Egon Friedell
Wozu das Theater?
Egon Friedell

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Kunst und Mache

Lieber Herbert Eulenberg!

Vor kurzem fiel mir ein Aufsatz von Ihnen in die Hand, den ich ebenso reizend in der Form wie verwerflich im Inhalt finde. Sie polemisieren darin nämlich gegen nichts Geringeres als gegen den Aktschluß, das Palladium des Dramatikers, die Eizelle, aus der jedes richtige Drama entsteht! Gestatten Sie, daß ich Ihnen hierauf einiges erwidere, denn es besteht die Gefahr, daß manche jungen, strebsamen Dramatiker sich durch das Gewicht ihres Namens verleiten lassen, dieser ketzerischen Irrlehre zu folgen.Der Dramatiker, Erzähler und Essayist Herbert Eulenberg wurde 1920 Direktor des Burgtheaters. Friedell hatte zu Eulenberg ein ›ambivalentes Verhältnis‹; meist parodierte er ihn.

Der Aktschluß ist ein Kunstmittel, das sich aus der Theaterform, die wir heute besitzen, organisch entwickelt hat. Diese Theaterform ist vielleicht unzulänglich oder sogar unkünstlerisch; aber sie besteht, und der Dramatiker muß sie, wie sie einmal da ist, auf die geschickteste und wirksamste Weise zu handhaben suchen, indem er auf keine ihrer möglichen Finessen und Raffinements verzichtet, sondern sich sogar noch bemüht, neue Finessen und Raffinements hinzu zu erfinden. Man kann nun natürlich sagen, jeder Aktschluß sei Mache oder Trick, der natürliche Gang der Handlung verlange ihn nicht. Aber ist nicht alle Kunst Mache und Trick? Jede Kunst ist Arrangement, Komposition: Umstellung der Wirklichkeit. Jede Kunst hat ihre eigenen Kniffe und Mätzchen; man nennt dies nur für gewöhnlich wohlwollender: ihre eigenen Formen und Gesetze.

Ein guter Aktschluß ist so wenig ein Einwand gegen ein Drama, wie ein guter Reim ein Einwand gegen ein Gedicht ist. Allerdings: ein guter. Sie bringen in Ihrem Aufsatz als Exempel einen ›Kleopatra‹-Aktschluß, wie ihn ein Techniker schreiben würde: er würde nach Ihrer Ansicht sich mit der einfachen Anweisung Shakespeares: »Kleopatra setzt eine Schlange an ihren Arm, fällt zurück und stirbt« nicht begnügen. Und Sie fingieren eine halbe Seite Regieanweisungen, in denen der Tod der Kleopatra in eine quälende und ermüdende Pantomime auseinandergezogen wird, und nennen das Ganze ein ›Geseire‹. Nun, verehrter Doktor, da haben Sie vollkommen recht, aber das beweist nichts. Denn was Sie da ausgemalt haben, ist ein ganz miserabler Aktschluß, es ist sogar der Typus des Aktschlusses, wie er nicht sein soll. Es ist nichts als eine undramatische Verzettelung des dramatischen Vorganges, der einzig und allein darin besteht, daß Kleopatra sich vergiftet. Wollte man diesen Aktschluß theatermäßig formulieren – obgleich ich ausdrücklich betonen möchte, daß ich ihn weder für einen guten noch für einen schlechten, sondern für gar keinen Aktschluß halte –, so müßte man der Regie vorschreiben: »In dem Augenblick, als Kleopatra nach der Schlange greifen will, fällt rasch der Vorhang«: man müßte ihn also verkürzen, statt ihn zu verlängern.

Der Aktschluß ist gewissermaßen das Interpunktionszeichen im Satz des Dramas. Ein Interpunktionszeichen ist ein Ausdrucksmittel, und nichts, denke ich, sollte dem Künstler erwünschter sein als Ausdrucksmöglichkeiten. Es gibt nun da allerdings feinere und gröbere Unterschiede. Man kann einen einfachen Punkt machen: den, behaupte ich, muß man sogar machen, sonst macht ihn der Vorhang. Man kann ein Ausrufungszeichen machen: dies geschieht in allen jenen Fällen, in denen der Dramatiker die Situation am Schluß noch einmal lärmend zusammenballt. Man kann aber auch plötzlich, ganz am Schluß erst, einen neuen Kontrast oder Konflikt hineinplatzen lassen, der ungelöst bleibt: dies würde etwa dem Fragezeichen entsprechen. Oder aber – und das ist am schönsten – die Sache bricht mitten drin ab, der Vorhang schneidet jäh und brutal in die Geschehnisse, die wir eben erst kaum zu begreifen anfingen. Diese Form des Aktschlusses, die wir dem Gedankenstrich vergleichen könnten, ist die subtilste und darum die wirksamste; sie ist meines Wissens erst durch Ibsen aufgebracht worden.

Alle Dramatiker haben sich nun mehr oder weniger um eine dieser Aktschlußformen bemüht. Kleist zum Beispiel, gegen den Sie doch gewiß nichts einzuwenden haben werden, hat den apostrophierenden Fanfarenaktschluß, genau wie der von Ihnen so verlästerte Schiller; Hebbel neigt mehr dem Fragezeichenaktschluß zu. Nun führen Sie aber Gegeninstanzen an: Molière, »dem vornehmsten und genialsten Gallier« (ich hätte Pascal gesagt), Shakespeare, der diese Dinge nur am Ende des Stückes bringt und Goethe. Aber die Sache liegt sehr einfach: Molière hatte keine Aktschlüsse, weil er überhaupt keine Akte hatte. Es blieb ihm nur das Kunstmittel der ›Auftritte‹ und ›Abgänge‹, und das hat er gehörig ausgenützt. Aus einem ganz ähnlichen Grunde hat Shakespeare ›nur‹ Stückschlüsse. Und was Goethe angeht, so verhält es sich nicht weniger einfach: er konnte nämlich keine Aktschlüsse machen, wie er überhaupt keine Theaterstücke machen konnte. Daß er aber von der Technik des Theaters nicht verächtlich dachte, beweisen seine Inszenierungen in Weimar, die es an den üblichen Effekten wahrhaftig nicht fehlen ließen, und seine Äußerungen zu Eckermann. Und er hat sich auch selber in Aktschlüssen öfter versucht, die dann aber regelmäßig viel schlimmer wurden als die ›knalligsten‹ Aktschlüsse des von Ihnen so heftig denunzierten Richard Wagner. Einen so rein opernhaften Stückschluß hat sich Wagner in keiner seiner Opern geleistet wie Goethe im ersten Teil seines ›Faust‹ mit der ›Stimme von oben‹. Sie nennen den Schluß der ›Jungfrau‹ opernhaft; aber der Schluß des ›Egmont‹ ist schon nicht mehr opernhaft, das ist bereits ein veritabler Film. Diese Dinge hat nun Goethe sehr bald eingesehen, und er hat sich das einzig Richtige gesagt: Ich kann eben keine richtigen Theaterstücke schreiben, und das ist ein Mangel, vermutlich ein verzeihlicher, denn ich kann ja andere Sachen, die mehr wert sind; aber es wäre töricht von mir, deshalb einen Menschen, der sich im Theater der Mittel des Theaters bedient, unkünstlerisch zu nennen.

Die Kunstform des Aktschlusses erklärt sich übrigens auf sehr einfache Weise: durch die Institution des Vorhanges. Wenn der Vorhang nach den einzelnen Akten fällt, ist das Stück für den Zuschauer jedesmal aus, das heißt, er ist dem Bann des Kunstwerkes entzogen und hat andererseits Gelegenheit, über das, was ihm vorgeführt wurde, reiflich nachzudenken. Es ist daher nur zu begreiflich, daß der Dichter sich bemüht, sich vom Publikum mit möglichst eindringlichen Worten und Situationen zu verabschieden. Das macht auch jeder öffentliche Redner am Schluß: er sucht sich einen guten Abgang. Dasselbe intendiert jeder Komponist, jeder Verfasser eines Buches, eines Aufsatzes, eines Gedichtes, eines Liebesbriefes. Ganz populär ausgedrückt könnte man sagen: das letzte Wort behält zumeist recht: also muß der Dramatiker, wenn er recht behalten will, sein letztes Wort möglichst überzeugend und wirksam gestalten. Es ist derselbe Instinkt, der die Menge veranlaßt, großen Männern irgendwelche bedeutsame ›letzte Worte‹ in den Mund zu legen, in denen sie den Sinn und Inhalt ihres Lebens noch einmal epigrammatisch zusammenfassen. So entstand jenes »Mehr Licht!«, das sicher, wenn es überhaupt gesprochen wurde, keinen symbolischen Nebensinn hatte. Von allen ›letzten Worten‹ habe ich übrigens keines so zutreffend gefunden wie das wenig bekannte von Ibsen: er sagte nämlich: »Im Gegenteil«.

Um sich die Wichtigkeit des Aktschlusses klarzumachen, bitte ich Sie, zu bedenken, wie entscheidend es ist, ob der Vorhang langsam oder schnell und ob er eine Sekunde früher oder später fällt. Sehr viel mehr Stücke als man glaubt, sind aus solchen Gründen durchgefallen. Laube gab vor jeder Premiere dem Vorhangzieher einen Gulden: er wußte genau, daß dieser schlichte Mann einer der wichtigsten Menschen im ganzen Theater ist. Freilich könnte man einwenden, daß in vielen heutigen Theatern der Fallvorhang, der so glänzende Effekte erzielt, gar nicht mehr existiert, sondern so eine Art Portiere, die sich ganz teilnahmslos zusammenfaltet. Aber diese abscheuliche Unsitte beweist nur, daß der heutigen Generation von Regisseuren der Sinn für das Theatralische abhanden gekommen ist.

Kurz: ich glaube, verehrter Herr Eulenberg, wenn Sie ein so enragierter Gegner des Aktschlusses sind, so gibt es für Sie nur zwei Möglichkeiten: Entweder Sie machen es wie Goethe, der bei seinen Stücken überhaupt nicht mehr ans Theater dachte, sondern an den viel empfindlicheren und empfänglicheren stillen Leser; oder aber Sie bedienen sich einer – übrigens ja schon in Entwicklung begriffenen – Theaterform, in der die Akte und daher auch die Aktschlüsse wegfallen. Ich glaube aber, daß Sie auch in dieser neuen, gereinigten Kunstform nicht ohne alle Tricks und Kunstgriffe auskommen werden – ohne andere Tricks natürlich. Und dann wird nach zwanzig Jahren ein anderer Eulenberg kommen und Sie als ›öden Macher‹ entlarven.


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