Egon Friedell
Wozu das Theater?
Egon Friedell

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Aphorismus gegen die Germanisten

Die Germanistik ist ungebildet in der umfassendsten Bedeutung des Wortes. Ihre indiskrete, unfeine Art, dem Dichter auf den Leib zu rücken, seine Taschen nach Briefen und Zettelchen zu durchstöbern, die Intimitäten verraten könnten; ihre ebenso taktlosen wie ungeschickten Versuche, seine psychologischen Mysterien zu enträtseln; ihr roher Materialismus der ›Materialien‹, der Anbetung positiver Zahlen und Fakten; ihre plumpe, schematisierende, sektiererhafte Methodik; ihr vollkommener Mangel an persönlicher Weltanschauung, aus der heraus sie seine andere persönliche Welt verstehen könnte; die Zufälligkeit ihrer Themenwahl, die bei ihr von dem brutalen Gesetz der momentanen akademischen Nachfrage bestimmt wird; ihr fast durchweg barbarisches Deutsch und ihr Hang für die ausgemünzte, gangbare Phrase; ihre völlige Unwissenheit auf allen nichtgermanistischen Gebieten, verbunden mit dem Parvenüstolz und Dünkel auf ihrem Fachgebiet: dies alles macht die Germanistik und Literaturwissenschaft zu einer ebenso lächerlichen wie furchtbaren Attacke gegen die Bildung.

Die Germanistik ist durchaus nicht der Gegenpol des Journalismus. Wenn man von ihr die Philologie (Philologie in jedem Sinne: alle Mikrologie und Kleinwissenschaft) abzieht, so bleibt nichts übrig als schöngeistige Rhetorik, platter Tatsachenkram und trivialer Rationalismus; also alle jene Bestandteile, aus denen sich der Journalismus zusammensetzt. Es bleibt: verlangweilter Journalismus, um den letzten einzigen Reiz gebracht, den er besitzt: seine Aktualität. Für Literaturhistoriker gibt es freilich nichts als die Vergangenheit; man kann sogar sagen: sie haben die Vergangenheit erfunden, sie besitzen die mysteriöse Fähigkeit, alles durch ihre Berührung zu etwas Historischem, Abgelebtem, Überholtem zu machen. Daß unsere Klassiker derartig abgeplattet und entseelt sind, daß wir uns nicht vorstellen können, wie sie jemals lebendig waren, ist die nunmehr glücklich vollzogene Arbeitsleistung ganzer Seminargenerationen. Sie gleichen darin einem Physiologen, der die Funktionen des Lebens durch Obduktion eruieren wollte; sie haben es sich in den Kopf gesetzt, den dichterischen Organismus in allen seinen kleinsten vitalen Äußerungen zu ergründen – aber ehe sie daran gehen, bringen sie ihn jedesmal vorher um. Nun gibt es allerdings in der Medizin ein geeigneteres Verfahren, dessen analoge Anwendung den Germanisten zu empfehlen wäre: nämlich die Röntgenstrahlung. Dazu ist aber einige Gabe des Durchleuchtens nötig, und überhaupt zunächst die Gabe, zu sehen; und diese beiden Fähigkeiten wird man in diesen Kreisen freilich vergeblich suchen. Denn das Auge ist kein Germanistenorgan, sondern die Hand, die schreibt, blättert und blind seziert.

Demgemäß ist auch ihr Beruf ein Handwerk, und hierin zeigen sich die Germanisten gleichfalls als bloße gelehrte Vettern der Journalisten. Beide leben von der robusten Anwendung einer bestimmten, durch die Zunft in jahrzehntelanger Übung vorgebildeten Routine. Sie sind niemals Dilettanten.

Nun weiß man ja ziemlich genau, was ein Dilettant ist, denn darin sind sich alle Berufsmenschen einig. Ein Dilettant ist ein Mensch, der Temperament, Universalität, philosophische Begabung, Verachtung für Einzelheiten und eine neue Technik hat; lauter Dinge, die der Fachmensch absolut nicht gebrauchen kann und verabscheut.

Beim Gelehrten äußert sich der Dilettantismus vorwiegend in ungenügender Kenntnis der Materie. Jakob Burckhardt war ein vollkommener Laie in der Hellenistik – darin haben die Archäologen sicher recht; aber es genügt schließlich, daß er diese Wissenschaft vollständig modernisiert und damit wieder für weitere Kreise genießbar gemacht hat. Herman Grimm war in keinem der vielen Fächer, über die er unberechtigterweise geschrieben hat, kompetent; aber die Nachwelt gibt sich damit zufrieden, daß er einer der kultiviertesten Menschen gewesen ist, die seit Goethe in Deutschland literarisch tätig waren. Alle diese Dilettanten erkennt man übrigens sehr leicht daran, daß sie regelmäßig von allen Fachautoritäten bekämpft werden. Was sogar fast immer berechtigt ist; denn wenn man sich zum Beispiel vorgesetzt hat, eine neuartige, aus den historischen Bedürfnissen unserer Zeit erwachsene Darstellung der gesamten deutschen Kulturentwicklung zu geben, wie Lamprecht, so kann man über alle Einzelheiten nicht so erschöpfende Studien gemacht haben wie eine Obskurität, die davon lebt, einen Fehler in der Schätzung der Zahl der Bogenschützen, die im Geplänkel bei Pfäffikon beschäftigt waren, erschöpfend nachzuweisen, oder über den Stammbaum der Margarete Maultasch neue überraschende Aufschlüsse zu geben. Man kann sogar noch weiter gehen und sagen: der wirklich produktive Forscher, selbst wenn er ›Autorität‹ ist, wird das gar nicht sein wollen. Der feine Kopf wird den Dilettantismus allemal instinktiv bevorzugen, denn Dilettantismus ist die einzige Form, in der ein kultivierter Intellekt sich überhaupt zu äußern vermag, weil sie die einzige ist, die weit genug ist, um einem umfassenden Geist ausreichende Bewegungsmöglichkeit zu bieten. Daher die vielgerühmte und gänzlich mißverstandene Bescheidenheit der großen Gelehrten, die keine ›Fachgrößen‹ sein wollten, weil sie wußten, daß sie Größen sind.

Wer nichts weiß als sein Fach, der weiß gar nichts – und zwar auch für sein Fach nichts. Denn er muß ungeheuer viel mehr wissen, um die Lage, die sein Fach innerhalb des übrigen Wissensbetriebes einnimmt, einigermaßen feststellen zu können und allerlei Beziehungen auffinden zu können, an die vor ihm noch niemand gedacht hat, was recht eigentlich die Aufgabe des menschlichen Denkens und der Wissenschaft ist. Alles reine Spezialistentum, soweit es nicht praktischen Zwecken dient, ist eine müßige Spielerei und Privatliebhaberei und nur dazu geeignet, die unbefangene Sachkenntnis zu verwirren, so oft auch das Gegenteil behauptet worden ist. Weswegen Jean Paul gesagt hat: »Jeder Fachmann ist in seinem Fach ein Esel.«


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