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Wir müssen uns fragen, ob das, was man so gemeinhin Originalität nennt, wirklich das Wesen der bedeutenden Persönlichkeit ausmacht. Das große Publikum pflegt in der Regel von einem genialen Menschen zweierlei zu verlangen: daß er etwas ganz Neues sage und daß er ein ganz exotisches Geschöpf sei. Das Genie soll unerhörte, noch nie dagewesene Ideen verkünden, durch die seltsamsten Geisteskapriolen alle Welt in Erstaunen versetzen und eine Menge von höchst verzwickten Dingen können, die sonst niemand kann; es soll eine Art Messerschlucker, Gedächtniskünstler und Klopfgeist sein. Aber welches Genie hat diese Forderungen bisher erfüllt? Welches Genie hat etwas schlechthin Neues geschaffen? Was ist denn ›neu‹? Neu ist der Auer-Brenner, das Mannlicher-Gewehr, der Morse-Telegraph. Trotzdem werden wenige behaupten, daß Auer, Mannlicher und Morse Genies gewesen seien. Dagegen an der Ilias oder am Zarathustra ist gar nichts neu. Die Ilias ist aus Rhapsodien zusammengestohlen, der Zarathustra hat seinen Stil aus der Bibel und seine Gedanken aus einer Menge von früheren Philosophen gestohlen. Stehlen ist ja gar nicht so leicht. Zum Stehlen gehören Geschmack, Takt, weiter Horizont. Die Ilias lag auf der Straße. Sie war nicht einmal gesetzlich geschützt. Aber stehlen konnte sie nur ein Homer. Und es ist bis heute noch keinem Nietzscheaner gelungen, Nietzsche zu plagiieren. Sie können es nicht; es kommt niemals Nietzsche heraus, sondern immer nur der Nietzscheaner Herr Soundso. Man muß ihnen im Gegenteil vorwerfen, daß sie vor dem geistigen Eigentum Nietzsches viel zu viel Respekt haben. Sie haben zum Beispiel ganz aus Eigenem die Figur des skrupellosen Übermenschen geschaffen, die bei Nietzsche gar nicht vorkommt.
Die ganze Geistesgeschichte der Menschheit ist eine Geschichte von Diebstählen. Plato bestiehlt Sokrates, Augustinus bestiehlt Jesus. Giotto bestiehlt Cimabue, Goethe bestiehlt Shakespeare, Schopenhauer bestiehlt Kant. Und wenn einmal eine Stockung in der geistigen Entwicklung der Menschen eintritt, so liegt immer der Grund darin, daß zu wenig gestohlen wird. Im Mittelalter wurden nur die Kirchenväter und Aristoteles bestohlen. Das war zu wenig; deshalb war es eine geistig arme Zeit. In der Renaissance wurde alles zusammengestohlen, was man nur irgend zu Gesicht bekam; deshalb war es eine reiche Zeit. Und wenn ein großer Künstler oder Denker sich nicht durchsetzen kann, so liegt das immer daran, daß er zu wenig Diebe findet. Sokrates hatte das seltene Glück, in Plato einen ganz skrupellosen Dieb zu finden, der sein Handwerk von Grund aus verstand; ohne Plato wäre er unbekannt.
Das Genie ist nichts Überlebensgroßes, Hypertrophisches, Exzeptionelles, sondern die richtige Lebensgröße und der natürliche Kanon. Ein genialer Mensch verhält sich zu den übrigen nicht wie der Riese zu den Zwergen, sondern wie das Normalgebilde zu den Freaks.Mißgeburten Daß das Genie eine organische Form ist, die höchst selten vorkommt, ist nur ein Beweis hierfür. Denn das Normale ist ja überhaupt in der Natur die höchst seltene Ausnahme, und Mißbildungen und Unregelmäßigkeiten sind die Regel. Auch die körperliche Erscheinung des Menschen ist in Millionen von Fällen einmal vollkommen den anatomischen Gesetzen entsprechend. Und einen geistig ganz normalen Menschen, dessen Seele absolut nach dem Kanon gebaut ist, nennt man Genie. Man hat bei solchen Menschen nicht den Eindruck von etwas Absonderlichem und Außergewöhnlichem. Sondern im Gegenteil, man denkt sich: wenn es in der Welt richtig zuginge, müßten alle Menschen einen ebensolchen Weitblick besitzen wie Bismarck, ebensolche Gehirne haben wie Kant, ebenso zu leben verstehen wie Goethe und ein ebenso gebautes Herz haben wie Emerson. An allen diesen Menschen ist nichts von ›Kunst‹ zu spüren: niemand kann ihnen irgendwelche Handgriffe abmerken, denn sie haben gar keine angewendet. Verwunderlich ist an ihnen nur dies eine: daß nicht alle übrigen Menschen ihnen gleichen. Und das Charakteristische ihrer Schöpfungen besteht darin, daß jedermann von ihnen den Eindruck hat: »Es ist ein Zufall, daß ich es nicht gemacht habe.« Und so falsch dieses Urteil auch im Grunde ist, so ist es doch das einzige Merkmal, das uns die sogenannten ›ewigen‹ Kunstwerke von den bloß modischen Meisterstücken unterscheiden läßt. Denn diese letzteren erfüllen ihre Zeitgenossen zwar regelmäßig mit der allergrößten Bewunderung, aber dafür sehen spätere Zeitalter in ihnen nur noch ›historische Belege für den damaligen Kulturzustand‹.
Der originelle Mensch glaubt nur an das, was er selbst persönlich erfahren hat. Für die meisten Menschen ist das ganze Leben nicht eine unmittelbare persönliche Erfahrungstatsache, ein Erlebnis, sondern eine Art Mitteilung aus zweiter Hand. Das Original aber stellt sich zu jeder, der kleinsten wie der größten Tatsache zunächst skeptisch, es läßt die Dinge an sich herankommen, um sie zu prüfen. Der Durchschnittsmensch verhält sich passiv zur umgebenden Welt, er läßt sie auf sich einwirken, seine Vorstellungen sind tote Abdrücke und nicht Resultate einer lebendigen Aktion, einer Reaktion gegen die Eindrücke. Der originelle Mensch hingegen hat den Grundsatz: es muß alles von vorn angefangen werden. Und hierin liegt die gemeinsame Bedeutung aller genialen Menschen auf allen Gebieten, in Kunst und Wissenschaft, in Religion und Politik. Es ist gleichgültig, auf welche besondere Lebenssphäre sie ihren Blick richten: immer ist dies ihr Standpunkt und ihre Aufgabe. Descartes und die Scholastik, Richard Wagner und die Oper, Virchow und die Pathologie, Luther und der Katholizismus, Ibsen und das Drama, Bismarck und die deutsche Politik, Lavoisier und die Chemie: es ist immer dieselbe Stellung. Es muß alles von vorn angefangen werden. Sie glauben nicht daran, daß etwas richtig ist, weil es bisher von allen für richtig gehalten wurde. Es kommt gar nicht darauf an, daß ein solcher Denker auf diesem Wege zu neuen, überraschenden und entgegengesetzten Resultaten kommt (sehr oft erkennt er die Richtigkeit des Bestehenden), sondern es ist eben der Weg, diese bestimmte Methode des Denkens, die ihn von anderen unterscheidet.
Die genialen Bücher setzen uns immer wieder von neuem in Erstaunen. Wir erwarten etwas Geistreiches und finden statt dessen das Gegenteil: etwas Wahres.
Die Originalität jedes Menschen besteht in seiner Tüchtigkeit. Wer irgend etwas wirklich kann, der ist originell und unersetzlich. Darum ist die landläufige Bemerkung »Kein Mensch ist unersetzlich« so ziemlich das Dümmste, was gesagt werden kann. Sie wurde von jenen Menschen aufgebracht, die allerdings ersetzlich sind und auch in der Tat immer wieder ersetzt werden: von den Kretins. Ein bedeutender Mensch stirbt. »Das Leben geht dennoch weiter«, sagt man. Natürlich, es geht weiter. Aber wie? Mit einem Schlage ist aus einer wohlorganisierten, zentralisierten Institution ein jämmerlicher Mißbetrieb geworden. Ein Mensch, der auf die Hirnschale fällt, ›geht auch weiter‹, aber als ein trostloses, bemitleidenswertes Zerrbild seiner selbst. Wenn Julius Cäsar nicht ermordet worden wäre, würden Europa, Afrika und Asien heute ein anderes Antlitz haben. Natürlich, sie sind nicht bei seinem Tode vor Schreck in den Ozean versunken, aber die Menschen haben sich jahrhundertelang vergeblich um Dinge abplagen müssen, die fast schon realisiert waren; und das ist ebenso schlimm. Man denke, daß Goethe bei Valmy gefallen wäre. Die ganze deutsche Kultur würde heute anders aussehen. Oder daß das Attentat auf Bismarck im Jahre 1866 geglückt wäre. Oder man wage sich auszudenken, daß Nietzsche heute noch,Der Essay erschien 1912. als noch nicht Siebzigjähriger, schaffend unter uns lebte. Das ist schon ganz unvorstellbar in seinen Wirkungen. Kleist erschoß sich im Alter von vierunddreißig Jahren. Infolgedessen haben wir kein deutsches Drama. Aber die Menschen sagen: »Niemand ist unersetzlich; war es nicht der, so war's ein anderer.« Jawohl: Kotzebue.
Bekanntlich hat Shakespeare im ›Julius Cäsar‹ den Plutarch wörtlich abgeschrieben. Manche bedauern, daß dadurch ein häßlicher Fleck auf den großen Dichter fällt. Andere sind toleranter und sagen: Ein Shakespeare durfte sich dies erlauben! Beiden ist jedoch zu erwidern: Wenn man von Shakespeare nichts wüßte als dies, so würde dies allein ihn schon als echten Dichter kennzeichnen. Es ist wahr: große Dichter sind oft originell, aber immer nur, wenn sie müssen. Sie haben nie den Willen zur Originalität; den haben die Literaten. Der Dichter ist ein Mensch, der sieht und sehen kann, weiter nichts. Und er freut sich, wenn er einmal ganz ohne Einschränkung seinem eigentlichen Beruf obliegen kann: dem des Abschreibens. Wenn Shakespeare den Plutarch abschrieb, so tat er es nicht, obgleich er ein Dichter war, sondern weil er ein Dichter war. Die Halbgenies, die Talente, die Spezialisten suchen sich und überall nur sich. Sie erblicken in allem: in Gott, Natur, Menschen, Ereignissen, Büchern nur eine Gelegenheit, sich in Szene zu setzen. Das Genie aber hat eine leidenschaftliche Liebe zum Guten, Wertvollen; es sucht nichts als dieses. Hat schon ein anderer die Wahrheit, zum Beispiel Plutarch, – wozu sich auch nur um einen Schritt von ihr entfernen? Was könnte dabei herauskommen? Es bestünde die Gefahr, eine Wahrheit, die minder groß und wahr wäre, an die Stelle der alten zu setzen, und diese Gefahr fürchtet das Genie mehr als den Verlust seiner ›Originalität‹. Lieber schreibt es ab. Lieber ist es ein ›Plagiator‹.
Kurzum: es gibt eine bestimmte, ziemlich kleine Zahl von unveränderlichen Wahrheiten. Aber die Stellung, die die einzelnen Menschen zu diesen Wahrheiten einnehmen, ist eine recht verschiedenartige. Der Durchschnittsmensch zweifelt sie an. Das Talent macht den vergeblichen Versuch, sie zu vermehren. Und das Genie wiederholt sie.