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Dreimal erschloß sich mir im Sudan unerwartet der Charakter des afrikanischen Mannes: Zum ersten in einer den Rassenkampf überwölbenden Geschwisterliebe; zum zweiten im Sang der Barden vom alten Heldentum und zum dritten in einem alle negerhafte Lethargie überwindenden Hasse des Heidentums gegen den Islam. – In diesem Stücke will ich mehreres vom Skaldentum und Heldenlied berichten. –
Im deutschen Lager Sanssouci zu Bamako im französischen Sudan fluteten Wellen des Völkerlebens aus und ein. Plumpes Bauernvolk vom Stamme der Bammana, zierliche und gestriegelte Herrchen aus den Städten. Segu und Mopti, edle und geschmeidige Fulbe, schmutzige Mauren. Jede Art für sich eine eigne, alle zusammen ein Stil, der Stil des westsudanischen Kulturbeckens, das der Niger in seinem großen Bogenlaufe durchflutet. Ein gewachsener, durch sich selbst gerechtfertigter Stil großer Linie. Ein Stil, dessen Werden durch historische Tiefenblicke perspektivisch verständlich wird. Denn schon Jahrhunderte vor Christi Geburt bestand im Norden das größte Reich Gannata. Das Songhaireich entstand. Das Malireich löste es ab. So gewaltig waren diese Staaten, daß sie mit dem großen und starken Marokko Kriege führen konnten und mußten. Und wenn das Heer der Marokkaner auch äußerlich den Sieg davontrug, so vermochte der große Herrscher des Nordens doch mit seinen Truppen nicht einen Deut an der Linienführung des sudanischen Stils umzubiegen – ja die Nachkommen seiner Soldaten, die Arami, gingen ganz im Wesen westsudanischer Hochkultur auf und sind heute von adligen Mande, vornehmen Songhai und herrschenden Fulbe kulturell in nichts zu unterscheiden.
Hier am Niger eröffnete sich mir im Blick in die Weite und Tiefe, in das Alter und die Großartigkeit der sudanischen Kultur – in ein großzügiges Werden, für das der europäische und asiophile Forscher und Betrachter überhaupt keinen Blick übrig gehabt hatte. Denn jene wenigen Jahreszahlen sind tote Knochen, die Geschichte und sogar die Chroniken des Sudan leblose Kadaver: diese Kultur des Westsudan, sie selbst also, ist aber Leben – lichtstarkes Leben, das uns hinüberleuchtet aus Zeiten und Formen, die uns auch in unseren Räumen fossil wurden.
Denn wohl erzählt uns heute noch die Geschichte von gewaltigen Wanderungen der Völker des Nordens und ihren Staatenbildungen; dort aber wandern die Völker heute noch und erbauen aus unserer Vorzeit Neues mit Jugendkraft. Wir hören, daß es auch bei uns einst eine Zeit gab, in der die Menschen mit ihren Göttern zusammenlebten; dort unten ist dies heute noch so. Wir lesen von den Sängen der Barden und Skalden – wir lesen das in feingedruckten Niederschriften; dort aber schlägt der Sänger noch heute die Laute und singt von Heldentaten und Minneslohn, von den Taten der großen Ahnen, deren Nachkommen leuchtenden Auges ringsum im Kreise sitzen und lauschen auf diese Klänge einer Zeit und Welt, die noch nicht fossil ist – denn deren Lebensgefühl wirkt noch.
Lebt heute noch!
Lebt noch in den Skalden.
Endlich war es gelungen, Korongo, den bekanntesten und am meisten geschätzten Barden des oberen Niger in mein Spinnennetz zu treiben. Nun saß er vor mir. Da hatte ich ihn nun und – war zunächst gründlich enttäuscht. Eine schlappe Figur, recht schmutzig gekleidet; ein nichtssagender Kopf, die Augen matt, die Stirn in übler Laune verkraust, unter der plumpen Nase ein schmollender griesgrämiger Mund, die Stimme heiser, der Gruß unfreundlich. Auch herzliche Zusprache nützte wenig. Er erinnere sich heute an nichts. Dann endlich erklärte er sich bereit, ein Lied zu singen, wie es die Leute beim Zusammensitzen gern hören. Gut denn! Der Erfolg? Ein Loblied auf starkes Bier, auf den herrlichen Absinth der Franzosen, auf den Schnaps.
Das sollte ein herrlicher Sänger, sein Lied eine große Sache sein? – Hallo, du bist Ethnologe! Bringe mir schnell das Liedchen unter. Etwa unter die Proben der Volksdichtung? Nicht doch! Das ist eine Angelegenheit ›des Verkehrswesen‹, das gehört in die Rubrik ›Wirtschaftsform‹, in das praktische Dasein! Es ist gewissermaßen die Aufforderung, das Instrument zu stimmen. Vorzüglich!
›Bravo, Korongo, das war ein schöner Sang. Der will belohnt sein! Du bist ein Kenner, mein Freund Korongo; ich sehe es. Hallo, Karimacha. Bringe die Flaschen. Absinth und Kognak – Hennesy mit 3 Sternen. Gläser. So Korongo! Heil deinem Lied. Nun zeige, daß du nicht nur im Lied die edle Flüssigkeit zu würdigen verstehst.‹
Korongo führt das Glas zum Munde.
Korongo trinkt.
Korongo lächelt.
Dann stimmt er seine Laute ernsthaft.
›Nun etwas aus der alten Zeit. Aber vorher noch einen Schluck!‹
Sein Antlitz lebt auf. Die Falten auf der Stirn verschwinden, die Lippen werden fest, die Augenlider heben sich; sein Blick ist heller, klarer, wohlwollender. Nege und Karimacha, die beiden Dolmetscher und strengen Moslim blicken spöttisch und hochmütig auf den trinkenden Djalli, den verachteten Sänger!
Noch einmal trinkt Korongo. Dann hat er die Laute im Arm. Er singt ›Vom Anfange vor der Zeit‹. Seine Stimme trägt melodramatisch leicht singend vor. Sie ist jetzt klar und sicher. Er erzählt erst vom Urbeginn des Reiches Mali, vom Heros Sunjata. Dann trinkt er wieder und trägt nun die ersten Stücke aus dem alten Dausi vor, aus dem alten Heldenbuch: ›Das Land Wagadu war erst einmal für sieben Jahre verloren gegangen. Man wußte nicht mehr, wo es war. Dann fand man es wieder. Es trat dann aber nochmals ein Zeitraum von 740 Jahren ein, in dem es nicht mehr gefunden wurde; es war für diese Zeit verloren.‹ Das Land Wagadu, das heilige Land ward wiedergefunden. Aber Wagadus Quelle wird von dem Drachen Bida bewacht, dem jedes Jahr Mädchenopfer darzubringen sind. Dann läßt er dreimal im Jahre Gold über Wagadu regnen. Ein Geschlecht von Helden herrscht in Wagadu: Mangana Sako, der Eifersüchtige, Dajabe Sise, Dama Ngile und Mamadi Sefe Dekote, der Schweigsame. Der Sang erzählt dann weiter, wie Streit unter den Helden ausbricht, weil Mamadi Sefe Dekote, der Liebling der Frauen, mit seinem Hengste über die Burgmauer Wagana Sakes setzte und das Eherecht jenes raubte – er fährt fort und berichtet, wie Sia Jatta Bari, die schöne Sia, das schönste Mädchen Wagadus, dem Bidadrachen hingegeben werden soll. Mamadi Sefe Dekote aber erschlägt den Drachen. Er reißt Sia Jatta Bari auf sein Pferd und sprengt mit ihr von dannen. Das sterbende Haupt des Drachen brüllt seinen Rachefluch. Alle Wagaduleute rufen Wagana Sako auf, Mamadi zu verfolgen. Aber Wagana – der von Mamadi Betrogene, beteiligt sich nicht an solcher schmählichen Verfolgung des mit seiner Last beschwerten Reiters. Wagana rettet Sake. – Die gerettete Sia verschmäht nun aber die Liebe des Helden, der ihretwegen den Drachen tötete, der ihretwegen aus der Gemeinschaft der Edlen von Wagadu floh. Ja, die Schnöde kränkt ihn schwer und bitter. Darauf opfert er die Ahnungslose, so daß sie vor Scham stirbt (Atlantisausgabe, Bd. VI. S. 64-72).
Das Epos ist großzügig gebaut. Ein ernstes Sichvertiefen in den Originaltext läßt außerordentliche Reize erkennen. Schon diese erste Kenntnis – Karimacha hockte neben mir und wiederholte alles flüssig in französischer Sprache – ließ außerordentlich feine Empfindlichkeit und den Takt innerlichsten Rittertums erkennen. Die Feinheit der Ehre, die es unmöglich macht, den Schänder seines Rechtes zur Rechenschaft zu ziehen, weil der Gekränkte zufällig aus dem Munde ein Wort der Furcht vernahm – die Vornehmheit, die es dem Gekränkten verbietet, den Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen in einem Augenblick, in dem er zum Kampfe behindert ist – der Zorn des Helden, der die undankbare und boshafte Geliebte seinem Pferdeburschen ausliefert das alles eine Fülle von Ausdrücken edelster und starker Männlichkeit ohne jede Überschwenglichkeit.
Dazu Korongo – wie er dies vortrug! Die Stimme modulierte, die Gesichtszüge mimten in zierlichen Nuancen einzelne Worte und Gesten, der Vortrag, zögerte oder schnellte, senkte sich und schwoll. Wahrlich ein gewaltiges Heldentum, eine lebendige Epik, und ein naturgeborener Künstler, dieser Korongo!
›Sia blieb vor Scham den ganzen Tag über im Hause. Sie wagte sich nicht heraus. In der Nacht aber schlich sie hinüber in ihr eigenes Haus und starb daselbst vor Scham!‹ – Pause. Korongo läßt mit einem letzten Griff die Saiten schnellen: – ›Das war das Gericht Mamadi Sefe Dekotes über Sia Jatta Bari.‹ – Schweigen! Stumm und staunend blicken die beiden Moslim auf den niederen Barden. Korongo trinkt. Korongo ruft: ›Hoch! Die Zeit der Ganna, der Helden! Damals tranken Adlige (Horro) und Djalli (Barden)!‹ Korongo trinkt. Nun leuchten seine Augen. Jetzt spricht er mit voller Stimme, erzählt von Burgen und Helden, von Kämpfen und Minne, von edlen Frauen und kunstfähigen Barden. Ein Leben warm und voller Blut, an Stil klar und rein wie Quellwasser; Formate und Dimensionen. Und nichts von dichterischer Flausenmacherei, sentimentalem Schwindel und schmierigen Überschwenglichkeiten! – Mit leuchtenden Augen hocken die zwei Moslim und blicken zu dem Sänger empor. Die Macht großer Schöpfung hat ihren Hochmut gebrochen.
Korongo aber ist nun betrunken. Er streicht den Gewinn ein, wankt zum Tore hinaus und murmelt noch mit letzter Kraft: ›Alle großen Djalli sind betrunken.‹
Solches wiederholte sich nun lange Zeit hindurch Tag für Tag. Morgens erschien Korongo als ein Bild verkaterten und vertroddelten Lebensüberdrusses. Mittags erfolgte ein Erwachen. Am Abend sprühte er. Einige Stunden hernach ging er trunken von dannen. Ich jedoch hatte schwere Not, im Verlauf der verstreichenden Nacht, das Tags über Vernommene und Notierte zu kontrollieren, Unklarheiten festzustellen, neue Fragen vorzubereiten, das endgültig Gewonnene in die Reinschrift zu retten. – So taumelten wir durch Tage.
Denn wir taumelten beide, Korongo im Rausche des Alkohols, ich unter der Zaubermacht ungeheuerlich großen und gewaltigen Kulturlebens. Das Erschauern, das sich der Entdecker beim erstmaligen Anblick des Niger, des Sambesi, der großen Seen und des Kongo bemächtigte, kann nicht erschütternder, die Steigerung ihres Pulsschlages nicht stürmischer, das Gefühl der Dankbarkeit für die Begnadung, die Ehrfurcht vor überwältigenden Reizen der Herrlichkeit und der Gewalt der großen Umwelt nicht demütiger gewesen sein, als alles das, was ich in jener Zeit erlebte, in der sich mir das Land, das Reich, die Welt der gewaltigen Vergangenheit des Westsudan erschloß. Ich war trunken.
Und Korongo war trunken.
Die Trunkenheit Korongos war mir aber bald nichts Eigenartiges, etwa gar Abstoßendes mehr. Sie gehörte in das Gesamtbild dieses Lebens der Vergangenheit. Sie war gleich dem Rausch aus Opferdämpfen, der zu der Priesterin des Orakels aufsteigen muß, daß ihr Sinn abgewendet werde vom Irdischen, daß er sich erschließe der Offenbarung des Göttlichen. Gewiß, Korongo hatte Recht. Alle großen Djalli müssen jeden Abend betrunken sein! – Heute sicher – weil das große Leben als Tatsächlichkeit ja der Vergangenheit angehört. Ob früher? In der alten Zeit, in den Tagen der Taten, der Ganna, der Helden, da gab es den Rausch des Erlebnisses, den Blutrausch. Sie selbst, die Helden, waren ja zu den Taten befähigt durch solchen Rausch. Wo die Klinge der Schwerter und die Spitze der Speere in den Leib der Gegner zucken, wo Atem und spritzendes Blut kämpfender Menschen zusammenfließen, wächst herrliches Mannestum aus seliger Trunkenheit. Der Barde der Nachwelt aber bedarf der Erhebung durch starkes Getränk. Des Ritters Sänger trinkt.
Und wo er nicht trinkt, da versiegt der Born himmlischer Gnaden. Korongo sprach: ›Du fragst mich nach dem Namen anderer Djalli, die noch Weiteres wissen? Es ist schwer, solche zu finden. Barden gibt es viele. Aber sie trinken nichts mehr und sie können deshalb nicht mehr singen. Du willst nach dem Süden reisen; du wirst nach Kankan kommen; du wirst den alten Hansumana Kuate treffen. Er ist der älteste Djalli. Als er jung war, sang er wie ein Erzengel des Islam (– habe ich sonst nie gehört, daß nach afrikanisch-islamischem Glauben die Erzengel singen!), aber nun ist er alt und sehr fromm geworden. Er macht den Salaam fünfmal am Tage; er ist streng; er trinkt nicht mehr; er kann nicht mehr singen. Das wirst du erleben!‹
Ich erlebte es.
Ich kam nach Kankan und besuchte den alten Hansumana Kuate. Er war ein ehrwürdiger Greis. Groß und vornehm war sein Benehmen, sein Gestus. Er war sauber gekleidet. Sein Antlitz zeigte die edle Ruhe abgeklärten, innerlich tiefen Greisentums – die Ruhe des ohne Erregung dem Grabe Zuschreitenden. Er war gern bei mir. Er konnte Stammbäume aufzählen, er konnte Heimatland und Geschick der Sippen und Stämme angeben. Er kannte die Reihen der Könige und Fürsten. Alles das trug er aus den Schätzen eines ungemein reichen Gedächtnisses heraus gerne vor. Aber jedesmal, wenn ich wieder auf meine alte Bitte kam: ›Erzähle mir etwas von der Zeit der Ganna, aus den Heldenbüchern,‹ – jedesmal schüttelte er als Antwort lächelnd den Kopf und sagte: ›Als ich jung war, wußte ich davon. Ich sang gerne. Aber nun bin ich alt. Meine Seele ist zu matt hierzu, sie kann sich nicht mehr zu diesem erheben!
Ein Skalde, der nicht mehr trinkt, kann nicht mehr singen!‹
Etwa dreiviertel eines Jahres später fuhr ich mit der Expedition auf einer kleinen Flotte von Schiffen auf dem Wasser des mächtigen Niger nordwärts in jenes Gebiet, in dem das alte Heldenleben sich abgespielt hat. Der Strom hat eine mächtige Bahn hineingeschnitten in ein flaches braunes Land mit grünem Teppich. Zwischen der grünen Decke und dem Wasser ein sehr breiter Saum gelblich hellen Sandes. Aus dem Sande ragen hier und da mächtige im Sonnenschein rot prangende Hügel wie riesige Schildkröten empor. Jeder leidlich geübte Blick muß erkennen, daß diese Rotköpfe nicht Natur, daß sie Menschenwerk sind. Und es ist mächtiges Menschenwerk, genau so stilklar und formfein in diese Landschaft hineingefühlt, wie die Pyramiden in die des Nillandes. – Dieses sind die Gräber der Heldenzeit. Gräber von Helden, Fürsten, Fürstinnen.
Ach, wie barmte ich hier um Namen, um Sang, um Aufschluß! – Aber kein Djalli mehr im Lande!
Endlich aber fand ich einen Mann, einen Alten, der kein Barde war(?), aber davon erzählen konnte. Es war Fongo Saki in Diarra. Man brachte ihn im Triumph in das Lager am Ufer. Aber Fongo Saki war mißmutig. Er schmollte wie ein Kind – bis eine Flasche sichtbar wurde. Auch Fongo Saki trank also – wenn er auch kein Djalli war. Nach einiger Zeit taute er auf. Ja, er konnte erzählen vom Helden Samba Ganna, der da mit Annalja Tu-Bari in jenem mächtigen Rotkopf bestattet war. Aber er mußte bei einigen weiteren Gläsern nachdenken, bis er sich gut erinnerte.
Dann erzählte er von Annalja Tu-Bari, der schönen, jungfräulichen Fürstin, die nur den zum Gatten nehmen wollte, der das zerstörte Reich ihres Vaters wiederherstellte, der schönen Fürstin, die nie lachte – von dem Helden Samba Ganna, der das ganze Nigerland Landschaft nach Landschaft im Zweikampf gewann und verlehnte – vom Siege Samba Gannas über die Feinde der nie lachenden schönen Herrin – von Samba Gannas Bitte um ein Lächeln – von der übermenschlichen Forderung Annaljas – von Samba Gannas Todeskampf – vom Bau der Riesengräber durch Annalja Tu-Bari – von ihrem ersten Lachen, letzten Willen und schönen Tod. – ›Die achtmal achthundert Fürsten und Ritter zogen aber jeder in einer Richtung, kämpften und wurden große Helden.‹ – (Atlantisausgabe VI, S. 72-75.)
Der Diarra Fongo Saki erzählte es. Er sprach fest und klar. Erzählung und Getränk rissen ihn fort. Nachher begann er mit einem Mauren einen Streit über Himmel und Erde. Abends taumelte er schwer berauscht über den weißen Sand dem Dorfe zu.
Gute Barden sind betrunken.
Wochen vergingen. Ich landete in Mopti. Ein ›königlicher‹ Sänger, der Fulbe Allei Sangu ward gewonnen. Die prächtigen Epen der Fulbe, das Heldenbuch Baudi, dazu ausgezeichnete Teile aus den Heldensängen der Soninke, aus dem Pui, dazu das ganze Niaule in wundervoller Reinheit konnten gebucht werden.
Allei Sangu befand sich die ganzen Wochen hindurch in sanfter Verzückung.
Und jeden Abend war er schwer betrunken.
Abermals um etwa dreiviertel eines Jahres, nachdem am Niger das Epos von Samba Ganna eingetragen werden konnte, war ich durch den Nigerbogen nach Togo marschiert. Ich hatte mit unserem Stabe bei Dr. Kersting in Bassari Quartier bezogen. Boten und Gesandtschaften der Expedition gingen und kamen, zumal nach dem Nordosten und Osten, den Ländern des unteren Nigerlaufes zu, hatte ich Beziehungen angeknüpft. Auf dem halben Wege nach Borgu hatte ich einen Assistenten stationiert. Der sandte Kenner des Landes, der Sitte und der Überlieferung nach Sokode.
Eines Tages kam ein angeworbener Mann, ein Djerma namens Marafa. Er wurde mir zugesandt als Kenner ganz alter Lieder. Der Mann ward hoffnungsfreudig aufgenommen. Jedoch glitt alle Freundlichkeit an seinem anscheinend unerbittlichen Hochmut ab. Stets gleich steif antwortete er jeden Tag das gleiche: »Ich kann mich heute an nichts erinnern.« Unbiegsam wie ein alter Stock kam er jeden Morgen zu mir, gab die gleiche Erklärung ab und entfernte sich wieder. Zuletzt wurde er das Gespött der Leute. Er kümmerte sich hierum gar nicht. Er blieb stets der gleiche. So siedelte er denn mit meinem Stabe auch nach Sokode über. Hier wiederholte er seine tägliche Visite und Erklärung wie in Bassari. Meine Leute wurden ungeduldig und baten mich, den nutzlosen und langweiligen Brotesser herauszutun. Ich erinnere mich nicht, was mich eigentlich zu der diesem Marafa gegenüber geübten Übergeduld bewog. Jedenfalls ließ ich ihn gewähren.
Eines Abends kam mein neuer Zugführer Bida zu mir: ›Herr, Marafa spricht.‹ – ›Bring ihn!‹ – Marafa kommt. Marafa ist freundlicher. Marafa sagt selbst sehr freundlich: ›Heute abend erinnere ich mich. Ich erzähle von Gassires Laute.‹
Und dann trat mir das gewaltigste Epos der afrikanischen Seele in Erscheinung – jene Jahrtausende alte Dichtung, die noch von der Landung der Helden an Nordafrikas Küste weiß – in der Heldentum und Skaldensang als Lebensformen wie Tages- und Nachtgestirn aus dem nächtig schwarzen Himmel des vorgeschichtlichen Nichts auftauchen – in der der erste Sang erschallt aus dem mit Heldenblut durchtränkten Holz der Harfe – in der die Geschichte der ganzen Reihe der Burgen und Staaten zusammenfließt zu einem Gemälde von einem unerhörten und nur im Epos möglichen Farbenreichtum. (Atlantisausgabe VI, S. 53 bis 60.) –
Ich war tief erschüttert.
Staunend blickte ich auf den langen Marafa, der sich erhoben hatte und herausging. Erst jetzt sah ich: der Mann war betrunken. Und unwillkürlich dachte ich an die Worte meines Korongos: Alle großen Djalli sind betrunken.