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In meinem Arbeitszimmer hängt Kainzens Totenmaske, von seinem Kollegen Otto Treßler abgenommen. Sie ist so placiert, daß mein Blick fast jedesmal auf sie fallen muß, wenn ich ihn erhebe, und so kommt es, daß ich sie wohl mehr als hundertmal am Tage ansehe; merkwürdigerweise: fast jedesmal ist sie anders. Wie das Meer am Schiffskiel sich unaufhörlich anders färbt, bald orange oder fleischrosa, bald purpurrot oder glasblau und dann wieder milchweiß, giftgrün, schwefelgelb oder lackschwarz: so wechselt dieses Antlitz fortwährend auf geheimnisvolle Weise seinen Ausdruck; bisweilen sieht es aus wie der Porträtkopf eines römischen Cäsars: listig, lasterhaft und degeneriert, und gleich darauf wie das Bild eines verzückten Heiligen, vor dessen entrücktem Blick die Pforten des Paradieses aufspringen; das eine Mal zeigt es die stumpfen Züge einer uralten Frau und ein andermal die wüste Grimasse eines zynischen Komödianten, und dazwischen ist es ein träumender Dichter, ein grübelnder Philosoph, ein schmerzlich lächelnder Asket, ein geil schmunzelnder Faun, ein sorglos lachender Knabe, ein still vor sich hinlächelnder Irrer: hie und da ist es auch dies alles zusammen, seltsam pervers und schillernd gemischt, und in manchen Augenblicken ist es nichts, gar nichts als eine leere, ausdruckslose Gipshülle.
Vielleicht darf man in diesem eigentümlichen vielfältigen Eindruck, den das Bild des toten Kainz macht, ein Symbol der Wirkung erblicken, die der lebende Kainz geübt hat. Auch dieser war ja fast unerreicht in der Kunst, in jeder Rolle, ja in jeder Szene eine andere Haut zu zeigen, durch den ununterbrochenen Wechsel der Farben und Lichter das Auge zu überwältigen; und doch hat man von ihm immer wieder behauptet, er sei in allen seinen Gestalten stets nur derselbe Josef Kainz. Die Wahrheit wird wohl gewesen sein, daß er in der Tat nur ruhelos das Mienenspiel seiner Seele veränderte, während diese selbst, geheimnisvoll und ewig gleich, in einem Winkel thronte, daß er jeden Tag eine neue bezaubernde Maske vorband, hinter deren Glanz immer derselbe Mensch im Dunkel saß: Josef Kainz, der müde, reich beladene, aber auch schwer belastete Erbe der Kultur eines zur Ruhe gehenden Jahrhunderts, ja eines ganzen sterbenden Weltalters.
Dies eben ist ja seine bleibende Bedeutung, daß er der künstlerische Gestalter jener seelischen Übergangszeit war. Diesen Menschen der interessanten Degenereszenz, den unausgeglichenen Zwischenmenschen, der den Prolog zur kommenden Kultur spricht, hat niemand lebendiger und eindrucksvoller zusammengefaßt als Josef Kainz; Kainz, der die Sätze zerhackte oder zersprudelte und ihnen gerade dadurch eine neue merkwürdige Schönheit verlieh, der in seinen Gesten, seinem Mienenspiel, seiner flackernden Durchgeistigung des Körpers gewissermaßen stilisierte Fahrigkeit war, der in allen Figuren – einerlei, ob sie von Shakespeare, Ibsen oder Nestroy waren – den Menschen der Jahrhundertwende vibrieren ließ; den typischen Maléquilibré aus seelischer Überfülle, den Menschen der überwiegenden Intellektualität, in dem Kopf und Herz noch keine organische Synthese gebildet haben, den Vorläufermenschen, der überreif ist aus Unfertigkeit, den provisorischen Menschen, der aus Surrogaten: Verstand, Fleiß, Wissen aufgebaut ist, vorwiegend ein Produkt des Kalküls, genauer Ineinanderfügung und exakter Beherrschung der Teile, einer subtilen und leistungsfähigen Präzisionsmaschine vergleichbar. Kainz hat das Moment der Arbeit in seine Kunst eingeführt, das ihr bis dahin fast fremd war. Er arbeitete unter einem ungeheuren Hochdruck von Selbstzucht, Übung, Geistesschärfe, Gedächtnis.
Obgleich er hierdurch die Schauspielkunst zweifellos auf ein höheres Niveau gehoben hat, so fehlte ihm doch andrerseits etwas, was die Früheren – zum Beispiel die Künstler des alten Burgtheaters – besaßen, nämlich das, was man das physiologische Mysterium nennen konnte. Er wirkte niemals als etwas Unerklärliches. Man konnte ihm seine Wirkungen zwar nicht nachmachen, wohl aber nachrechnen. Wenn Sonnenthal oder die Wolter, Lewinsky oder die Hohenfels auf die Bühne traten, so trennte den jüngeren Zeitgenossen eine riesige Kluft von dieser vorzeitlichen Kunst, aber dennoch konnte sich niemand dem magischen Einfluß, den sie ausübten, entziehen. Diese Künstler wirkten gewissermaßen als organische Besonderheiten, rein physiologisch, durch ihr Dasein, wie Pflanzen oder Tiere. Hier ragt blau und streng eine lange Tanne, dort träumt lieblich und stumpfsinnig eine dicke Wasserrose, hier hüpft plattfüßig und glotzäugig ein grünlackierter Frosch, dort rennt äußerst wichtig ein metallblauer Laufkäfer: man kann nicht sagen, worauf die unvergleichlich suggestive, überwältigend realistische und doch seltsam romantische Wirkung dieser mysteriösen Wesen beruht; aber sie ist da. Und ebenso waren diese alten Schauspieler von einer unerklärlichen Atmosphäre umwittert, die an Wald, Luft und Erde und zugleich an ganz unwirkliche Träume und Visionen erinnerte.
Unsere Zeit bringt solche Künstler nicht mehr hervor; dazu ist sie zu schwach, zu bewußt geworden. Und der Schauspieler der Zukunft wird die Synthese darstellen aus dem überlegenen Gehirnkünstler des Fin de siècle und dem geheimnisvollen Naturmenschen der guten alten Zeit. Auf diesem Weg war Kainz nur eine Etappe von unvergeßlich farbenstarker Phosphoreszenz.