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Anläßlich meiner kleinen Betrachtung ›Die steckengebliebene Poesie‹ habe ich wieder einmal eine größere Anzahl von groben Briefen bekommen. Diese kamen aber nicht, wie man glauben sollte, von Menschen, die im Naturalismus großgeworden sind und daher meine Erörterungen als eine Attacke gegen ihre Jugendliebe hätten auffassen dürfen, auch nicht von den ganz alten Herren, die wahrscheinlich geneigt sein werden, meine Ansicht als Rückkehr zum Wahren, Schönen, Guten, nämlich zur Butzenscheibe mißzuverstehen, sondern von lauter jungen Damen und Herren (die Jugend erkannte ich an der Diktion, das Geschlecht an der Orthographie). Ich vermute, daß es sich hier um Personen handelt, die die naturalistischen Dichtungen eben erst kennengelernt haben und nun mit voller Frische und Eindrucksfähigkeit neu erleben. Sie sind gewiß zu beneiden, aber ich glaube doch nicht, daß sie recht haben. Ihre Argumente sind mir schon deshalb nichts neues, weil ich sie selber vor zehn Jahren mit noch viel größerer Grobheit vorgebracht habe. Dies ist auch jener jungen Dame mit dem entzückenden lila Briefpapier nicht entgangen, die mich daran erinnerte, daß ich einmal geschrieben habe: ›Phantasie ist etwas für Kinder und Naturvölker. Das armselige ›Erfinden‹ wollen wir den Hysterischen, den Blaustrümpfen und den Köchinnen überlassen.‹
Hierauf möchte ich zunächst einmal prinzipiell entgegnen, daß ich mir auch von der Besitzerin des schönsten lila Briefpapiers niemals das Recht verkürzen lassen werde, mir zu widersprechen. Schon deshalb nicht, weil dadurch, daß ich selber mir widerspreche, alle übrigen dieser unangenehmen Verpflichtung enthoben sind.
Und im übrigen hat ja schon Goethe gesagt: »Ihr müßt mich nicht durch Widerspruch verwirren! Sobald man denkt, beginnt man schon zu irren.« Und Emerson: »Heute sprich in scharfen Worten aus, was du heute denkst, und morgen sprich in ebenso scharfen Worten aus, was du morgen denkst, auch wenn es in jedem Punkte dem widerspricht, was du heute gesagt hast. Konsequenz ist ein Kobold, der in engen Köpfen spukt.« Was aber jenen speziellen Einwand mit der Köchin anlangt, so habe ich mich damals zumindest falsch ausgedrückt, wahrscheinlich habe ich aber auch inhaltlich etwas ganz Falsches gesagt. Denn es ist ja ganz richtig: Phantasie kann jede Köchin haben, aber sie hat eben die Phantasie – einer Köchin! Wodurch unterscheidet sich nun das Geflunker der Köchin von dem eines Dante oder Shakespeare? Lediglich dadurch, daß diese letzteren ihre Phantasmagorien mit einer ungeheueren Kraft, Eindringlichkeit und Körperhaftigkeit vorbringen, so daß jedermann sie ihnen glaubt, oder genauer gesagt: so daß sie für jedermann sich zu Wirklichkeiten verdichten. Sie schleudern ihre Gesichte aus sich heraus, mit einer unwiderstehlich diktatorischen Gebärde, und da stehen sie nun, diese Gebilde, voll und massiv, fertig und frei, scheinbar völlig losgelöst von ihren Schöpfern. Das Ganze ist und bleibt aber eine Illusion, eine optische Täuschung, eine Art Magnetiseur- und Hypnotiseurkunststückchen – hier wie dort, nur daß es das eine Mal versagt und das andere Mal gelingt. Aber wenn es auch der armen Köchin nicht glückte: einen richtigen Begriff vom Dichten hatte sie darum doch. Nur kam eben keine göttliche Komödie zum Vorschein, sondern ein Fünfkreuzerroman. Würde man sie fragen, wie sie denn zu den Geschichten gekommen sei, die sie uns da aufbinden will, so würde sie antworten, sie habe sich etwas ›ausgedacht‹. Nun, ganz ebenso hätte Shakespeare geantwortet, wenn man ihn gefragt hätte, wie er zu seinem ›Lear‹ gekommen sei. ›Sich etwas ausdenken‹: ist das nicht überhaupt die Generalbezeichnung für alle schöpferischen Tätigkeiten: für die eines Mozart so gut wie für die eines Helmholtz, für das Werk eines Bismarck und Hindenburg so gut wie für das eines Leonardo und Nietzsche? Was dabei herauskommt, ist Sache der kombinatorischen Fülle und Kraft, des geistigen Muts, der Unabhängigkeit vom Herkommen, der größeren oder geringeren Gottnähe; aber den guten Willen wenigstens, etwas zu erzielen, was es bisher noch nicht gegeben hat, den darf man auf jeden Fall verlangen, denn der ist die erste und letzte Grundvoraussetzung alles Schaffens.
Im übrigen können die ›Naturalisten‹ sich damit beruhigen, daß niemand anderer als Goethe einmal einen Ausspruch getan hat, den sie mit vollem Recht für ihre Kunstansicht in Anspruch nehmen können. Am 5. Juni 1825 sagte er zu – nun natürlich zu Eckermann, als von den Definitionen der Poesie die Rede war: »was ist da viel zu definieren! Lebendiges Gefühl der Zustände und Fähigkeit, es auszudrücken, macht die Poeten.« Dahingegen schrieb Schiller: »Was sich nie und nirgends hat begeben« – das allein sei Poesie. Da haben wir die beiden ›Dioskuren‹, die man, wenn man schon durchaus ein Schlagwort haben muß, doch wohl richtiger ›Antipoden‹ nennen müßte. Prägnanter können zwei polare Künstlerwelten sich nicht gegenübertreten als in diesen beiden Sätzen. Aber während die Feststellung Goethes jedermann ohne weiteres einleuchtet, bezeichnet das Wort Schillers das eigentliche Paradoxon der Künstlernatur, und dieses hat denn auch in Schillers Leben und Dichten eine besonders merkwürdige und lehrreiche Verkörperung gefunden. Emerson leitet seinen Essay über Shakespeare mit den Worten ein: »Wenn wir darin Originalität erblicken, daß eine Spinne ihr Gewebe aus ihren eigenen Eingeweiden zieht, dann ist kein Künstler ein Original.« Nun, Schiller war aber wirklich so eine Spinne: er zog alles aus sich selbst. Gefühl für Zustände besaß er fast gar nicht.
Eigentlich sonderbar: Goethe, unter dem Glassturz aufgezogen, immer von der Berührung mit der harten Realität behütet, nie zurückgesetzt, nie herumgestoßen, von den Verhältnissen emporgetragen wie von einer weichen Wolke, erobert jede Frau, die er haben will, hat immer Geld, immer Erfolg, ist mit fünfundzwanzig Jahren weltberühmt, mit dreißig Jahren Geheimrat: stets befindet sich zwischen ihm und der nackten, rohen Wirklichkeit ein schützender und verhüllender Schleier – und dennoch ist er immer Realist, extremer Realist, dogmatischer Realist, Realist bis zum Irrtum: man denke zum Beispiel an seine ›Farbenlehre‹. Und Schiller: von Jugend auf im Leben stehend, hat alles kennengelernt, jede Art häßlicher und verwundender Notwendigkeit, niemand zeigte ihm ein falsches, schmeichlerisches Gesicht, keine Realität verschminkte sich vor ihm, er lebte nicht in der kolorierten Welt der guten Familie und des Hofes, war Waisenhausschüler, Bettelstudent, Soldat, Deserteur, Lohnschreiber, Theaterkuli, die härtesten und getretensten Berufe hat er einen nach dem anderen völlig durchgekostet – und immer lebt er in einer Welt der Bücher, der Stube, der verklärenden und verkürzenden Abstraktion. Man sieht an alledem: was den Ausschlag gibt, ist die innere Dominante eines Menschen, sind nicht die äußeren Lebensumstände.
Goethe schuf von außen nach innen, Schiller von innen nach außen. Hiermit erledigt sich auch jenes beliebte Aufsatzthema von der Schweiz im ›Tell‹. Schiller kannte von der Schweiz bekanntlich nichts als einige altväterische, wenig anschauliche Beschreibungen, und dennoch ist im ›Tell‹ die ganze Schweiz. Aber ich möchte behaupten, daß er nur deshalb die Schweiz so gut malen konnte, weil er sie nie gesehen hatte. Eine ausführliche Tournee durch sämtliche Berge und Täler hätte ihn nur verwirrt. Die widerspruchsvollen und verschwommenen äußeren Eindrücke hätten sich vor die klaren und kräftigen inneren Bilder geschoben. Eine wirkliche Schweiz hatte dem Dichter Schiller nichts zu sagen.
Es gibt aber noch ein krasseres Beispiel. Im ›Musenalmanach für das Jahr 1800‹ erschien das ›Lied von der Glocke‹. Alle Zeitgenossen waren von der Genauigkeit und Treue, mit der darin die Vorgänge des Glockengusses geschildert sind, überrascht und entzückt. Aber schon elf Jahre früher hatte sich Schiller mit dem Stoff beschäftigt und ging, wie uns Karoline mitteilt, »oft nach einer Glockengießerei vor der Stadt spazieren, um von diesem Geschäft eine Anschauung zu gewinnen«. Die Dichtung wollte aber nicht recht vorwärts gehen, und er legte den Plan zurück. Eines Tages aber fiel ihm ein ganz ödes Buch in die Hände: die ›ökonomisch-technologische Enzyklopädie‹ von Krünitz, er las es – und auf einmal war die Anschauung da. Diese Fähigkeit, aus Büchern die lebhaftesten und deutlichsten Vorstellungen zu schöpfen, besaß übrigens auch Kant. In einem Kolleg über Geographie schilderte er einmal die Londoner Westminsterbrücke so anschaulich, daß ein Engländer den Philosophen, der nie über seine Vaterstadt Königsberg hinausgekommen war, nach der Vorlesung fragte, wie viele Jahre er in London zugebracht habe. Es gibt also zweifellos so etwas wie eine ›innere Anschauung‹. Wie sollen wir uns nun diese sonderbare Erscheinung erklären? Vielleicht hatte Plato doch recht, als er sagte, die Menschen trügen die Urbilder aller Dinge von Anfang an in sich. Die menschliche Seele ist eben durchaus keine tabula rasa, wie Locke behauptet hat, sondern sie verhält sich eher wie die ›Abziehbilder‹, die, entsprechend befeuchtet, allmählich die merkwürdigsten Figuren zum Vorschein bringen. Und alles in allem wird man doch sagen müssen: was den Dichter macht, ist nicht eine besonders scharfe Beobachtungsgabe für äußere Dinge, sondern eine außergewöhnliche Stärke der inneren Aktivität, und auch Goethe kann hierfür als Beispiel gelten. Denn der Mephisto und die Urpflanze hatten schließlich nirgends in der sichtbaren Welt ihr Gegenbild. Das Gehirn der Dichter, ihr ganzer Organismus arbeitet unter vervielfachtem Hochdruck. Daher ihre vielbestaunte Fähigkeit, allerlei zu erraten, aus Rudimenten Totalitäten zu machen. Daher ihre prophetischen Kräfte. Daher ihr Vermögen, sich in die Vergangenheit zu versetzen. Daher vor allem das beglückende und erschütternde Phänomen, daß sie eine eigene Welt besitzen. Woher sonst sollten sie dieses Spinnengewebe nehmen als aus sich selbst? Denn die Welt ist nicht draußen, die Welt ist in uns, immer nur in uns.