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Oft habe ich mir in Afrika die Frage vorgelegt: in welcher Art von Menschenhänden in diesem Erdteile vor allem die Macht liege. Ich sah in hoher Lebensstellung nur wenige starke Menschen, die aus ihrem Lebenskreise heraus mehr als die Mehrzahl – aber viele Schwache, die ihre Möglichkeiten überhaupt nicht zu erfüllen vermochten. Drei Lebensformen tragen aber auch dort die höchste Ausdehnungsfähigkeit in sich: die des Priesters, die des Königs und – die des Dienenden.
Sicher ist es ja, daß in größerem Ausmaße keine Kraft gehandhabt, keine Macht entfaltet werden kann, die dem einzelnen nicht entgegengebracht wird. Das Rotafrika der Hamiten und das Schwarzafrika der Äthiopen müssen deshalb verschiedene Wesensarten ihrer Machtbildung entwickeln. Der hamitischen Erde gehört Fatalismus, Duldertum; sie erlebt eine Aufspeicherung dämonischer Kräfte. Die Überfülle entlädt sich gelegentlich im Fanatismus, plötzlich, orkanartig, plutonisch (Paideuma, S. 129). Die Steigerung führt dann zu aufbrausenden Erscheinungen, wie etwa die des Mahdi im Nilgebiet, in dem als Ausdruck höchster Macht Priestertum und Herrschaft in einer Person zusammenflossen. – Das heißt also: die Persönlichkeit empfing die Kraft aus der Menge, schloß sie in seiner einen Hand zusammen und handhabte sie als wuchtige Macht, die ihrem Wesen nach ganz den Eigenarten, die alle beherrschten, entsprach.
Entgegengesetzt hierzu äthiopische Lebensform, äthiopisches Kräftespiel, äthiopische Machtentfaltung. Das Dasein wallt hier im Kurvenlaufe erst sich steigernd bis zur höchsten Blüte und organischen Weiterentfaltung, dann sich in das Ersterben senkend dahin. Der fanatisch-gewaltsamen Explosion steht infolgedessen die ebenmäßig sich auswirkende Pietät gegenüber. Die Kräfte fließen hier demnach zu Ständigem und Erhaltendem. Machtentfaltung hat weder Ekstatisches noch Blendendes, weil die Kräftespeisung eine ausgeglichene ist. – Daher also steht der nach außen großartigen Erscheinung eines hamitischen Mahdi eine ganze Reihe äthiopischer Priester gegenüber, deren hervorragender Bedeutung aber niemals die glänzende Pracht jenes Vielgenannten entsprach.
Aber unter allen Priestern, die ich kennen lernte, wurden mir sinnvoll vor allem nicht die hamitischen und nicht die äthiopischen, sondern die atlantischen, das heißt die der westafrikanischen Geheimbünde. – Von einem dieser will ich hier erzählen.
Die afrikanischen Völker der atlantischen Küste zeichneten sich seit der mittelalterlichen Entdeckung durch eine Kultur aus, die aus mehreren sehr alten Ergüssen ferner Länder zu einer verschmolzen war, die im Laufe der Zeit einen ganz besonderen Charakter und Typus gewonnen hatte. Zu ihren hervorragenden Sondermerkmalen wurde schon lange eine soziale Sonderbildung gerechnet, die als Geheimbünde eine weittragende Bedeutung gewonnen haben. Diese Bünde stellen eine Organisation ›würdiger‹ Männer dar, die das alte Herkommen wahren, die Recht sprechen und sich gelegentlich als Vehme auftun, die ›das Volk‹ durch religiöse Zeremonien, zumal durch möglichst schauerliche Maskentänze in Respekt erhalten, die die Jünglinge erziehen und sie gewissen Initialschrecken unterwerfen, die aber neben der Zucht des ganzen auch nicht den eigenen Vorteil vergessen. Das Feld der Betätigung dieser Bünde ist demnach ein recht ausgedehntes und die Weise, wie sie das ihnen zustehende Land bewirtschaften, eine sehr abweichende. Die einen Bünde ordnen in großen Zügen politische Beziehungen und bilden hierzu sogar Truppen aus. Andere widmen sich nur der Jugenderziehung, dritte nur der Inschrankenhaltung üppig ins Kraut schießender Frauenemanzipation. Vierte endlich gedenken nur des Handels und bilden Unternehmungen geschäftlicher Natur aus, deren Profit die Teilhaber je nach dem Grade, bis zu dem sie sich aufsteigend durch Beiträge emporgeschwungen haben, ausschütten.
Je nach dem Zweige, den die Bünde besonders kultivieren, tritt das religiöse Moment des Kultus und demnach das mit ihr verbundene Priestertum hervor. Da, wo seine Rolle die der Hauptakteure im Volksleben darstellt, ist mit ihm ein streng konservativer Sinn verbunden, der danach trachtet, alte Anschauung, alte Traditionen, alte Sitten und alte Vorrechte bis zum äußersten zu verteidigen. Solchergestalt entstehen wahre Museen archaistischer Kulturgüter, die für unsereinen dann Fernblick in ungeahnte Tiefen der Kulturbildung gewähren. Kein Wunder also, daß ich überall besonders emsig danach trachtete, den Vorhang in dem Tempel so altehrwürdiger Institutionen zu lüften, daß es stets, wo immer ich auch Nachrichten der Existenz solcher Einrichtungen erhielt, mein erstes Streben war, in die sakralen Geheimbünde aufgenommen zu werden. Und so ist es nur selbstverständlich, daß ich im Laufe der Zeit Mitglied ebensovieler afrikanischer Geheimgesellschaften wurde, wie so mancher gute Philister in Europa, der sich rühmen kann, ebensowohl am Kegelklub, wie am Gesangverein, an der Lesegesellschaft wie an der Harmonie und dann noch an der Loge seiner Heimat Anteil zu haben.
Da ich nun nachgerade Bürger beider Erdteile geworden bin, somit Einblick in beiderlei Art gewonnen habe, kann ich wohl sagen, daß eigentlich und äußerlich genommen, ein so großer Unterschied in »dieser sozialen Form« Europas und Afrikas nicht besteht. Hier in Europa schneidet man im behaglichen Sichgehenlassen etwas schneller die Ehre ab, dort den Kopf. – Und letzteres ist mir zuweilen aristokratischer und ehrlicher erschienen. –
Besonders in zwei Gebieten ist mir die Wucht der Bünde und ihre Eigenart bewußt und ergebnisvoll geworden; bei den Mande am oberen Niger und bei den Joruba nahe der Mündung des gleichen Stromes. Die Mande sind kastenmäßig geschichtet: Adel, Barden, Schmiede und Hörige. Die Schmiede sind die volkstümlich Stärksten. In ihren Händen liegen die Amtsführung von Nama, Komma, Kumang, Dierra oder wie die großen Geheimbünde alle heißen mögen. Um ein Bild von dem Innenleben und der Auswirkungsfläche, der Bünde zu geben, lasse ich die Schilderung der Institution der Kumang der Bosso am oberen Niger folgen (vgl. Atlantisausgabe, Bd. VII).
In alten Zeiten hatte der Kumang eine unbegrenzte Macht, aber dann wurde er niedergedrückt und seine Einflußsphäre begrenzt, denn es starben zu Zeiten der großen Kumangfeste allzu viele Menschen. Diese Feste wurden alle sieben Jahre einmal gefeiert, dann aber mit außerordentlichem Pomp, so daß im Lande große Aufregung herrschte. Niemals erhielten etwa weibliche Wesen oder Knaben oder auch nur Jünglinge und Männer das Recht, der höchsten Altersstufe des Bundes nahe zu kommen, wenn diese ihr Fest beging. Lediglich alte Männer wurden darin aufgenommen und waren daran beteiligt. Und was die Vornehmen dabei erlebten, das spielte sich auf einem Platze im Walde ab. Wollte ein Alter eintreten, waren die andern damit einverstanden, so mußte er einen schwarzen Stier, sowie eine Kalebasse mit Hiersebier bringen. Die Opferung des Stieres war eine sehr eigentümliche; er ward nämlich auf einen Palmenbaum gezogen und dort oben getötet.
Sollte das siebenjährige Fest abgehalten werden, so sandte der Mare, der Leiter oder Verwahrer des Kumang, Boten an alle Mitglieder, also nach allen Richtungen. Jeder der Alten rüstete dann sein Festkleid, das aus gelbem Stoff gefertigt war und vor allem aus Hose, Überhang und Mütze bestand. Die Mütze war in Reihen mit vielen Amuletten bedeckt. Außerdem hatte jeder seinen zeremoniellen und würdigen Fliegenwedel, einen Ochsenschwanz, der mit rotem Kopfe und einer Kette geziert war. Die Kette ward über den Arm gestreift, so daß der Wedel, wenn nicht bewegt, wie ein Fächer herabhing. Außerdem brachte jeder noch seine Gabe für die Sitzung mit; das waren Schlachttiere und berauschende Getränke. So ausgerüstet, machte er sich auf den Weg zum Sitzungshause.
Der Mare, der Verwalter und Leiter der ganzen Veranstaltung, hatte inzwischen den Platz, der den Gelagen und Tänzen diente, neu hergerichtet. Er selbst nahm auf einer Menschenhaut, und zwar auf der Haut eines Albino, Platz, über die das Fell eines schwarzen Schafbockes ausgebreitet war. Darauf kam nun einer der Alten nach dem andern, begrüßte den Mare und lieferte seine Gaben ab. Auch war jeder so vorsichtig, seine magischen Mittel mitzubringen und bereit zu halten. Die Alten ließen sich um den Mare herum nieder, und nun wurde beschlossen, Speisebereitung besorgt und dann geschmaust und gezecht. Sieben Tage lang währte solches Gelage, und während dieser siebentägigen Schlemmerzeit war noch nichts von den eigentlichen Masken der Kumang zu sehen. Ich irre aber wohl nicht, wenn ich die verschiedenen nicht ganz klaren Angaben meiner Berichterstatter dahin deute, daß man sich während dieser sieben Tage schon darüber einigte, wer etwa hinweggeräumt werden sollte oder wie diese oder jene Volksangelegenheit durch Eingriff des Kumangam besten zu regeln sei. An einem Mittwoch wurde die siebentägige Schlemmerei abgeschlossen, und dann legte jeder Alte sein gelbes Staatskleid an, um sich würdig auf das Kommende vorzubereiten.
Auf dem Zusammenkunftsplatze ragte ein Jagobaum empor. Der Jagobaum gilt als Mutter des Kumang. Aus seinem Holze wird die Maske des Bundes geschnitzt. An dem Fuße dieses Baumes war auf Anordnung des Mare eine Grube ausgehoben worden, in der wurde der Kumang mit Maske und Federkleid untergebracht. An dem interessanten Mittwoch stieg sie etwa gegen 3 Uhr zum Tageslicht empor. Zuerst wurden Opfergaben an Kola, Mehl, Blut der geschlachteten Ochsen und auch von den magischen Mitteln darauf geworfen, und dann begann der Kumang-Dialli, der Vorsitzende des Mahles, sein feierliches und heiliges Lied zu singen. Der Text begann mit den Worten: »Loch, Kumang, daneben Baum, (eine) Blüte blüht an, (eine) Blüte knospt.« – Während das gesungen wurde, regte es sich im Loch, und langsam erhob sich die Federmaske in der Grube. Die Kumangmaske begann zu schreien. Der Kumang begann einige Worte zu singen, und die Leute im Kreise antworteten. Die Alten saßen zunächst in einem Kreise, das Gesicht alle nach innen, den Rücken nach außen gewendet. Sie klatschten zum Tanze der Maske in die Hände, aber keiner durfte sich bei Todesstrafe umsehen. Um diesen Kreis tanzte inzwischen der Kumang. Aber jetzt schon starben der eine oder der andere unter dem gewaltigen Andrängen der richtenden Macht, die dem Kumang innewohnte.
Der Kumang selbst war erst klein wie ein Kind von zehn Jahren, dann aber wuchs die Maskengestalt mächtig empor zur Höhe der Palmbäume. Er wechselte beim Rundtanze beständig die Größe, die Form, die Geste, wie ich das selbst in Kumi sehen und mein Zeichner es skizzieren konnte. Er rückte empor und sank zusammen. Er wechselte die Form seines Federkleides und schien bald größer, bald kleiner, bald weißer, bald grauer. Er tanzte schon an diesem Mittwoch, dem ersten Tage seines Auftretens bis in die Nacht hinein, und nachdem die erste Reigenlinie um den Kreis der Vertreter gezogen war, traten diese auseinander, und jeder hatte nun das Recht, nach der Zukunft dieser oder jener Sache zu fragen, nach dem Schicksal dieses oder jenes Menschen. Und der Kumang erteilte Antwort und Auskunft über alles, was in den sieben Jahren bis zum nächsten Feste vorkommen würde.
Dieses beides aber schien der wesentliche, integrierende Bestandteil im Treiben der Maskierten der Altersklasse gewesen zu sein: prophetischer Tanz und soziales »Reinemachen«. Man konnte fragen und war sicher, daß die Maske über alles Auskunft gab: auf Fragen nach Krankheit, Tod, Besitz und Wohlfahrt, Aufkommen und Niedergang der Familien, ja, die einzelnen Angehörigen der verschiedenen Berufe erhielten Bescheid und vielfach Ratschlag, Jäger und Fischer, Ackerbauer und Viehzüchter. Das währte drei Tage lang hintereinander, an einem Mittwoch, Donnerstag und Freitag. Und an diesem Freitag sagte die Maskengestalt endlich zum Schlusse dem Mare, dem Verwalter und Leiter des Kumang, ob er noch bis zur nächsten Tagung, also noch sieben Jahre, leben würde. Dabei war es gleichgültig, ob der Mare etwa mitten oder am Anfange oder am Ende des nächsten Festes sterben würde. Er wurde aufgefordert, nach Hause zu gehen, das Kleid abzulegen und es einem Manne zu übergeben, den der Kumang gleichzeitig als Nachfolger ernannte. Das war das letzte wichtige Ereignis, das während der Tagung des Kumang vorkam.
Im übrigen fand da, wie gesagt, ein gründliches soziales Reinemachen statt und täglich starben während der Tagung sowohl unter den Bewohnern der dem Zusammenkunftsplatze nahe gelegenen Ortschaften, als unter den Leuten im Walde selbst mehrere. Man geht natürlich nicht fehl, wenn man annimmt, daß diese Sterblichkeit eine Folge der während der ersten sieben Tage des Gelages stattgefundenen Altenbesprechung gewesen sei. ~
So erkundet, erforscht und aufgezeichnet anno 1908 am oberen Niger. Die Macht priesterlicher Bundherren erschließt sich aus solchen Berichten, wenn auch zu noch so starken Eindrücken wirkend, doch nur der Ahnung. Ich sollte aber persönliche Bekanntschaft machen mit der ganzen Wucht priesterlichen Vermögens, das sich aus derartigen Bildungen ergibt. Dieses war im Jahre 1910, und zwar im Jorubaland östlich der Nigermündung – bei jenem merkwürdigen Volke, das uralte Traditionen und Sitten, Anschauungen und Gewerbe durch die Jahrtausende über einen edlen, archäologische Belegstücke bergenden Boden bewahrt hat. In diesem Jorubagebiet gibt es wohl Könige und machtvolle Gemeindefürsten. Die Fürsten jeder Art waren von jeher hochangesehen. Und doch stehen sie unter einer unmerklichen Volksbehörde, unter der Gemeinschaft der Ogboni.
Diese Ogboni sind die ›Alten‹, die Ältesten der vornehmsten Familien, die durch unabwendbare Opfer untereinander zum Zusammenwirken verbunden sind. Nur solche Leute werden aufgenommen, die durchgreifenden Korpsgeist und unbedingten Gehorsam an den Tag legen, und die sich als zweifellos zuverlässig erweisen. Man kann den Bund eine ›Kopfabschneidergesellschaft‹ nennen, eine Vereinigung von skrupellosen Leuten, die mit größter innerer Ruhe alle unbequemen Elemente fehmeartig mit Gift und Messer aus dem Wege räumen, die angesehene Parvenüs ausrotten und ihre Besitztümer annektieren, eifersüchtig untereinander die Ebenmäßigkeit des Einflusses abwägend, und vor allem den Städte- und Staatengewaltigen, den Bale, an ihrem Bändel tanzen lassen wie einen Hampelmann. Dieser Bale wird von ihnen gewählt, wird von ihnen instruiert, geleitet, höchst scharf beobachtet und glatt aus dem Wege geräumt, wenn es ihm einfallen sollte, selbständig ohne genaue Berücksichtigung des Interesses und der Würde des Ogbonibundes irgend etwas zu unternehmen. Wohl wollen die Ogboni, daß jeder diesem Instrumente mit allem Respekt und mit vieler Zeremonie huldige. Sie gehen darin mit Kotau und Bodenkuß stets voran; aber wehe, wenn das Instrument dieser Ogboni sein Grenzgefühl verliert, wenn es eine eigene Macht, einen eigenen Willen entwickeln will! Sofort wird ihm ein ominöses Zeichen zugesandt, und wenn er sich daraufhin nicht selbst entleibt, so erfolgt seine, des armen Bale, Vergiftung sehr schnell. Noch nicht allzuviel Zeit ist verstrichen, daß nach uraltem Ritus jeder Bale am Ende einer zweijährigen Regierung dem Ritualmorde verfiel.
Still und verschwiegen wirkte dieser unheimliche Bund. Laut und warmblütig rauscht das Alltagsleben durch die Straßen, die zum Teil von Hunderttausenden bewohnten Städte. Musikkapellen trommeln, rasseln und blasen vom Morgen bis zum Abend im Hofe des Bale; reiche Kaufherren ziehen, gefolgt von zahlreichen Klienten mit bedeutendem Wortschwall über die Märkte; anspruchsvoll dröhnt, hämmert, kratzt, kracht und randaliert das Handwerk unter Leitung wohlhabender, freigesinnter Meister. Stolz, prunkend, sich blähend gehen Stadtfürst, Kaufherr und Handwerksmeister nebeneinander her, bis ein kleines Wort jeden einzelnen, den einen wie den andern erschüttert, verstummen, sein Auge ängstlich umherirren, seine heimwärts gerichteten Schritte beschleunigen läßt:
›Der Herr des Stuhles!‹ –
Ich stehe vor dem Meister des Stuhles, das heißt: dem Oberhaupt des Ogboni. Ein kleines, jämmerlich dreinschauendes Männchen, eine verschrumpfte Gestalt, ein alter Kopf mit müden, halbgeschlossenen Lidern, eine zaghafte Stimme. Dies der Bundesälteste, der über Leben und Tod der Fürsten wie der Kaufherren, der Reichen wie der Armen, der Alten wie der Jungen entscheidet – der Herr der Fehme. – Heute sehe ich ihn das erstemal. Er ist vergnügt wie ein Kind. Er lacht und ist nichts als ›Gutfreund‹. – Nur manchmal schielt das Auge, wenn er sich selbst unbeobachtet glaubt, schief und scharf beobachtend zu mir herüber. –
Ich sehe den ›Herrn des Stuhles‹ des Ogboni zum zweitenmal. Ich bin inzwischen in den Bund aufgenommen. Am 12. November besucht mich das gefährliche Männlein. Wir sprechen miteinander über meine Eigenschaft als Ogbonimitglied. Wir lächeln beide. Wir stellen fest, daß die Sache nicht ganz in Ordnung ist, weil beim Zeremonial (siehe das Tagebuch ›Und Afrika sprach‹, Bd. I, Kap. 3) die Lippen die Kolanuß nicht aus Menschenblut, sondern nur aus Tierblut aufgenommen haben. Wir sprechen über meine Verpflichtung dem Bund gegenüber. Wir sind dabei aufgestanden und wandeln den Gang zur Straße zu. Plötzlich sagt der kleine Herr: ›Das Blut der Hühner ist nicht so stark wie das der Menschen. Du wirst es sehen. Der ist uns gut und Freund, der sieht, aber nicht fragt. Ich oder einer meiner Brüder wird dich wieder besuchen.‹ – Seine Stimme ist hart und scharf, der Blick schräg und schneidend. –
Am 13. November wurde vom Ogboni auf der Hauptstraße Ibadans ein Menschenopfer dargebracht. Die Reste eines gemordeten Knaben lagen noch umher. – Innerhalb einer Stunde weiß das gesamte Ibadan um die Sache; aber kein Mensch will darüber sprechen. – Man sieht das. Alle Blicke sind scheu, alle Stimmen entweder gedrückter oder forciert laut. Wenn zwei ältere Männer aneinander vorübergehen, zuckt es verständnisvoll in zwei Augenpaaren auf. – Aber niemand spricht davon. Sogar in der englischen Residentur will man nichts davon wissen. – Nur die entsetzte Mutter rennt, von allen Leuten gemieden, durch die Straßen.
Etwa acht Tage darauf kommt ein Bursche. Ob ich nicht den ›Herrn des Stuhles‹ besuchen wolle. Er habe eine Gabe für mich. Ich mache mich auf den Weg. Wir begrüßen uns. Er sagt: ›Du fragst viel und niemand gibt gut Antwort!‹ – (Zum Teufel auch, der alte Herr hatte recht; niemals noch war mir die Kunst, Dinge der Religion anderer Völker zu erfassen, so schwer geworden wie hier.) – Ich gebe das zu. Er sagt: ›Du hast keine Frage gestellt, wo es sich nicht gebührt. Ich hoffe, daß die alten Leute von Ibadan dich befriedigen werden.‹ Dazu schenkt er mir einen schäbigen Truthahn.
Aber ich trage das reichste Geschenk der Welt mit heim. Die Sicherheit der Erfüllung meiner Forschersehnsucht. Vom andern Tage an habe ich jede gewünschte Auskunft erhalten. Alles, was bis dahin nur verneint hatte, gab sein Ja nach bestem Können.
Das verdanke ich dem kleinen verschrumpften Männchen, dem obersten Priester, dem ›Herrn des Stuhles‹ des Ogboni. – Ach, er hatte eine so gar kleine Hand; aber in der hatte er alle Macht der Riesenstadt zusammengefaßt.