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Die Matrone

Die Matrone.
Fritz Nansen del. 1908

Vielerlei Frauen lernte ich im Sudan kennen. Drei aber traf ich, die wurden mir zum Ausdruck höchstmöglicher Spannung des Frauentumes in diesen Ländern. Es waren das eine Adlige, eine Hetäre und eine Matrone.

Wenn ich die vielen Gestalten, die sich in meiner Erinnerung um diese drei Typen scharen, unter einander vergleiche, so tritt wieder der alte Gegensatz hervor: Hamiten hier, Äthiopen dort. Die Abessinische Frauenrechtlerin und Djalla, die ›große Mutter‹, und die politisch wirkenden Hetären, die kluge Hatumata und die Erzieherin des Helden Samba-Kulung, Sia Jatta Bari und Annallja Tu-Bari (vgl. Atlantisausgabe, Bd. VI) sind Möglichkeiten und Notwendigkeiten hamitischen Seins. Sie fließen zusammen im hohen Stil der hamitischen Frau. Sie sind nur denkbar in einem Paideuma, einem Kultursein, das als letzte soziale Auskristallisierung das Frauenrecht, das Matriarchat hervorbrachte. Es ist das gleiche Wesen, das im Leben wie in der Sage französischer Kultur immer wieder durchbricht. Die ›große Mutter‹ sollte heißen ›große Geliebte‹; sie ist Aphrodite, Kybele, Rhea, und der Mann wird in ihrem Bann in letzter Instanz zum Helden oder zum Attys.

Den Gestalten um die Adlige und die Hetäre sind die um die Matrone gegensätzlich. Der ›großen Mutter‹ oder ›Geliebten‹ tritt die ›gute Mutter‹ gegenüber. Sie vereinigt in sich alle jene Hunderte und Tausende von Frauen, von denen die aristokratische Abessinierin wegwerfend sagte: ›Andere sind nur Mutter, die sind langweilig und gute Tiere. Die sind gut für das Land und taugen zur Bäuerin.‹ – Das sind die Frauen, die Weininger niemals gesehen haben kann. In Afrika ist es die äthiopische Frau, in Europa auch die Deutsche – soweit sie echt und nicht verzerrt ist. Das sind Frauen, die, ohne je Aufsehen zu erregen, still und dem heischenden Auge des Mannes unsichtbar durch das Leben gehen. Man kann von ihnen sagen, daß man ihre Seelengröße nie erkennen kann an ihnen selbst, sondern nur an ihren Sprossen. Es sind Frauen wie die Mutter des grünen Heinrich und des Hungerpastors. Erst wenn sie verschieden sind, erfühlt man ihr Format. – Eine Frau dieser Art, ein Frauenschicksal solcher Lebensform und Lebensbahn habe ich im Grenzgebiet zwischen den Steppen des westlichen Sudan und den Urwäldern Liberias getroffen. Wir sahen sie mehrmals, mein Zeichner entwarf eine Skizze von ihr. Wir nannten sie vom ersten Tage unserer Bekanntschaft an stets: die Matrone.

 

In riesenhaften Dimensionen wogt seit Jahrtausenden das Völkermeer des Westsudan, aufgepeitscht im Norden durch die elementare Gewalt der Saharastämme, hinbrausend über die weiten Steppen, verstrandend in den finsteren Urwäldern der westafrikanischen Landschaft. Schicksale türmten sich auf Schicksale. Kein Reich, kein Volk, keine Rasse entging dem brandenden Wirbel. Staaten knickten wie dürres Stroh, und Reiche brachen empor wie vulkanische Ausbrüche. Viel zu groß ist dieses Kräftespiel zweier oder dreier Jahrtausende, um mit dem engen Maßstab historischen Wissens und Denkens erfaßt werden zu können. Was bei uns Erlebnis eines Menschenlebens ist, war dort Werden und Vergehen ganzer Völker. Gana ward und zerbrach. Mali ward und zerbrach. Songhai ward und zerbrach.

Aber alles, was an zerschollener Größe dem großen Sturme zu entrinnen vermochte, suchte scheu eine letzte Rettung und Bergung in den unzugänglichen Urwäldern der Westküste, im großen ›Tukorro‹. – Was heißt das?

Für den echten alten Sohn des Manding, für den alten Mande, gibt es weder nach Osten, noch nach Norden noch nach Süden eine Grenze im historischen Ausschauen, im Handeltreiben oder im geographischen Sinne. Desto schärfer, klarer ausgesprochen oder bewußter ist eine Ausscheidung der Südländer aus dem Interessengebiete der Mandingo. Für mein westliches Reisegebiet liegt die Grenze etwas nördlich der Wasserscheide der Nigertributäre und der Westflüsse, etwa 9° 30' nördlicher Breite. Was südlich liegt, heißt der Tukorro oder Tukotto, der große Wald. Das ist das Land der Barbaren, der Menschenfresser, der Madumu, wie die Bammana sagen, der Mogodumu nach Malinkebezeichnung, das ist auch das Land der Zwerge. Der Tukorro mit seinen mächtigen Wäldern und Bergen und mit seinem Überfluß an Abflüssen ist gewissermaßen ein Märchenland, und es ist noch nicht gar so lange her, daß sich kein Mande da hineintraute. – Es sei denn, daß ein im Kriege unterlegenes Volk, gedrängt und zum äußersten getrieben, nach jener Richtung entfloh. – Das war zwar nicht selten, aber eine Beziehung ward damit nicht angeknüpft. Die Verdrängten gingen im Waldnegertume auf, rechteten und kämpften mit ihnen um Hegemonie, sie schüttelten aber jedesmal den Staub der Heimat von sich. Sie waren nun Tukorromenschen geworden und blieben es. Das, was danach zutage tritt, entspricht genau den Verhältnissen, auf die uns die geographische Gesamtlage schließen läßt. Mischung, Mischung, abermals Mischung. Was sich auf dem mächtigen Mandingoplateau seit alter Zeit abgespielt hat, werden wir natürlich nie erschöpfend erfahren, aber soviel wissen wir heute schon, daß dieses Plateau von Norden her durch eine Welle nach der andern überspült wurde, und daß mit jedem Wogengange eine ältere Dünenstrandung über die Wasserscheide hinweg nach Süden in den Tukorro gejagt wurde. Samori suchte in den Tukorro zu entkommen, die Kulloballi flohen vor den Susu zu den Kissi – die Soninke flohen vor den Malinke nach Süden – die Ganaleute sollen vor den Soninke hierher entflohen sein, und so leiten die Gersse ihre Herkunft ab; Kammara flohen vor den Dia und siedelten sich als Tomma usw. an.

Und doch! Mögen im Blute dieser Menschen zwanzig, fünfzig, neunzig, fünfundneunzig Prozent vom Blute nordischer Steppenvölker sein – gleich, es sind, es bleiben Urwaldvölker, gleiche Art, wie ich sie im großen Kongowalde und im Benuewalde gesehen habe, wie sie andere Reisende aus anderen afrikanischen Waldgebieten beschreiben. Es ist ein Typus für sich, eine Menschenart, die nicht aus dem Dorfbanne heraus mag, die an Umgrenzung gewohnt, sich selbst in jeder Bewegung begrenzt. Es sind schwerfällige Menschen, die scheu sind. Es sind Menschen, die selten lachen, jedenfalls nicht vor dem fremden, die an den kleinsten Kreis menschlicher Gemeinschaft gewöhnt sind und die demnach den Fremden ängstlich, ärgerlich, mißtrauisch ansehen. Sie haben ein wenig vom Katzengeschlechte, von deren Lauern und Schleichen und deren Blutdurst und Gewalttätigkeit. Sie sind, wenn unsereiner erscheint, düster und scheinen stumpfsinnig. Ich buche diesen Eindruck – ich glaube aber, daß er täuscht. Ich habe so ganz aus dem Verborgenen bei den Waldleuten ebenso impulsiv hervorgerufene Bewegungen (z. B. Umarmung, wenn sich Freunde oder Verwandte plötzlich wiedersehen!) – auch sentimentaler Art gesehen, wie bei den Steppenmenschen. Aber der Steppenbewohner gibt sich ungezwungen, frei, unbefangen, gibt seiner Laune unbekümmert um die Anwesenheit anderer Ausdruck, während der Waldbewohner solches nicht nur ungern den andern sehen läßt, sondern auch vor den eigenen Leuten verheimlicht.

Die gewaltigen Mauern, die der Urwald um den Weiler der Buschmenschen baut, die Unsicherheit des Weges, die allzugroße Übung im Bogenkampfe mag viel dabei tun. Wiederum wirkt die längere Regenperiode in den Waldregionen beeinflussend. Aber es kommt hier im Westen noch ein Moment hinzu, das den schwersten Schaden auf den Gemüts- und Geisteszustand der Waldvölker ausübt; das ist die primitiv kümmerliche Arbeitsteilung. Alle diese Völker folgen dem gleichen Gesetze, nach dessen strenger Innehaltung dem Weibe alle Last der Familien- und Feldfruchtfürsorge zufällt, während der Mann einer mehr oder weniger stumpfsinnigen Heimarbeit und Hausgrübelei überlassen ist. Diese bummelnde Grübelei hat nichts gemein mit dem Geistesleben großer Männer, Religionslehrer, Philosophen und Künstler der Kulturvölker. Für schöpferische Intuition oder irgendeinen höheren Geistesaufschwung fehlt diesen Menschen jede Vorbedingung. Zu eng ist der Kreis der Erfahrungen, zu niedrig der Umfang der Kenntnis, zu primitiv die Erziehung, zu plump der Mechanismus unter der Hirnschale. Zu hoch die Wände der Urwaldschranken, zu schmal das Blickfeld zum Himmel! Und wenn auch eine höhere Idee in diese primitive geengte Denkwelt hineingeschleudert wird, so muß sie verkümmern, wie jedes Samenkorn, das auf einen toten Fels gelegt wird – von der nur törichte Menschensehnsucht Wurzel, Blätter und Blüten erhoffen kann, die doch nur auf festem Wiesenlande emporsprießen können.

Der Wald ist zu üppig, der Mann zu ›frei‹, das Weib überlastet, – die Kultur kann so nicht gedeihen.

Das beides aber ist es, was diese Waldvölker miteinander verbindet: einmal die gemeinsame Erziehung durch das Leben im Walde – dann, daß hier im Walde noch Reste alter, andersartiger Kulturform heimisch sind, die, wenn auch in noch so schwachen Dosen zugegeben, aus jeder in den Wald getragenen, neuen Mischung herauszuschmecken sind. Dazu gehört z. B. Frauenfleiß und Männerfaulheit. Hier ein Beispiel!

 

›Frühmorgens,‹ ziemlich bald nachdem die Hähne gekräht haben, das heißt etwa um sechs Uhr oder so, erheben sich diese Herren der Waldschöpfung von ihrem Lager, gähnen sich aus, hüllen den vor Kälte zitternden Leib in Baumwollappen, treten vor die Haustür und geben sich der berechtigten, wenn auch für uns nicht ganz verständlichen Hoffnung hin, daß die weiblichen Blüten des Waldstädtchens seit mehreren Stunden für das morgendliche Wohlbefinden der Ehegatten gearbeitet haben. Er knurrt, brummt etwas, geht zu einer kleinen Plattform hinter dem Hause, legt alles ab, was er außer dem vom Mutterleib her Mitbekommenem noch an sich hat, steigt auf die Plattform und – siehe, da erscheint auch die ›edle‹ Herrin des Hauses mit einem Topfe warmen Wassers und einigem Faserwerk mit Seife. Vater läßt sich von Mutter warmes Wasser übergießen, immer wieder und vom Kopf über den Rücken, Brust, Bauch, Beine und was sonst da ist, läßt sich alles abstreifen, grunzt vor Behagen, und die Kinderchen stehen dabei und finden das Ganze ebenso natürlich wie jedes größere und auch schon weißhaarige Kind des Urwaldes im nördlichen Liberia.

Es ist nicht nur das Seltsame an dieser Sitte, was mich veranlaßt, dies Bild diesem Absatz an die Spitze zu stellen. Etwas anderes kommt hier wie während des ganzen Tages-, Jahres- und Lebenslaufes zum recht klaren Ausdruck, das ist die Knechtschaft des Waldweibes. ›Arbeite und bringe Kinder hervor, ernähre sie und sorge für das Einkommen vom Vater bis zum jüngsten Nachkommen‹, – das ist das Gesetz, das weibliches Wesen und Leben hier beherrscht. Diese Waldmenschen leben noch mitten in dem Zeitalter, in dem die Arbeitsteilung eine ursprüngliche ist. Der Mann beschützt das Gemeinwesen im Kampfe und im übrigen arbeitet in Kulturarbeit die Frau das, was notwendig ist und der Mann das, was seiner Laune ansteht.

Damals, als wir in den Dörfern Nordliberias umherreisten, fiel es uns nicht auf. Als wir dann aber wieder nach Norden kamen zu den gebildeten Kammara und gar erst zu den Kaba, da waren wir oft verblüfft, wenn eine Frau auf dem Wege an uns vorübergehend ihren freundlichen Gruß uns lachend zurief und dazu harmlos, freimütig und fröhlich Rede und Antwort stand, eine Frucht als Weggabe reichte oder gar unbekümmert um unsere Eigenart als Männer und Weise uns nach vorausgegangenen Gefährten oder so fragte. Dann sahen der Maler und ich uns oft erstaunt an und manchmal fiel auch der Ausdruck der Verwunderung: ›Wenn das einmal ein Waldweib wagte!‹ – Unmöglich!

Diesem Urwaldgebiet näherte ich mich im Februar des Jahres 1908. Die Expedition lagerte in der letzten Stadt des Steppengebietes, in Beela. Diese Stadt hat eine französische Station und einen großen Markt. Die fremden Herren nahmen uns freundlich auf, wie sich das unter natürlichen Verhältnissen in diesem an Europäern sehr einsamen und der Küste weit entlegenen Lande Sitte ist. Als ich von dem Besuch in das Lager zurückkehrte, kam mir ein ›zahmer‹ Tomma, den wir unterwegs als Verschlagenen aufgegriffen und als Dolmetsch eingestellt hatten, mit der Mitteilung entgegen, daß eine alte Tommafrau mich zu sprechen wünsche. Eine günstige Gelegenheit, um eine Freundschaft mit den etwas unheimlichen Bewohnern des vor uns liegenden Urwaldes anzuknüpfen!

Die Frau wird gebracht. Ein greisenhaftes Mütterchen.

Bescheiden hockt sie in ihrem Winkel.

Auf Fragen antwortet sie wohl immer erst nach einiger Überlegung. Dann aber klar und verständlich.

Sie sei ein Tommaweib aus der heute zerstörten Stadt Boyola.

Sie sei auf der Suche nach ihrem Enkel, sie suche ihn schon seit vielen, vielen Jahren.

Ein anderer sei nicht da, ihren Enkel zu suchen. Die meisten ihres Beni seien bei der Zerstörung von Boyola getötet und weggeführt worden.

Sie und ihr Enkel seien die einzigen, die von dem ganzen Beni übrig geblieben seien. Sie hätten allein zu zweien eine Reihe von Jahren in einem Orte bei Dandando gelebt. Dann sei auch der zerstört und ihr Enkel vor ihren Augen gefangen und als Sklave nach Norden geführt worden. Seitdem suche sie ihn. Es sei kein anderer da, um ihn zu suchen. Sie müsse also Großvater und Großmutter, Vater, Mutter und Bruder für ihn sein. Sie tue es gern. Sie wisse, daß sie ihn finden werde. Sie wisse es.

Einmal hätten sie zu vielen zusammengehaust. Das war in Boyola. Damals lebte ihr Mann, sein Vater und zwei Vaterbrüder, drei Brüder ihres Mannes, elf erwachsene Söhne und vierzehn unmündige Kinder. Viele Frauen hätten zu dem Beni gehört. Wenn ich ausrechne, daß das zusammen fünfzig Menschen gewesen sein müßten, so sei das wohl richtig. Denn es seien sehr viele gewesen. Auch großen Reichtum hätten sie besessen, Stoffe und Kleider, Häuser und Äcker. Sie allein sei übrig geblieben, und nun wandere sie seit vielen, vielen Jahren umher und suche ihren Enkel.

Von ihrem Manne habe sie gehört, daß sein Beni von dem Volke der Kammara abstamme. Die Kammara wären aus dem Norden gekommen. Dort seien sie ein großes und starkes Volk gewesen. Sie und ihr Enkel seien aber allein übrig, und ihren Enkel werde sie finden.

Jetzt wandere sie in das Land Uassulu. Sie habe gehört, daß dort noch eine Reihe von Tommasklaven lebe. Vielleicht werde sie ihren Enkel da finden. Sie werde ihn überall wiedererkennen, denn sie hätte ihn aufgezogen von Jugend an. Sie sei wie seine Mutter. Sie würde ihren Enkel treffen und würde Mittel finden, ihn frei zu machen. Dann wolle sie mit ihm zurückkehren in den Tukorro.

Sie habe gehört, ich käme aus Uassulu und Kankan. Sie bäte mich um Briefe. Sie würde von einer Stadt zur andern wandern und sie würde ihren Enkel finden. –

Die Matrone erhielt ihre Briefe. Mit heißen Dankesworten zog sie am andern Tage von dannen, dem Norden zu – in das Ungewisse!

Und ich verglich!

Stolz und unter der Herrschaft mächtiger Fürsten lebte dies Volk der Kammara einst im Norden, eines der mächtigsten der Tradition, eine Kette von Staatenbildnern und Städtegründern! Barden und Imame hatten mir von der einstigen Höhe gesprochen. – Und am Ende ein kümmerlicher Rest; aus all dem Wogen und Wallen, aus dem Brodeln und Gähren des Willens herrlicher Helden und großer Könige war als letztes dieses alte kleine, verhutzelte Mütterlein, diese Greisin von vielleicht achtzig Jahren übrig geblieben, die nun in das Ungewisse, in weite, große, unbekannte Länder auszog, ihren letzten Nachkommen, den letzten Sprossen eines einst starken Zweiges der Kammara zu suchen.

Eine Greisin, die nur noch das eine Ziel hatte. –

Und die nicht zu erschüttern war in dem Glauben, diese letzte Aufgabe lösen zu können. –

Und sie trippelte mit großem Mute von dannen.

 

Wir zogen in die Wälder. Wir fanden unsern Weg zwischen Lianen, mißtrauischen Eingeborenen und bösartigen Franzosen hindurch (vgl. ›Auf dem Wege nach Atlantis‹, Kap. VIII-X). Wir kehrten auf Milo und Niger nach meinem Hauptlager Sanssouci in Bamako zurück. Wie eine Spinne saß da der Forscher inmitten eines Netzes von feingesponnenen Fäden und fing an Nachrichten und Dokumenten alles ein, was gepackt werden konnte. Winter und Frühling gingen ins Land. Es wurde Sommer und Hochsommer. Ach, es war eine recht heiße Sonne, die im Juli 1908 über den Staat Bamako am Niger glühte! Alles war müde und matt. Mühsam schleppten sich meine Boten ins Land, träge kamen sie zurückgeschlichen. Stöhnend arbeiteten die Leute in den Höfen. Der Frohsinn ward zum Tagesrest, den man nur abends kosten konnte. Fade und geschmacklos rieselte das Leben durch die Kehle.

Ja, sie zogen schleppend und träge durch die glühende Steppe. Fieber zermürbten die letzte Spannung. Mancher kehrte heim als Leidender. Einmal ward wieder eine solche Rückkehr verkündet. Aus dem Bananggebiet. Schon Mussa Dierra war als ein Totkranker von dort auf einer Tragbahre heimgeholt. Nun mußte ich auch den Gessere Mussa einheimsen lassen. Auch seine Leute waren schlapp geworden. Wenn er noch lebe, so verdanke er das der Fürsorge einer ganz alten Frau, die ihn mit ihrem Sohne versorgt habe. – Auch dieser Trauerzug langte an.

Und wer hinter der Tragbahre herkam? – Das war die ›alte Matrone‹ aus dem Lande der Tomma. Einer der Träger der Tragbahre aber, ein starker Mann, das war ihr oder ›der‹ wiedergefundene Enkel. Die Alte hatte in Uassulu das Ende des Fadens seiner Schicksale gefunden und hatte es verfolgt bis in ein Fulbelager in Banang. Der Gessere Mussa hatte sie getroffen und ihr, meine Wünsche in solchen Dingen kennend, geholfen. Der Enkel war da!

Hei, war das ein Abend!

Im großen Hinterhofe wurden die Trommeln gerührt. Dolo (Sorghumbier) und Palmwein war zur Stelle. Guter Tabak ward verteilt. Die jungen Männer tanzten, die alten lächelten und schmunzelten, und die Musikanten rasselten zu Ehren der Matrone. Sie aber saß verträumt und selig in einem Winkel, bis die Lustbarkeit ihren Höhepunkt erreichte. Da erhob sie sich, ruckartig, schnell. Und dann – tanzte sie trippelnd und mit verschämt zu Boden geschlagenen Augen – tanzte zierlich wie eben nur eine Greisin tanzen kann – tanzte vor ihrem Enkel, zu seinen Ehren!

Sie, die mehr Kraft der Seele und des Herzens besessen und erwiesen hatte als hundert Männer.

Sie tanzte, die Matrone aus dem einst so edlen Stamme der Kammara!

Sie war jetzt, wie immer, nur Mutter.

Wie versank da doch all die Gloria der edlen Frauen aus hamitischem Blut.

Die Matrone!

Die ›gute Mutter!‹ –

Weininger, Weininger, solches hast du in deinem Leben nie gesehen. Du warst hellsichtig für vieles. Die Heiligkeit und Herrlichkeit der Mutter zu sehen – hierzu warst du nicht begnadet.

Dieses aber war ein elendes altes Weib aus dem Urwald Afrikas.


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