß, so lange ich lebe, sein Name nicht über meine Lippen soll. Er war mir heimlich vermählt, zu einer Zeit, wo er Wohlstand, ja Ueberfluß vor sich sah. Als diese Aussicht ihm untreu ward, wollte er unsere Ehe nicht erklären. Ich war zu stolz, ihn dazu zu zwingen, und versprach ihm zu schweigen, wenn er mir die Papiere, welche die Gültigkeit unserer Ehe bewiesen, einhändigte. So lange ich lebte, wollte ich dann keinen Anspruch auf meine Rechte machen; aber mein Kind sollte dereinst die Beweise seiner legitimen Geburt erhalten. Er willigte ein und übergab mir Papiere, die ich als mein Heiligstes bewahre; denn sie sind der ganze Reichthum meiner armen Marie.« – »Und erhielten Sie nie Kunde von Ihrem Gemal und Marien?« – »Eine Freundin, die ich zurückließ, als ich mit einer deutschen Familie hieher auswanderte, versprach mir regelmäßig alle Jahre zu schreiben. Sie war meine einzige Vertraute, sie hielt ihr Wort bis vor einigen Jahren. Sie ist gestorben oder hat mich vergessen.« – »Jens Papiere – darf ich sie Marien überbringen?« frug Gaston, bebend vor Freude, »morgen schon reise ich ab.«
Frau Waldner ging, sie zu holen; Gaston hatte Sarah und seine Heirathspläne ganz und gar vergessen, als die schöne Witwe eintrat und ihn freundlich begrüßte. Er eilte ihr entgegen und sagte rasch mit sichtbarer Freude: »Ich kehre zurück nach Deutschland, haben Sie Aufträge für mich?« – Sarah sah ihn an, bis er roth wurde. Sie erröthete nicht, sie erbleichte auch nicht, nur ein klein wenig üble Laune verrieth sich, als sie sagte: »Es scheint, Sie haben während Ihres hiesigen Aufenthaltes schon etwas von uns profitirt. Ich meine die schnellen Entschlüsse, denn ein Deutscher braucht doch gewiß länger als einen Tag, um sich zu einer solchen Reise zu entschließen, und gestern wußten Sie ja noch nichts von Abreisen.« – »Es ist wahr,« sagte Gaston beschämt, »aber Briefe, die ich erhielt –«– »Sie brauchen sich bei mir nicht zu rechtfertigen,« sagte sie stolz, »Sie sind ja Ihr eigener Herr.«
Am Abend kam Gaston noch einmal, aber nicht zu Sarah. In Frau Waldner's kleines Zimmer ließ er sich führen, die ihn gerührt und bewegt empfing, ging er ja doch zu ihrem Kind! »Ich komme, um Sie zu bereden, mir zu folgen,« sagte er bittend; »denn ich darf es Ihnen nicht verhehlen, daß ich entschlossen bin nach meiner Ankunft in Cronberg um die Hand Ihrer Tochter zu werben. Wollen Sie diese Werbung nicht unterstützen?«
Frau Waldner schüttelte unter Thränen den Kopf, »Sarah kann mich nicht missen, Ellen noch weniger und was sollte ich dort? Marie ist glücklich auch ohne mich, und als ihre Mutter darf ich mich doch nicht der Welt zu erkennen geben. Der Vater, der sie nie gesehen, als sie noch bei mir war – trotz meiner Bitten kam er nie zu mir – muß ihr jetzt das ersetzen an Liebe, was er ihr entzogen, das hat er mir versprochen, wenn ich ginge, oder vielmehr wenn ich stürbe, denn er glaubte, ich nähme das Kind mit nach Amerika, und ich ließ ihn bei dem Glauben, so sehr fürchtete ich seine Härte, so wenig baute ich auf seine Liebe für sein Kind, das er niemals zu sehen verlangt hat.«
»Sie wollen also nicht mit mir nach Deutschland zurückkehren, um dort glücklich und frei bei Ihrem Kinde zu wohnen? denn wenn auch Marie meine Hand ausschlägt, so hat meine Mutter in ihrem Testament so mütterlich für sie gesorgt, daß Sie Beide in Wohlstand und Behaglichkeit leben können. Marie hat ein eigenes, bequem eingerichtetes Haus: warum wollen Sie in abhängigen Verhältnissen bei einer Fremden im fremden Lande bleiben?«
Frau Waldner – denn ihren wirklichen Namen hatte sie ja noch nicht wieder angenommen – beharrte bei ihrer Weigerung, und Gaston konnte nichts von ihr erlangen als das Versprechen, in einigen Jahren nachzufolgen.
Die Gründe, warum die arme Frau bei dieser Weigerung blieb, konnte Gaston nicht errathen. Sie waren: erstens eine religiöse Schwärmerei, welche ihr eingab, dafür, daß sie ihr Kind hülflos und arm verlassen, müsse sie nun auch sich versagen, Glück und Reichthum von diesem Kinde anzunehmen. Zweitens glaubte sie, Gaston würde der Anblick einer Schwiegermutter, die er in so untergeordneten Verhältnissen kennen gelernt, in seinem Glücke stören, das sie ihm so von Herzen gönnte, um der Liebe willen, die er zu ihrer Tochter trotz ihrer dunkeln Herkunft trug, und auch, weil er Violantens Sohn war, deren Andenken sie segnete, so dankbar, wie nie einer Todten Name gesegnet wurde.
Gaston konnte sich nicht entschließen, ihr das traurige Mißverständniß mitzutheilen, welches ihn an die amerikanische Küste getrieben, denn er fühlte zu wohl, welch' indirecter Vorwurf für sie darin lag, die durch die geheimnißvolle Art, womit sie ihr Kind seiner Mutter gebracht, anstatt ihrer edeln Gönnerin ihr Herz vertrauensvoll zu öffnen, den Sohn dieser Frau aus dem Hause seiner Ahnen getrieben, und obend'rein, wie sein Oheim ihn ahnen lassen, das Andenken dieser edeln Frau auf's Schmachvollste verdächtigt. Das alles hatte ja nur ein glücklicher Zufall, wie die Welt es nennt, verhindert. Gaston sah aber darin die Fügung der Vorsehung, die ihn um der Tugenden seiner verklärten Mutter willen aus seinem traurigen Wahne gerissen.
Frau Waldner versprach ihm den andern Morgen einen Brief für ihre Tochter zu schicken, in den die Momente eingeschlossen werden sollten, die Marien mit ihren Eltern bekannt machten. »Ich überlasse meinem Kinde,« sagte sie dabei, »Sie zum Vertrauten des Geheimnisses zu machen, aber nur in dem Falle, daß sie Ihre Gemalin wird, sonst nicht; denn ich habe ihrem Vater ein feierliches Gelöbniß abgelegt, daß nur sein Kind und einst dessen Gatte ihn kennen sollten. Nur unter dieser Bedingung händigte er mir unsern Trauschein aus, den ich außerdem nicht erhalten konnte, da mir der Geistliche ganz unbekannt war, der uns in seiner Schloßcapelle um Mitternacht getraut hat.«
Gaston gelobte ihrem Willen zu gehorchen; und nachdem er am andern Morgen das Paket, begleitet von einigen freundlichen Abschiedsworten Sarah's, erhalten, verließ er Washington und bald darauf Amerika auf einem ziemlich schlechten alten englischen Segelschiff. Da er aus Cronberg nur den Rest des ihm von seiner Mutter angewiesenen Reisegeldes mitgenommen, war seine Baarschaft so geschmolzen, daß er nicht in der Cajüte, sondern im Zwischendeck einen Platz nahm, und dabei noch hoffen mußte, in Liverpool von einem Banquier, der ihm auf seiner großen Reise Geld auf einen Creditbrief ausbezahlt, wieder erkannt zu werden, und von ihm eine Summe vorgestreckt zu erhalten, womit er das südliche Deutschland und seine Heimath erreichen könne; denn weiter wie Liverpool reichte sein Beutel nicht.
Die meisten seiner Reisegefährten auf dem Schiffe waren verunglückte Auswanderer, die mit dem letzten Rest ihrer Habe die Ueberfahrt nach Europa bezahlt hatten, weil sie, wie sich die Meisten ausdrückten, es in Amerika nicht aushalten konnten. Zu Hause hatten diese armen Menschen vor der Auswanderung Alles verkauft, und hatten jetzt nichts mehr, was ihr Eigen war; dennoch freuten sie sich auf die Luft ihres Vaterlandes und den Anblick ihrer heimathlichen Wälder, und weiter erwartete sie ja auch nichts. Gaston hoffte den meisten dieser Leute eine Heimath auf seinen Gütern bieten zu können, obgleich seine eigenen Aussichten keineswegs glänzend waren; denn er dachte nicht daran, seinem Oheim die Verwaltung der Güter wieder abzunehmen, die er ihm in jenem zurückgelassenen Document, das er natürlich in seinen Händen glaubte, gesichert hatte; noch weniger fiel es ihm ein, Marien seine Schenkung streitig zu machen, und zuweilen kam es ihm beinahe komisch vor, daß, ihre Hand zu erringen, nun beinahe für eine Speculation von seiner Seite gelten könnte. Schlug sie ihn aus, so blieb ihm nichts übrig, als eine Laufbahn im Staatsdienst.
Diese Reise im Zwischendeck übte übrigens den wohlthätigsten Einfluß auf seinen Charakter. Noch vor acht Tagen wäre es dem gräflichen Demokraten ein entsetzlicher Gedanke gewesen, in Gesellschaft dieser armen Menschen in das Zwischendeck zu steigen und mit ihnen den engen Raum und die schlechte Kost zu theilen. Jetzt, seit er wieder wußte, daß er der Sohn seiner Mutter war, kam ihm alles Andere kleinlich vor, und viele Dinge, die er früher als unentbehrlich geschätzt, verloren allen Werth in seinen Augen, während andere, die er mißachtet, ihn jetzt erst erhielten.
In Liverpool war der Kaufmann, von dem er früher Gelder erhoben, gestorben, und dem Nachfolger war er durchaus unbekannt. Es blieb ihm also nichts übrig, als an Marie zu schreiben und geduldig zu warten, bis sie ihm antwortete. Er schrieb an sie:
›Aus Amerika zurückgekehrt, verlange ich nichts sehnlicher, als nach Cronberg zurückzukehren und Ihnen meine Flucht abzubitten, habe aber kein Geld mehr. Sobald Sie mir welches an die beigefügte Adresse geschickt haben werden, reise ich ab. Versichern Sie mich auch schriftlich Ihrer Verzeihung, damit ich nicht voll Angst vor Sie trete. Sie werden mir Ihre Verzeihung nicht verweigern, wenn Sie bedenken, was ich bei einer Vorstellung gelitten, die alle Grundvesten meines Wesens erschütterte. Bis an mein Lebensende kann ich Gott nicht genug danken, daß er diesen furchtbaren Zweifel von mir genommen.‹
Früher noch als er erwartet, erhielt er die Antwort seiner Jugendfreundin; sie lautete:
›Gott sei Dank, Graf Gaston, daß Sie wieder da sind – da sind, ohne Ihren wahnsinnigen Verdacht. Undankbarster aller Söhne, wie konnten Sie an die Liebe der Gräfin zurückdenken, und darin die Liebe einer Mutter verkennen? Glücklicherweise habe ich, die Fremde, es besser gefühlt und erkannt, und deshalb die beiden Documente uneröffnet in den Händen des Doctor Meinhold gelassen, der darein willigte, sie bis zu Ihrer Rückkehr zu verwahren, nachdem ich ihn mit Ihrem Irrthum bekannt gemacht. Graf Eberhard weiß nichts; er frägt mich immer um Nachrichten von Ihnen, ist aber offenbar nie betrübt, wenn ich ihm keine geben kann. Sie finden also Alles, wie Sie es verlassen, bis auf Herrn Kerkholz, der Lehrer am katholischen Gymnasium der Residenz geworden ist. Ich habe mein kleines Departement für Sie auf's Treulichste verwaltet; möchten Alle so gethan haben!‹
Eine Ueberraschung.
In freudiger Bewegung war Dorf und Schloß Cronberg; für heute war von dem »Fräulein,« wie Marie in der ganzen Umgegend hieß, die Rückkehr des jungen Herrn angekündigt worden. Die Sonne beleuchtete hell die Gegend und Marie stand in bunten Kleidern, die sie zum erstenmal seit dem Tode der Gräfin wieder angelegt, an einem Fenster des Schlosses, dann trat sie auf den Balcon, weil sie von dort eine weitere Strecke überblicken konnte, denn die Ungeduld ihres Herzens ließ sich nicht länger zügeln. Eberhard war nicht da; er hatte sich bei Marien durch ein paar Zeilen entschuldigt, in denen er ein Unwohlsein angab, welches ihn verhindere auszugehen; aber er sprach die sichere Zuversicht aus, daß Gaston zu ihm kommen werde, da er ihn so bald als möglich zu sprechen wünsche. Marien war seine Abwesenheit lieb; sie fühlte, daß derjenige, der gegen Gaston den fürchterlichen Verdacht ausgesprochen, der ihn vom väterlichen Schlosse vertrieben, ihm unmöglich auf dessen Schwelle eine angenehme Erscheinung sein könne.
Glockenläuten, Böllerschüsse ließen sich jetzt vernehmen und auf einem Stück der Landstraße, auf welches die Bäume des Parkes eine Durchsicht gestatteten, erhob sich eine Staubwolke; dieß mußte Gaston's Wagen sein, der eingeholt und umgeben von einigen ihre Ackerpferde tummelnden jungen Bauern, wirklich bald anlangte.
Mariens Herz klopfte heftig. So lange Gaston im Schlosse war, hatte sie ihm nie andere Gefühle als die einer zärtlichen Schwester gewidmet, aber seit seiner Flucht hatte sie so viel Kummer und Sorgen um ihn gelitten, sie hatte mit so heißer Sehnsucht seine Rückkehr erwünscht, mit so innigem Mitleid sich in seine Leiden versenkt, daß jenes frühere ruhige Gefühl sie in seiner Gegenwart nicht mehr erfüllen konnte. Wenn ein junges Mädchen während eines ganzen Jahres ihre Gedanken mit dem Bilde eines jungen Mannes zu beschäftigen durch die seltsamsten Schicksale gezwungen wird, so ist es natürlich, daß dieses Bild zuletzt nicht mehr aus ihrem Herzen weicht, auch wenn die Verhältnisse sich ändern und alle Sorgen um ihn schwinden.
Sie ging die Schloßtreppe hinab in den Hof; Marie, die an Alles dachte, hatte Gaston seinen Wagen nebst seinem alten Kammerdiener bis zur nächsten Stadt entgegen geschickt; der Erbe der Grafschaft sollte nicht in einem schlechten Miethwagen seinen Einzug halten, und weitgeöffnet standen die blumengezierten eisernen, reich geschnörkelten Thorflügel.
Der Wagen hielt vor der überbauten Treppe. Ein großer, schlanker, bleicher Mann, der Marien so fremd vorkam, als habe sie ihn in ihrem Leben nicht gesehen, sprang heraus und ergriff ihre Hand und führte sie an seine Lippen. – Sie zitterte am ganzen Körper, sie versuchte zu reden, sie bewegte wiederholt die Lippen, aber kein Ton kam heraus. Nur ihre Augen, die ängstlich in den Augen des Mannes forschten, hatten eine Sprache. Da lächelte er, und an diesem Lächeln erkannte sie ihn, wie er sie damals an ihrer Stimme erkannt. Sie sagte rasch: »Gott sei Dank, nun erkenne ich Sie wieder, an der Aehnlichkeit mit Ihrer Mutter – das war ihr Lächeln!«
Die Umstehenden hatten eben auch eine Aehnlichkeit gefunden, aber wunderbarerweise zwischen den beiden jungen Leuten selbst. »Man sollte meinen, es wären Geschwister,« sagte der alte Kammerdiener zu Georginen, die Gaston freudig begrüßte und der er die Hand schüttelte, dann hatte er noch für jeden der alten Diener ein herzliches Wort und bot endlich Marien den Arm und führte sie die Schloßtreppe hinauf. Als sie oben im Saal allein waren, faßte er ihre beiden Hände und ihr innig in die Augen blickend, sagte er, indem tiefe Bewegung in seiner männlichen Stimme zitterte: »Marie, wie schäme ich mich vor Ihnen! Ich kleingläubiger, erbärmlicher Thor! Ihr schönes Herz ließ sich nicht beirren, aber ich Wahnsinniger lieh der Verdächtigung des edelsten Wesens, das je gelebt, mein Ohr!« – »Nun ist ja alles vorüber!« flüsterte Marie, indem sie sich losmachte, und in großer Verlegenheit, nur um etwas zu sagen, setzte sie hinzu: »Ihr Oheim hat mir aufgetragen, Ihnen zu sagen, daß ein Unwohlsein ihn hindere herüberzukommen und er Sie bitte, ihn so bald als möglich zu besuchen.«
Gaston zog die Stirn in Falten; »der Gedanke an meinen Oheim verbittert mir allein die Freude meiner Rückkehr, wenn ich auch um keinen Preis seine Verdächtigung meiner Mutter für eine absichtliche Täuschung halten mag.« – »Ich halte sie dafür,« sagte Marie mit jener tiefer empfindenden, Frauen eigenthümlichen Lebhaftigkeit, sobald ihr Rechtsgefühl verletzt wird. »Ich halte sie dafür, ich habe sie von Anfang an dafür gehalten und sein ganzes Benehmen während Ihrer Abwesenheit hat diesen Verdacht in mir nur bestärkt.« – »Reden Sie jetzt nicht von ihm! Ich will ihn auch heute nicht sehen; kein anderes Gesicht als das Ihre und die der alten treuen Diener meiner Mutter sollen an diesem schönen Tage sich in meiner glücklichen Seele spiegeln.«
Gaston ging mit ihr nun in jedes Zimmer, in jeden Gang des Parkes und begrüßte mit innerlichem Jubel die Erinnerungen seiner Kindheit, dieses Schloß, das er einst verachtet und das ihm nun wie ein schmerzlich vermißtes, wiedergefundenes Kleinod erschien. Wen wird es wundern, daß er am Abend desselben Tages auch das beste Kleinod fand – Mariens Herz! Aber sie sträubte sich, sie wollte ihm die Hand streitig machen, die er fest hielt, und obgleich sie Gaston an diesem Tag durch hundert Zeichen ihre Gegenliebe verrieth, wollte sie sich ihm nicht verloben.
»Nein, nein,« rief sie weinend, »um keinen Preis der Welt! Ich könnte nicht die Verachtung ihrer stolzen Verwandten ertragen, die den armen Findling niemals in ihre gräfliche Familie aufnehmen würden.« – »Wenn ich nun aber,« sagte Gaston lächelnd und zu dem alten Ton ihrer Kindheit zurückkehrend, »wenn ich nun aber diesen Einwand meiner kleinen Gouvernante auch zu beseitigen vermag? Wie dann?« Sie sah ihn groß an. »Wenn Sie etwas über meine Herkunft wissen, so werden Sie doch nicht die Grausamkeit so weit getrieben haben, mir das vorzuenthalten?« – »Ja, Marie, so grausam bin ich gewesen. Ich habe Deine Herkunft in Amerika erfahren.« – »Und warum verschwiegen Sie mir das bis jetzt?« – »Weil ich zu egoistisch war. Erst wollte ich Dich finden, ehe Du Dich selber fandest. Hätte ich Dir, was ich erfahren, gleich mitgetheilt, so würde es Dein ganzes Innere erfüllt haben und ich wäre darüber in den Hintergrund getreten. Ich wollte aber heute wenigstens bei Dir die Hauptperson sein.«
Marie reichte ihm lächelnd die Hand. »Ich verzeihe – aber nun auch die Aufklärung.« – Gaston zog sie neben sich: »Ich habe Deine Mutter kennen lernen.« – »Meine Mutter! Herr des Himmels! Meine Mutter lebt? Wo, wie?« Und dann rief sie, in Thränen ausbrechend: »Das ist des Glückes zu viel! Ich habe eine Mutter, und sie lebt!«
Gaston holte aus seiner Reisetasche das Paket, das ihm Frau Waldner mitgegeben. Sie erbrachen es. Erst fielen ihnen eine Menge vergilbter Briefe in die Hände. Marie las, Gaston hielt sie umschlungen und blickte in das Papier. – Es waren Liebesbriefe; die Briefe des Mädchens waren mit einem F., die des Liebhabers mit einem E. unterzeichnet. Er schrieb, um sie zu einer heimlichen Trauung zu bewegen; da die Ehe seines Bruders kinderlos sei, so habe er für sie und sich die beste Aussicht für die Zukunft; für jetzt aber sei es ihm unmöglich sich öffentlich zu vermählen, da sie wohl von seiner Schwägerin erfahren haben werde, daß er ganz überschuldet sei.
Marie legte die Briefe weg und nahm ein Blatt zur Hand, welches die Ueberschrift: ›Für meine Tochter‹ trug. Es begann:
›Aus jenen Briefen wirst Du, mein Kind, die Stimme der Verführung vernehmen, die mich verlockte. Ich folgte ihr leider nur zu gerne; es war meine erste, meine einzige Leidenschaft! Ich entfloh, wir wurden auf seinem Schloß getraut und dort lebte ich in völliger Verborgenheit, aber bald theilte ihm sein älterer Bruder, der Majoratsherr, mit, daß seine Gemalin Mutterhoffnungen hege. Mein Gemal war über diese Nachricht außer sich. Er hoffte aber sündhafterweise, daß seine Schwägerin, die kränklich war, sterben oder ihrem Manne eine Tochter schenken werde. Seine gottlosen Hoffnungen schlugen fehl, und als ich nun selbst einer Tochter das Leben gab und zwar an demselben Tage, an welchem seine Schwägerin einen Sohn gebar, wollte er verzweifeln.‹
Marie hörte auf zu lesen; sie sah in Gaston's Gesicht, eine fürchterliche Angst schnürte ihre Kehle zusammen. Aus Gaston's Augen las sie keinen Trost, auch in ihm stieg ein trauriger Verdacht auf. Marie griff nach dem nächsten Papier, es war der Trauschein ihrer Eltern. Ihre Ahnung traf ein, da stand es: ›Graf Eberhard von Cronberg.‹
Graf Eberhard ihr Vater! das blühende, starke Mädchen erlag dieser Entdeckung, zum erstenmal in ihrem Leben wurde sie ohnmächtig. – Als sie wieder zu sich kam, fand sie Georginen um sich beschäftigt, Gaston war hinausgegangen, denn auf ihn selbst machte es einen fürchterlichen Eindruck, daß dieser herzlose, unnatürliche Vater seiner Geliebten – sein eigener Oheim war. – Nie hatte er ja sein Kind zu sehen verlangt, nie sich nach ihm erkundigt, es hülflos, wie seine Frau ihn glauben ließ, über das Weltmeer ziehen lassen, während er glänzende Gelage gab und fremde Menschen mit seiner Gastfreundschaft überhäufte.
Als Gaston zu Marien zurückkehrte, war sein erstes Wort: »Er muß Dich anerkennen!« Marie wendete sich schaudernd ab. Endlich sagte sie: »Ich will im Gebet meine Tage zubringen, um Gott um Verzeihung zu bitten, daß ich meinen Vater nicht lieben kann; ich will mein Hab und Gut den Armen schenken und jedem Bettler eine Tochter sein, aber diesem – niemals!«
Sie ging hinaus und schloß sich in ihr Zimmer ein, aber bald kam sie wieder, um Gaston nach ihrer Mutter auszufragen, und nur das Versprechen, das er ihr gab, sie nach Amerika bringen zu wollen, sobald sie ihm ihre Hand gereicht, konnte sie abhalten, jetzt schon allein zu ihrer Mutter zu eilen, der sie eine Liebe entgegentrug, die durch die immerwährende Entbehrung jedes ihr verwandten Wesens sich zur Leidenschaftlichkeit steigerte.
Am folgenden Morgen ritt Gaston zu seinem Oheim. Marie verbot ihm, diesem auch nur mit einer Sylbe zu verrathen, daß sie seine Tochter sei, und er versprach ihr auch zu gehorchen, aber er nahm doch den Trauschein und Mariens Taufschein unbemerkt zu sich, denn ihm dünkte, als könne es doch einen Fall geben, wo er derselben bedürfen möchte. Marie sollte nichts davon erfahren, und daß Eberhard nicht schweigen werde, brauchte er nicht zu befürchten.
Als er bei seinem Oheim eintrat, war er überrascht von der Kälte des Empfangs. Aber sich selbst bezwingend, antwortete er auf seine Frage, was ihn zurückführe? im gewöhnlichen Tone: »Die Einsicht, wie kindisch es war auf eine von Ihnen hingeworfene Bemerkung so viel Gewicht zu legen, da ich aus vielen Umständen fest überzeugt sein mußte, das echte Kind meiner Mutter, der Gräfin, zu sein.« – »Es freut mich,« sagte Eberhard eiskalt, »diese Ueberzeugung aus Deinem Munde zu vernehmen, aber dies hindert mich keinen Augenblick, auch meiner Ueberzeugung zu folgen. Ich bin bei näherer Betrachtung auf Umstände gestoßen, die meiner Annahme sehr günstig sind, und wenn mir nicht die Güter freiwillig unter irgend einer ostensiblen Form, um den Anstand zu wahren, für die Dauer meines Lebens zur Nutznießung überlassen werden, so bin ich entschlossen vor die Gerichte des Landes mit dem Begehren zu treten, mir den Beweis zu gestatten, daß Graf Gaston von Cronberg ein untergeschobenes Kind und Fräulein Marie – wie nennt Ihr sie? das Kind meines Bruders ist.« – »Marie? Ich kenne Mariens Eltern!« – »Wer soll das sein?« fragte Eberhard hastig. »Der Name der Mutter war Felicitas von Werther,« sagte Gaston langsam. – Ueber Eberhard's ganze Gestalt zuckte es wie ein Blitzstrahl, den scharfen Blick seiner Augen hielt er auf den Boden geheftet, seine Hände hielt er fest auf den Tischrand gepreßt, aber er sagte nichts.
Gaston fuhr fort: »Mariens Vater, ihr legitimer Vater, heißt Graf Eberhard von Cronberg.« – »Das ist eine Lüge!« schrie ihn Eberhard an. Gaston griff in die Tasche und legte den Trauschein und den Geburtsschein offen vor seinen Oheim hin.
Es war einen Augenblick, als wolle er wie ein Tiger darüber herfallen und sie zerreißen, aber er bezwang sich und fragte nur: »Was soll das?« – »Nichts, als Ihnen die richtige Ansicht der Dinge beibringen, denn Marie, der ich gestern Abend das Geheimniß entdeckt, will nicht, daß Sie es erfahren. Sie ist zu stolz, um sich einem Vater aufzudrängen, der sie schon bei der Geburt verlassen hat. Nie darf sie erfahren, daß ich es Ihnen verrathen.«
Eberhard schwieg trotzig. Gaston ging nach wenigen förmlichen Worten, und schon am Abend desselben Tages brachte ihm der Castellan von Neu-Cronberg die Nachricht, daß Graf Eberhard abgereist sei, und eine Vollmacht für Doctor Meinhold zurückgelassen habe, der in seinem Namen Gaston die Güter übergeben solle.
Eberhard hatte sich wirklich in den Kopf gesetzt, Gaston sei ein untergeschobenes Kind, und zwar seit Mariens räthselhafter Erscheinung im Schlosse, und Gaston's kindische Versicherung, daß er sich auf seinem Platze in der Welt unglücklich fühle, gab ihm den Gedanken ein, diesen Verdacht gegen ihn auszusprechen. An sein Kind dachte er schon längst nicht mehr und glaubte es seit Jahren mit seiner unglücklichen Mutter in Amerika verschollen. So lange er die Güter unbeschränkt für seinen Neffen verwaltete, fiel es ihm nicht ein, seinen Verdacht auszubeuten, überdem hatte er eine solche unbezwingliche Scheu vor Violanten, daß er, so lange sie lebte, niemals etwas gegen sie unternommen haben würde, wenn er auch durch seinen Umgang mit unwürdigen Frauen den Maßstab für ihren Werth längst verloren hatte. Als er aber die Güter abgeben und in eine Stellung zurücktreten sollte, die ihm schon während des Lebens seines Bruders so nichtig geschienen, da war es etwas anderes! da beschloß er, wie er mit satirischem Lächeln zu sich selber sagte, den ›Fluch und das Unglück‹ von Gaston zu nehmen. Ueberdem hatte er die Grafschaft auf eine Art verwaltet, daß jede Rechenschaftsablage ihm beinahe zur Unmöglichkeit geworden war. Herr Goldfuß, statt des unmündigen Gaston Interesse zu wahren, hatte, durch einige ihm von Eberhard verschaffte Titel und Vortheile bestochen, zu dessen unverantwortlicher Leitung die Augen geschlossen. Eberhard hatte hier nur gehandelt wie sein ganzes Leben lang in allen Verhältnissen: weil er herzlos war, leichtsinnig, und weil er leichtsinnig war, gewissenlos. Was man unter einem Bösewicht versteht, war er keineswegs; er hatte nie das Böse um des Bösen willen gethan, aber auch eben so wenig das Gute um des Guten willen. Er gehörte nur zu jener Masse von begabten Menschen, deren Geist ihnen zu weiter nichts dient, als zum Werkzeug, die Genüsse der Sinne zu rafiniren.
Kurze Zeit darauf wurden Gaston und Marie in der stillen Schloßcapelle getraut. Als er nun, wie er ihr versprochen, mit ihr nach Amerika reisen wollte, um ihre Mutter zu holen, und sich anschickte, mit Hülfe des alten Meinhold seine Geschäfte vorher zu ordnen, fand er ein solches Chaos, daß eine Entfernung ihm zur Unmöglichkeit wurde; überdem gebot ihm Eberhard's jahrelange Verschwendung, trotz seiner reichen Einkünfte, Sparsamkeit, denn es bedurfte voraussichtlich lange Zeit, um die Ordnung herbeizuführen, welche sein Vater bei seinem Tode in allen Zweigen hinterlassen. Marie mußte sich deshalb begnügen, einen treuen Diener, welcher ihre Mutter zurück begleiten sollte, nach Amerika zu schicken.
Am selben Tage, wo Gaston's erstes Kind, ein Sohn, getauft wurde, traf die Nachricht von Eberhard's Tode ein. Er war auf einem Gesandtschaftsposten in Italien gestorben. Marie wollte selbst jetzt nicht zugeben, daß ihre Herkunft bekannt werde, denn Niemand wußte davon, da ihre Mutter auch nach der Rückkehr in das Vaterland den angenommenen Namen Waldner fortführte. Als aber nach Jahren ihre älteste Tochter den Sohn einer stolzen, verwandten Familie liebte und dessen Eltern die Verbindung nicht zugeben wollten, wegen der dunkeln Geburt der Mutter der jungen Gräfin, da entschloß sie sich endlich ihrem Kinde zu lieb und erlaubte ihrem Gemal, in den Augen der Welt Alles aufzuklären.
Am Tage darauf führte Gaston sie vor den alten Familienstammbaum, der am obern Ende des Saales hing, und fragte lächelnd: »Sieh hier, das Feld, wo bisher Dein Name: ›Marie‹ so einfach stand, paßt er jetzt nicht besser zu den andern reichbeschriebenen Feldern: ›Marie, Tochter des Grafen Eberhard von Cronberg und der Freiin Felicitas von Werther?‹« – Sie las es laut, dann sagte sie kopfschüttelnd: »Nur weil es sein mußte! Ich werde den weißen Raum in meinem Felde doch vermissen, denn jedesmal, wenn ich ihn erblickte, erinnerte es mich an die weise Lehre: Keiner weiß, was ihm noth thut!« – »Erkläre mir das,« sagte Gaston. – »Nun wohl,« erwiederte sie, »Du schlugst immer Deine hohe Geburt so gering an und wünschtest oft, in einer Hütte geboren zu sein, um Dir selbst Dein Loos zu danken; als Dir aber der Glaube an diese Geburt entzogen wurde, sank damit Dein bester Halt. Ich, seitdem ich denken konnte, hielt es für mein größtes Unglück, meinen Vater nicht zu kennen, und als ich ihn kannte, wünschte ich mir meine frühere Unwissenheit zurück. Jeder ist sich selbst ein Räthsel!«