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Wie aber soll ich Worte wirken, bunt und weich genug, um sie als Teppich vor dich hinzubreiten? Wie soll ich dein Bild in zärtlichem Perlmutterglanz aus dem tiefen Meer der blauen Vergangenheit aufschimmern lassen für die armseligen Neuigkeitenfischer am kümmerlichen Strand der Gegenwart? Wie schmücke ich den Alltag mit festlicher Erwartung, mit Kerzenhelle den Empfang für das Gnadengeschenk deines Erscheinens? Und wie vermag ich deiner Seele dicht umschleierte Verklärtheit auffunkeln zu lassen vor der blinzelnden Kurzsicht – du zeitlos strahlende unter den Frauen? Fürstenkind du, von Würde und von Geburt, Königin im Geist und durch die Krone deines Stolzes. Liebende, Leidende, Leuchtende. Über das Schweigen der Jahrtausende hinweg klingst du, lautere Glocke, hinein in der Töne Chaos, das uns wirr umrauscht in diesen Stunden der grauen grausigen Verzweiflung, des schmerzhaft bittern Gelächters, das dem Lachenden Wunden brennt und ihn mit Hohn ätzt und mit Verzweiflung vergiftet. Zagend stehe ich vor dir, der schlanken, freien, den Thron erhöhenden Gebieterin. Tief in mir berge ich deinen Namen und dein Schicksal, du Wunder deiner Tage, glutende Sonne, die edlen Saft zu Farbe, Duft und Blüte trieb, alles Unkraut aber, das um dich gekeimt, verdorren ließ und welkte. Flamme und Frucht warst du, selbstherrlich unter den Marionetten Gottes und in der dumpfen Verstricktheit deiner Umgebung. Von allen Frauengestalten, von denen das altersgeheiligte, durch Sinn und Unsinn gleich heimelige, gleich unheimliche große Buch erzählt, bist du die rührendste und die erhabenste zugleich. Weibes Allgeschick, Dulden und Ertragen ward auch dir zuteil. Aber ein heldischer Wille zwang die Schwäche deines Geschlechtes, hob dich über die dunstatmende Tiefe, aus der Dunkelheit der Höhlen und Grüfte und über das nicht ausdenkbare Elend, hassen zu müssen, wo du liebtest, verachten zu müssen, wo du so gern, so leidenschaftlich zur Anbetung bereit warst. Deine Stimme tönt in mir, und sie sang in mir, je und je, das prunkende Lied deiner Herrlichkeit. Über die Zeiten hinweg, über die Vergessenheiten, über die immer gleiche, immer gleich unverständliche Torheit der winselnden Menschenbrut fühle ich das Schweben und Schwingen deines Wesens, redet zu mir das verwandte Blut. Ich grüße dich, Schwester, grüße dich, Gefährtin meiner Verzagtheiten und meiner Zuversicht – die du vor dreißig Jahrhunderten vergingest an unbekannter Stätte, unbeklagt in selbstgewählter Einsamkeit. Die du lebst, gestern und heute, und noch lebendig sein wirst, wenn manche Einbildung und vieles Wichtigtun aus unseren Tagen schon lang verschollen ist, verronnen und vermodert. Ich grüße dich in Inbrunst, grüße dich in Sehnsucht, denn ich liebe dich – ich liebe dich! Und will nun von dir künden, weil ein fernher gemahnender Ruf mich von dir reden heißt: was du warst und wie du geworden, was du getan und wie du gelitten. – Höret von ihr, der einzelnen Einen unter den Kindern des Edenfluches, höret von ihr die sinnvolle Sage. Lauscht, laßt euch erzählen vom Unglück der Michal, des David Gemahlin – vom Triumphe der Michal, der Tochter des Saul.
Aus ihren jungen Tagen ist nicht viel zu berichten. Kinder des Orients – das ist ein verwirbelter, in Sonne und Sand gedörrter grellbunter Haufen kleinen Menschentums. Mit Schmerzen, kläglich, unfertig, mit schnellem, unsagbarem Weh, manchem Rutenstreich und rasch getrockneter Träne – wie schließlich Kinder überall. Mit dem Vorrecht des noch nicht Verstehens, der Hast, alles in sich zu schlucken, der ablehnenden Feindseligkeit gegen die hochmütige Dummheit der Erwachsenen, und begabt mit der triebhaften Klugheit der Geschwister ihrer Lebensstufe, der Tiere. Kinder im alten Orient? – Noch ein wenig gleichgültiger, sich selbst mehr überantwortet, noch mehr der Krankheit ausgesetzt, dem Schmutz, der Trägheit zum Geschenk belassen, noch mehr Gelärm, Raufen, Beißen als anderswo. Aber auch heißeres Blut, früheres Reifen, süßere Träumereien, Ahnungen, Märchen als in den Ländern und Zeiten von der Menschheit Nebelfrost. Ein Zicklein, auf die Weide geführt, ein glitzernder Stein, ein purpurner Blütenmund, saftiger Feigen, schmelzender Datteln Gaumenweide, der Brandaltar, geheimnisvoll umsungen von Priesterpsalmodie, vom Opferrot bespritzt. Schlaffes Dämmern bei Tag, matt von der Unbarmherzigkeit der die Augen fast zersprengenden Sonne; in der Abendkühle ein Gang zum Brunnen, an dem weither gekommene Waller mit seltsam flatterndem Burnus die häßlich ungeheuren Gestalten müder Kamele tränken. Enges Schmiegen in die Hand der Magd, die den Krug auf dem Haupte lastet, der Finger verlegen im Mund auf die Ansprache eines der bärtigen Fremden – das waren die Freuden und Pflichten der kleinen Michal, ihre geringen Erlebnisse und ihre großen Aufregungen; die wilden, sich balgenden Knaben, denen sie nicht nachstand an Kraft und kühnem Wagnis, nicht nachgab in trotzigem Mute und eifrigem Wollen, die galten mehr, sie bedeuteten Höheres. Sie war nur ein Wenig, ein Nichts unter vielem. Niemand kümmerte sich um sie, kaum daß der Mutter Hand die wirren Haare ihr vom Scheitel strich und von Ungeziefer befreite, Kratzer und Beulen linde versah, der Weinenden, wenn sie zu ihr flüchtete, Trost oder Schelten spendete, ihr gefräßiges Mäulchen sättigte und ihr in den Schlummer schwermütige Weisen summte. So stand sie vor der Welt, den andern gleichend, ohne Besorgnis, ohne Besonderheit. Ihre Frühlingsstunden verbrachte sie in fröhlichem Spiel auf dem hoch ummauerten Hof und auf der Gasse. Zur Erntezeit ging es hinaus vor das Tor von Gibea. In ländlichem Frieden, unter den Haustieren und auf den Feldern, von Wind und Hitze gestählt und gebräunt, in Ängsten vor dem nächtlichen Schrei der nahen Wüste, vor dem Sturze der Wolken und den heulenden Donnerstimmen der furchtbaren Götter des Ungewitters, die aufblitzende Speere über die zitternde, um Gnade flehende Weiberschar durch die Lüfte schleuderten. So wuchs sie auf, so trollte sie einher, ein kleines, abergläubisches, barfüßiges Etwas, mit einem Lumpenröckchen kaum verhüllt, stets Neues suchend, forschend und stets fluchtbereit. Ein lachendes, kugliges, mutwilliges Dingchen vom Dorfe. Ein Hebräermädel. Eins unter Hunderten. Nichts mehr, nichts weiter.
Aber da war eine sonderliche und nachdenkliche Sache, mit der man so leicht nicht fertig wurde. Auch Merab, die ältere Schwester, wußte sicher nicht recht Bescheid, wenn sie auch so tat, als sei dies nur zu schwer für der jüngeren Verständnis. Unangesagt erschien im Halbdunkel der Frauengemächer, gegen Abend meist, wenn die unerträgliche Hitze des Tages schon ein wenig abschwoll, ein großer, stark ausschreitender, mit brennenden Blicken alle beherrschender Mann. Dann wurde es still vom Geschwätz und Geschwirr, nur die Brüste der Frauen regten sich heftiger, als wollten sie flügge und sehnsuchtsvoll zu einem Hochzeitsflug sich in die Lüfte erheben. Begehren glühte auf, halbe Seufzer durchirrten den Raum. Schüchtern, befangen drängte Michal sich zwischen der Mutter Knie, fühlte das Beben, Erwarten, die zitternde Scham des eng vertrauten Körpers ihrer Gebärerin. Schwermütig ließ der Erschienene die Augen über die Gruppe gleiten, sah alles in einem Male, schien nichts zu erfassen. Eine erhob sich auf sein kaum merkbares Winken, glücklich aufstrahlend. Michal fühlte, wie Neid und Enttäuschung der übrigen sich ballten. Schritte verklangen. Schweigen fiel ein, die Zurückbleibenden fanden den Laut nicht so schnell wieder; dumpf, gedrückt wurde ihr Sinn. Abebbend, voll müder Entsagung lösten sich die Glieder der Frauen. Der Mann war gekommen, hatte gewählt, verschmäht. Und eines langen Sommertages Hoffnung, glutheißer Nächte Traum und Qual war wieder einmal erloschen. Manchmal aber blieb er auch länger. Dann füllte Kichern und eilfertiges Gurren das Gemach. Er saß, gut gelaunt, behaglich nieder. Die kecksten der Buben, Michals unzertrennlicher Spielkamerad Jonathan voran, zeigten sich dann prahlerisch in ihren Künsten. Auch die kleinen Mädchen wurden flüchtig vorgewiesen. Muttereitelkeit erzählte, was sie gelernt, wie sie altklug geplaudert, brav geholfen hatten. Dann glitt lachend, scherzend sein Aufmerken wohl auch über sie selbst. Seine Hand streichelte ihr Gesicht, und während er schon andern sich zuwandte, blieb sie blutübergossen, ins tiefste getroffen von aufwallender Liebe und heißer Zärtlichkeit beseligt, und doch in unerfülltem Sehnen. Und keinen und nichts auf der Welt verehrte und liebte sie so, hoffnungslos und aufgewühlt, wie diesen finstern, gebietenden, strengen und gütigen, hoch über allen Menschen aufragenden Mann: Saul, ihren machtvollen Herrn und Vater.
Später verstand sie dann, daß er nicht nur der Gebieter im eigenen Hause war, sondern auch – wie konnte es auch anders sein – der Herrscher über alle, der König der Männer in Israel und Juda. Es kamen Zeiten, in denen er lange nicht erschien. Dann war er ausgezogen an der Spitze seiner Krieger in den Kampf gegen die bösen und schlechten Gesellen aus dem Amalekiter- oder Philisterland. Wie schalten die Frauen auf sie, mit welchem Haß und unerhörtem Fluchen stärkten sie von der Heimat aus die Kraft des streitenden Heeres. Die Sieger kamen zurück, Freude zog vor ihnen her, Jubel empfing sie. Dann gab es Schmuck und leckeres Opfermahl, Feste bei Tag und Nacht, und was Michal das wichtigste schien, des Lobes und Rühmens von Saul und seinen Taten war kein Ende. Niemand aber achtete viel auf die Stimmen der Klageweiber, die den Tod der nicht mehr Heimgekehrten den Bräuchen gemäß entsühnten.
Zu andern, freilich seltenen Malen aber senkte sich Bängnis über Gibea. Furchtbare Gerüchte schwirrten, schwarzen Vögeln gleich. Dagon war diesmal geschickter als Jahve. In angstvollen Haufen kauerte das Geweib zusammen, starrten die Greise, Siechen und Verbrauchten, die der Heerbann verschmäht hatte. Dann schlichen, keuchten, ermattet, einzeln, verstört, die Geschlagenen, Gedemütigten in die Gassen. Blaß, verwundet, der Haarbusch von Schweiß, Staub, Blut schwer ins Gesicht geklotzt. Saul war da, rasend in verbissenem Schweigen, grausend und wutzerfressen. Wehe, wer ihm vor die Wege trat. Ruhelos schritt er durch die großen Hallen, die engen Kammern. Wie geprügelt und zerbrochen duckte sich alles ins Finstere, barg sich in das Dunkel aufsaugender Ecken; niemand wagte zu flüstern, zu atmen kaum. Und die Klageweiber heulten ihre schauerlichen Weisen laut und unaufhörlich über die Toten, über die schmähliche Niederlage des besiegten Volkes von Israel.
So hob sich Michal der Zeit entgegen, da ihr Körper reif wurde und schwer vom Quellen ihres Blutes, da schattendes Haar ihre blanke Kindheit verdeckte und die Unruhe der Entfaltung ihr Herz bedrückte, ihre Glieder träge machte und ihren ausgehenden Atem erbeben ließ. Die Frauen schalten auf sie, denn sie war ungeschickt und ohne Lust für die gewiesene Arbeit. Ihre Finger waren nicht willig, aus der Wolle der Widder und schwarzen Ziegen Zeltplanen zu wirken, die Nadel zu kunstvoller Stickerei zu führen oder gar den Faden, den die Goldschmiede aus dem edlen Metall künstlich geschlagen und geschnitten hatten, hineinzuknüpfen in den blauen und roten Purpur der Teppiche oder in das gezwirnte weiße Linnen der Gewänder. Ja, selbst am aufrechtstehenden Webstuhl schuf sie nur Verknotung und Verwirrung des hin und wider fliegenden Gespinstes, und das Schneidern und Richten und Nähen des Kuttoneth, des kurzen Ärmelhemdes, oder der länglich viereckigen Oberkleider, Simla oder Beged geheißen, die auch als Decken, Lagermatten und Sacktasche dienen konnten, war ihr gänzlich verhaßt. Auch verschmähte sie es, beim Rösten des Korns und beim Umwenden der flachen Kuchen in heißer Asche oder beim Auswalzen der ungesäuerten Brote vor dem Feste der Erstgeburt behilflich zu sein. Das übliche Tagwerk der Frauen, wie Leinsamen, Bohnen, Knoblauch, Gurken, Zwiebeln, Dill, Koriander, Kümmel auszulesen, zu waschen und zu enthülsen, schalt sie verächtlich eine Sklavenfron. Saftreiche Melonen und Kürbisse, weiche Pistazien, kernige Granatäpfel, süße Mandeln, Nüsse, leckere Feigen und Sykomorenfrüchte, auf der Zunge zergehende Datteln und Trauben, wiesenwürzigen Bienen- und herberen Früchtehonig liebte sie zwar sehr zu schlürfen und zu schlecken, aber pflücken, sammeln, schälen oder entsteinen mochte sie nicht. Vollends die Zubereitung des sabbathlichen Rind-, Kalb- oder Hammelbratens, das Ausweiden und Rösten von Hirsch, Steinbock, Damwild, Gazelle und Antilope oder gar das schwierige von der Stammutter Rebekka her überlieferte Kochgeheimnis, ein junges Zicklein so zu bereiten, daß es jedermann für Wild genoß, waren ihr widerwärtig. Niemals auch begriff sie recht die Kunst, aus Myrte, Zimmet, Kalmus, Kassia und dem Öl der Olive oder der Terebinthennuß Salbe zu mischen, gut zu verwenden für die Pflege des Körpers der Frauen im Bad, für die Bändigung ihrer eigenen dichten Haarflut oder für die Zier der Bärte der Männer. Und wenn sie sich einmal herabließ, duftendes Wachs zu klären, Balsam, Stakte, Galban zu pulvern und mit Weihrauch zu mengen, so versah sie es doch irgendwie; das Räucherwerk körnte, wollte nicht verglimmen oder kränkte gar die erwartungsvollen Nasen durch Mißgeruch. Dann konnte Michal über die Enttäuschten und Verblüfften herzlich und nicht frei von Bosheit lachen. Auch von der Pflege und Versehung von Kranken und der Versorgung der Tiere hielt sie sich fern. Sie bückte sich nicht auf den Wiesen, um Kräuter zu ziehen für heilende Tränke, mochte kein Feigenpflaster kneten zur Linderung von Wunden. Sie hatte auch nicht einmal Lust und Geduld, den Rindern das Futter mit Salzpflanzen zu bereiten oder die Tauben zu locken und ihnen Erbsen zu streuen. Eher noch half sie den Mägden beim Trocknen von Flachs auf dem Dache oder beim Stampfen von Weizen und Gerste im Mörser und zerrieb das Korn selbst unter dem Mahlstein. Denn hierbei konnte sie ihrer ungebärdigen Kraft und dem Drange ihres Überschusses Genüge tun. Das Herumhocken und Stillsitzen, ein Leben Schritt für Schritt raubte ihr den Atem bis zum Ersticken. So galt sie als unnütz und wenig tauglich; bekümmert verglich ihre Mutter sie mit der behenden Merab und den andern Mädchen, schalt sie unbegabt und widerspenstig, beklagte den Mangel an Weichheit und Zärtlichkeit. Ungefällig nannten sie die Schwestern, sie hielt sich für sich, warf mit spitzigen Antworten, neigte zu überheblichem Spotte, gab sich hochmütig und ablehnend und war recht unbeliebt in den Gemächern der Frauen. Heimlich grämte sie sich darum, rang mit sich und stritt wider ihr Selbst. Doch die herbe Sprödigkeit umpanzerte sie und ließ nichts hinausdringen von der Glut ihrer Seele. Einen einsamen Weg glitt ihre Jugend dahin. Aber öfter und öfter haftete Sauls Blick auf ihr. Ohne Worte sah er sie an, die hoch über alle Frauen hinauswuchs, ihm an Größe fast gleichend. Seine eigenen dunklen Augen fand er wiedergeboren in ihrem kühnen, stolzen, edelrassigen Antlitz. Und wie bei ihm selbst suchten die geraden, dunklen, willensstarken Brauen rätselhaft einander zu treffen und sich in eins zu vermählen über dem Ansatz der schmalen, fein geschwungenen Nase. Wo aber des Mannes energisches Kinn, seinen befehlenden gepreßten Mund der dichte schwarze Strom des Bartes umbrandete, da prangten Michals Lippen, verlangend und verheißend in der granatnen Glut ihres schnell pulsenden Blutes. Ihre Zähne, die zu feilen und färben sie eigensinnig verweigerte, schimmerten scheu und lockend hervor. Saul, der Vater, empfand all dies – alles dies sah Saul, der Mann. Und Michal erschauerte vor den unverstandenen Mächten seiner Betrachtung.
Wiederum war der Streit entbrannt und Sorge wohnte im Stamme Benjamin und unter allen Stämmen der Hebräer. Länger als sonst war das Heer entfernt und widerspruchsvoll liefen die Meldungen zu den Daheimgebliebenen. Erst überboten sich alle in den Berichten von herrlichen Siegen, von der Feigheit der Feinde, ihrer schlechten Rüstung, und daß sie nur an Flucht und Übergabe dachten, geblendet von der Waffentüchtigkeit der Unsern. Aber so begann der Krieg jedesmal, und die Töchter der Philister mochten gleiches hören über ihre Väter, Männer und Brüder. Die sichtbaren Zeichen, Beute und Gefangene, blieben aus, und doch weilten die Krieger schon über einen Monat fern. Allmählich war in der Heimat durchgesickert, daß bei den andern ein furchtbarer Kämpfer auferstanden war, der die Scharen Sauls höhnend herausforderte an jedem Tage. Keiner wagte, ihm zu begegnen, Kleinmut fesselte die Krieger, verbreitete sich von ihnen über das ganze Land, ängstlich harrten die Frauen der kommenden Dinge, sahen schon vom Ansturm der Sieger sich selbst geraubt, verschleppt als Dirnen und Sklavinnen in die Städte der Anbeter des Dagon. Und den unruhigen, quarrenden Kindern erstand ein furchtbarer Schreck- und Fürchtedich mit Namen Goliath.
Dann aber kam der Tag der Erlösung und der Ausgelassenheit. Der Riese war gefällt; in noch nie dagewesener Niederlage waren die Philister bis tief in ihr eigenes Land gejagt, ihr ganzes Lager als Preis gewonnen und die Freude lachte sonnenhell über den Häusern von Gibea. Im Palaste des Königs wurden unaufhörlich Siegesmahlzeiten gerüstet, Musik erfüllte die Räume, Saul war gnädiger, fröhlicher denn je, und hinter den Teppichen, die den Königssaal trennten vom Eingang zum Hause der Frauen, drängten diese sich, um den Gesängen der Barden zu lauschen und heimlich den Blick durch Risse und nicht immer vom Zufall oder vom Mottenfraß geweitete Löcher nach dem König und seiner Tafelrunde zu werfen.
Michal, die sich sonst fernhielt von solcher ihr unziemlich erscheinenden Neugier, wurde halb wider Willen hineingezogen in das fröhliche Treiben. Des Königs Töchter hatten diesmal besondern Grund, die Tapfern zu bewundern, denn eine von ihnen war im Felde dem verheißen worden, der den Goliath besiegen würde. Eine jede konnte des Vaters Gebot dem Gatten zuführen, sie stießen sich an, wurden rot, lachten übermäßig und übermütig, ohne Grund, schoben einander dem Ausguck zu und zogen die Kühne, die sich an den bauschenden Stoff drückte, schnell und neidisch wieder zurück. Auch Michal, gleichgültiger als die andern, spähte in den Saal. Auch Michal kannte die Erzählung von dem Siegeslohn, den Saul versprochen hatte. Und Michal sah David.
Noch träger, noch arbeitslässiger wurde sie von dieser Stunde an. Schwer und versonnen ging sie dahin. Meist aber verharrte sie allein, auf ihre Füße niedergehockt, in weite unbekannte Ferne starrend. Ruhelos und unbewußt spielten ihre Finger mit einem Band, einer aufgereihten Perlenschnur in ihrem Schoß. Sprach man sie an, so überflog jähe Hitze ihr Gesicht, und sie wußte, wie aus tiefem Schlafe erwacht, die Frage nicht und keine Antwort. Auf die Besorgnis, ob sie krank sei, schüttelte sie nur sanft verneinend den Kopf, daß die schwere Bürde der schwarzen Haare erzitterte. Weicher, milder waren ihre Bewegungen, leiser klang ihre Stimme, demütig fast war ihr Benehmen. Niemand aber sah und ahnte den Drang und die Scham und die begehrende Qual ihrer schlummerlosen Nächte.
Zu bestimmten Zeiten des Tages jedoch überfiel sie eine sonderbare Unrast. Sie eilte hin und wider, sprach laut, grell, mischte sich in alle Gespräche, griff überall zu, doch ohne lange an der Stelle der Arbeit zu verweilen. Sie bewegte sich in heftigen, harten Rucken, angestoßen und zurückgeprellt, im Kampfe zwischen Wunsch und Widerspiel, und gab schließlich doch dem wallenden Triebe nach. Sie kauerte nieder hinter dem Teppich am Saal und lauschte hingegeben, völlig verloren auf den Klang und die Stimme, die gedämpft ihr Ohr mit Süße sättigten. Die Welt war entschwunden, nie gewesen, nichts gab es, nichts hatte Wert, kein Widerstreben half, kein Sichverstecken. Nur eins empfand Michal, nur eines wußte Michal, nur in einem Gedanken lebte Michal: David schlägt die Harfe.
Sein junger Ruhm stieg, aber auch üble Reden über heftige Zerwürfnisse zwischen dem König und seinem Gefolgsmann raunte man sich zu. Scheu drückten die Frauen sich beiseite, wenn Saul, selten genug, erschien. Seine Blicke waren unstet, finster. Jäh wechselten laute Heiterkeit und redetote verbissene Schwermut. Des Königs trüber Sinn lastete dumpf auf allem. Einzelne schalten auf David. Gewiß trug er die Schuld. Wenn er an der Spitze seiner Tausendschaft im Felde stand, war des Königs Laune viel gebessert. Ein unheimliches Abwarten war freilich auch dann in ihm, als hoffe er auf eine plötzliche, erfreuliche Nachricht. Michal litt bei solchen Reden, hielt sich in scheuer Ferne von Saul, ahnte, was in ihm vorging, und wand sich zweifelnd zwischen zwei Gefühlen, mitleidvoller Verehrung für den Vater, angstreicher Sorge um den Geliebten. Trost empfing sie einzig, wenn Jonathan zu ihr trat, ein fröhlicher tapferer Jüngling auch er, dessen zärtlich beschützende Liebe gerade dieser Schwester vor allen galt, ohne daß er in seiner unbekümmerten Jungmannheit erkannte, daß noch etwas Besonderes sie beide verband: die Neigung für David, dem er in schwärmerischer Bewunderung und blutsbrüderlicher Treue anhing. Und von dem zu erzählen er, von dem zu hören Michal niemals müde wurden.
Unwillige Worte waren gegen Saul aufgestanden, noch geduckt, aber doch bemerkbar. Sein Grimm gegen David erregte stille Widerstände. Daß er bei seinem eigenen Blute Mißbilligung fühlte, verstärkte seinen Ärger. Doch war er zu stolz, eine Andeutung zu machen, auch war ihm selbst Manneswort und Manneswert so heilig, daß er Jonathans festes und ehrliches Bekenntnis zu dem erkorenen Wahlbruder in seinem Innern nicht zu schelten vermochte. Der Vorwurf, der unausgesprochen, aber aus allen Mienen springend ihn am schwersten traf, war, daß er seine Zusage nicht eingelöst hatte. Und so sehr sich alles in ihm bei der Vorstellung empörte, daß der verhaßt gewordene Emporkömmling seine Lebenswellen seinen eigenen mischen sollte, so sicher wußte er doch, daß er ihm eine seiner Töchter zur Gemahlin geben müsse. Er hatte es in der Stunde schwerer Not gelobt. Und das Versprechen eines Königs ist unverbrüchlich.
Aber er zögerte noch, verweigerte trotzig die Antwort auf der Männer stumme Fragen, kränkte sich auch wiederum, daß David selbst nicht forderte und erinnerte. Gleich, als habe er es nicht so eilig, des Königs Schwiegersohn zu werden. Im Frauenteil wußte man deshalb früher als beim Hofgesinde, was Saul beschlossen hatte. Denn ohne vorherige Weisung, ohne nähere Erklärung hatte er eines Abends den nahen Tag bestimmt, an dem Merab dem David als Gattin zugeführt werden sollte.
Demütig neigten sich die Frauen dem Befehl, herzklopfend, scheu und doch in erwartungsvollem Glück warf sich Merab vor dem hohen Vater nieder und preßte ihre Lippen auf den Saum seines langwallenden Mantels, das Gewand seiner Herrscherwürde. Aber Saul achtete ihrer kaum. Über die Kniende, über den Kreis der Frauen flog sein Blick spürend und fast in verhaltener Grausamkeit zu der einen, die außerhalb stand. Feuer, von wohlriechenden Hölzern genährt, überspritzte sie mit roten Lichtern, und gerade deshalb erschien sie um so fahler in dem Erschrecken, das ihr alles Blut zum Herzen preßte. Keinen Ton brachte Michal hervor, nur ihr selbst unbewußt, strichen ihre Hände, als ob sie von ihr fliehen wollten, wieder und wieder an ihren Seiten über ihre Hüften entlang. Ihr Mund öffnete sich, als mangle ihr der Atem, der Kopf hob sich, als suche er helfendes Sonnenlicht. Doch waren die Lider fest geschlossen, als ob sie das nackte Weh der Augen mitleidsvoll verhüllen wollten vor der rauhen Unbarmherzigkeit der Menschen. Und Saul wußte nun, daß das Gerücht, das in stillvertrauten Liebesstunden aus plaudersüchtigem Frauenmund zu ihm geschlichen war, diesmal der Wahrheit folgte. Nicht nur Jonathans Treue – auch Michals Liebe übten Verrat an ihm und hingen diesem David an.
Die Hochzeit der Merab wurde gerüstet. In wachen Träumen gingen Michals Tage dahin – in verzehrender eifersüchtiger Pein, in hilfloser Ohnmacht mit geballten Händen, zerbissenem Mund, verwühlter Schlaflosigkeit ihre Nächte. Aluka, die blutschlürfende Dämonin, und ihre gefräßigen Töchter sogen an ihrem Herzen. Saul erschien öfter als sonst in dieser Zeit, ließ den Eifer der Hochzeitsvorbereitungen über sich ergehen, beobachtete Michal aufmerksam und durchdringend und schwieg. Nichts zeigte, daß besondere Gedanken ihn bewegten. Der Festtag kam, und vor den Ohren der Vergehenden, Verzweifelten, kaum der Worte Sinn Erfassenden wogte das Erstaunen der Frauen in einem ungeheuren Gischt empor. Knapp, ohne sich mit einer Erklärung zu bemühen, ohne daß irgend jemand etwas geahnt hatte, traf des Königs Befehl und Mitteilung am frühen Morgen ein, daß Merabs Gatte nicht David, sondern Adriel, der Meholathiter, sein sollte. Selbst Merab, die dem Vater noch am Abend vorher zum Segnen vorgeführt worden war, hatte er keine Andeutung gemacht. Und er hatte sich in ihrer leichten, an Äußerlichem haftenden Oberflächlichkeit nicht getäuscht. Sie wurde Frau an diesem Tage, darum ging es ihr. Wem sie gehören sollte, war des Vaters Sache. Ihr war der eine so lieb wie der andere.
War es ein Wunder? Hatte ein Gott – zu allen hatte sie gefleht – Erbarmen gehabt, ein so geringes Geschöpf, wie ein Weib es ist, für wert erachtet, seine Macht zu beweisen? Hatte der Vater in verborgener Güte erkannt, daß an diesem Tage ihr Leben enden mußte, und sie dem Dasein, der Hoffnung erhalten wollen? Durfte sie glauben, daß noch größeres Glück ihr bevorstehe – an Merabs Hochzeitsabend wußte Michal es nicht; sie fand sich noch nicht zurecht nach ihrer Wiedergeburt. Aber Saul mußte wohl fühlen, daß eine Hingabe, ein Sturm auflodernder Dankbarkeit sich ihm bereitete, wie er es nie erlebt und nie für möglich gehalten. Auch nun fielen keine Worte zwischen dem König und seinem Kinde. Gleich unnütz war den stolzen Lippen dort und hier Stammeln und überstürzendes Gehaspel, wie es Sklaven und Feiglinge üben und wie es der Unaufrichtigen Schild und Angriffswaffe ist. Michal warf sich nicht vor dem Vater in den Staub. Aufrecht stand sie ihm gegenüber und begegnete gerade seinem geraden Blick. Mählich erst zog eine feine Röte vom schlanken Hals her ansteigend in ihre Züge, die langen, feinen Wimpern senkten sich. Und zum ersten Male, flüchtig, hingehaucht nur, sah Saul um den stolzen Mund der fürstlichen Tochter ein verschwebendes Lächeln. In seinem schwermütigen Blick flammte sekundenschnell ein heller Strahl auf – dies da war seiner Eigenart eigenster Sproß. Ihr adliges Geblüt würde sich nicht betrügen und beschmeicheln lassen und sich niemals erniedrigen. Hier stand die Trägerin und Hüterin der Krone, hier seines Geistes Erbe: Hier stand der einzige Mensch vor ihm, den er sich gleich und ebenbürtig erfunden hatte. Sie sollte Davids Gattin werden. Mit ihr wollte er sein Versprechen einlösen, nicht durch eine andere, die der kindischen Merab glich. Michal würde nicht vergessen, daß sie des Königs Tochter war. Wenn David war, was er in den finstern Stunden von ihm argwohnte, sein heimlicher, wühlender Feind, so mußte er an Michal zuschanden werden. Täuschte Saul sich aber, so würde sie den mächtig werdenden Vasallen dem Königshause fest verbinden und aus dem Eidam des Herrschers seinen treuesten Freund und seine Stütze machen.
Nicht Kaufgeld noch Morgengabe begehrte Saul, auch Michal hätte dies nur gering geachtet – aber mit einer Leistung der höchsten Kühnheit sollte David um die erlesenste Frau aus Juda und Israel freien. Für die Überwindung des Goliath war irgendeine Königstochter verheißen, um aber gerade Michal zu gewinnen, war eines Goliath Haupt noch nicht genug. Hundert Philister für dieser Tochter Hand, das dünkte Saul nicht allzuviel gefordert. Michal, als sie es hörte, war es wohl zufrieden. Sie bangte nicht um den Geliebten, hielt ihn und sich des tapfern Wagens wert. Und wirklich – nicht nur hundert – zweihundert Philister mußten ihr Leben lassen für der Prinzessin Michal Jungfernkranz. Unversehrt, Gott und den Menschen wohlgefällig, vollbrachte David das Liebesmeisterstück. Das Volk jauchzte wieder einmal seinem Liebling zu, der so Unerhörtes geleistet. Saul selbst verjagte alle zweifelnden Gedanken – er wollte glauben – auch machten ihn der innere Jubel, der helle Stolz, das leuchtende Antlitz des Lieblingskindes weich. Aufglühend, wild, leidenschaftlich und doch zugleich vergehend im demutsvollen Glück der Hörigkeit erschloß in dieser Nacht das herrlichste Geschöpf aus Jahves auserlesenem Volke, die Königsblüte des Hebräertums, Michal, die Jungfrau sich zum Weibe. Ihr lichtes Blut ward Davids höchster – ein wahrhaft königlicher Lohn.
Unendlich große Gunst des Schicksals. Nie zu überbieten, nie für möglich gehalten. Wolkenlos wie der ewig heitere Himmel der geliebten Heimat, süß wie das Land selbst, das nach der Väter Zuversicht Flüsse von Milch und Honig besitzen sollte und das in sonnigem Frieden allen guten Menschen Frucht und Behaglichkeit und Lust des Lebens spendet. Michal schritt dahin auf beflügelten Sohlen, ihr Morgen war ein Dankgebet, ihre Abende Lieder der Liebe. Und Saul war zufrieden über seines Kindes Seligkeit.
Bald aber erfuhr er, wie David seine Heldentat vollbracht. Er fühlte sich betrogen, verhöhnt und hintergangen. Erschlichen hatte sich dieser Listenschmied seine Stellung, Michals Hand. Das königliche Geschlecht war durch ihn beschimpft und befleckt. Verletzt aufs tiefste sann er Sühne und Rache.
Seine Aufforderung an Jonathan, die Ehre des Hauses zu wahren, verhallte vergebens; der Sohn vermittelte, legte den Zwist noch einmal bei. Beim nächsten Aufflackern seines Zornes aber ließ Saul die Tochter holen. Sie sah seinen Schmerz, den Wurm, der an diesem stolzen Baume bis ins tiefste Mark hineinzehrte, sie hörte, wie der Grimm gegen David sich entlud, vernahm die Anklagen gegen ihren Gatten, wie er das Reich untergrabe, wie er selbst errungen sie habe durch eine Täuschung. Und sie, die unbeschwerten Herzens gekommen war, verließ des Königs Haus erschüttert und mit zerrissenem Gemüte.
Vieles in ihr sprach für den Vater. Manchmal in vertrautesten ehelichen Stunden war es plötzlich über sie gekommen wie eine Fremdheit, eine Kälte. Dann schien in den Zügen des Mannes ihrer Liebe ein zweites Gesicht zu wohnen, verschlagen, spürend, mit verborgenen Gedanken. Aber das wischte schnell vorüber, und Michal hatte sich weidlich gescholten. War sie soviel härter, in sich geschlossener als andere Frauen, daß selbst die Liebe ihren Verstand nicht verstummen ließ, daß ihr selbst der Nächste fernblieb, sogar in der vereinigenden Umarmung? Bei den Worten des Vaters waren diese Stimmungen in ihr wieder wach geworden. Wäre es möglich? War der Mann, dem sie gehörte, leer und falsch, ein Gaukler und Maskenträger? Doch suchte ihr Frauenherz nach einer Entschuldigung. Überschwer hatte der Vater die Prüfung gestaltet. Zagend, sich selbst eindämmernd, fragte sie sich, ob nicht David vielleicht so gehandelt, weil er sie unter allen Umständen sich gewinnen wollte. Daß er Merab nicht erhalten, war ein Schimpf, den er schweigend eingesteckt hatte. Konnte es nicht deshalb gewesen sein, weil Michal ihm vor Augen stand? Wenn er auch ihr Gesicht nicht schleierlos gesehen hatte, konnten ihr Wuchs, der Ruf von ihrem Aussehen nicht sein Herz ihr in Liebe zugewandt haben? Sie wußte wohl bei sich, daß sie sich selbst die Wahrheit verhüllte. Aber so tapfer, kraftvoll, stolz sie war – letztens, tiefstens war auch sie ein Weib. Und wenn auch eng verschnürt und streng gehütet – auch in Michal lebte der Wunsch, der des Weibes Seelenkern ist: Sie wollte gefallen, sie wollte in ihrem Frauentum begehrt werden. Auch in ihr war das mächtige Gesetz des Schoßes gebieterischer als der weise Kopf und alle Würde der Prinzessin.
Unentschlossen, vom Zweifel zerteilt kam sie in ihr Haus zurück. Sie kannte es nicht anders, als daß man dem Vater blind zu gehorchen hatte. Ihre Verehrung für ihn war noch gewachsen, da sie ihn leiden sah. Aber als sie dann David erblickte, schwanden alle Bedenken. Nein – diese treuherzigen frommen Mienen konnten nicht täuschen. Und wie hätte sie es überleben können, daß diese großen Augen in Todesqual gebrochen starrten, daß seine behenden Glieder sich steiften, der von ihrer Liebkosung geweihte, geschmeidige Jünglingsleib in stinkende Verwesung fiel. Durch ihre Schuld! Das ging über ihre Kraft – über ihre Kindespflicht. Der Vater würde sich beruhigen, ihr später sogar danken, daß sie seiner jähen Wallung nicht nachgegeben hatte. Und wenn nicht – wenn sie mit dem eigenen Leben zahlen mußte, so wollte sie das Opfer sein für seinen Zorn. Nicht der Geliebte.
So offenbarte sie ihm die Gefahr und beschwor ihn, eilig zu entfliehen. David sah ihre Not nicht und nicht ihren Kummer über die bevorstehende Trennung. Er war sofort bereit und konnte gar nicht geschwind genug, kaum daß er flüchtigen Abschiedsgruß bot, zur Tür gelangen. Aber bleich prallte er zurück. Das Haus war umstellt, auf dem Fuße waren Sauls Häscher Michal gefolgt. Dämmerungslos war schon die Nacht hereingebrochen. Bis zum Morgengrauen, so war des Königs Befehl, durfte nach Michal niemand mehr das Haus betreten, niemand es verlassen. Eine Nacht des Lebens ließ er dem Verhaßten frei – eine Nacht der Liebe und der Entsagung seiner Tochter. War David keine Memme, sondern ein Mann, so würde er dem Todeswink des Königs sich unterwerfen und dem Volke das Schauspiel einer hündischen Feigheit sparen. Sollte er aber zaudern und sich winden vor dem Schicksal – so standen ihm Stolz und Ehrgefühl genug zur Seite. Michal würde stark sein, wenn ihr Gatte als Schwächling sich erwies.
Er war es. Raufte sich die Haare, seine Kiefer zitterten muskelschlaff, seine Zähne klapperten, seines Weibes Füße umbettelte er: Leben, Rettung, Freiheit, Rettung. Kein Held, kein Sangesmeister, kein Plänespinner, kein Gottesliebling. Nur ein zuckendes, gequältes, verstörtes, armseliges Häuflein elendester Menschlichkeit. Schaudernd, fröstelnd zog es über Michal. Mit brennenden Augen aus einer Ecke, die ihrem zurückweichenden hohen Körper Halt gebot, starrte sie auf den winselnden Jammer, der sich im Staube vor ihr wand. Eisige, bittergeifernde, giftträufelnde Zähne schlugen widerhakig sich in ihre Liebe. Aufstöhnend schämte sie sich in sein knechtisches Empfinden hinein. Schon trieb wild der Zorn in ihr empor, ihn seinem Geschicke zu überlassen, die Gewappneten vor den Toren hereinzurufen wider ihn. Dann aber überwogte sie das Mitleid, unaustilgbare Erinnerung an die Gemeinschaft des Fleisches mit diesem verzweifelten Manne, der zum Knaben sich zurückschluchzte. Sie beugte sich tröstend, streichelnd, beruhigend über ihn: »Sei ruhig – still – ich helfe dir – ich rette dich.«
Einen festen Strick entnahm sie der Truhe, knüpfte ihn behend unter seinen Armen zusammen und er begriff sofort. Ja, so ging es, das war der Weg. Behutsam, daß die Wachen kein Geräusch vernähmen, stieg er zum Fenster hinaus, und Griff für Griff ließ Michals haltende Hand ihn im Dunkel der Nacht an der Mauer niedergleiten. Jetzt stockte das Seil. Wenn sie es sich überlegte – wenn sie schwach wurde – wenn sie mit plötzlichem Ruck ihn fallen ließ, daß seine Glieder zerschmetterten oder die Diener Sauls herbeistürzten – wenn sie ihm scheinbar nur die Rettung versprochen hätte, um desto sicherer ihn zu vernichten? Jagende wahnsinnige Furchtgedanken durchirrten ihn. »Michal,« flüsterte er flehend hinauf, ganz leise, in Sorge vor den Ohren der Wächter. »Michal« – bittend, beschwörend, in vergehender Angst. Die Finsternis verbarg ihm das sterbensblasse, todeswehe Gesicht, das über ihn sich beugte, um den letzten Schimmer, der von ihm ausging, einzusaugen. Er hatte nicht überlegt, gefragt, was aus ihr würde, wie sie des Königs Grimm bestehen könnte, keine Zeit zum Trennungskuß gefunden. Nur gehastet, daß er fortkäme, rasch, schnellstens. Nun hing sein Leben an der Gnade ihrer Hände. Zum letzten Male war sie ihm verbunden, nur durch ein schwankendes Tau, schon war er fern, schon dachte er voll Ungeduld weit weg von ihr. Das war das Ende eines kleinen Glückes, das Ende einer großen Liebe. Und bedrückend, niederschmetternd und vernichtend die Erkenntnis, gegen die sie sich noch immer wehrte: Das Ende einer tiefen Gläubigkeit. Verloren, weggeworfen an einen Unwürdigen – die Hände vors Gesicht schlagen, damit die Nacht nicht ihre Scham, ihre Verzweiflung sieht! »Michal«–… ein Hauch, ein banges Verzagen. Hoffnungslosigkeit. Das Letzte – Allerletzte–…
Und Michal straffte sich zusammen, starrte geradeaus in das Dunkel ihrer Zukunft. Nahm Abschied von Licht und Liebe. Vom Leben vielleicht. Griff um Griff faßten ihre brennenden Finger um das schwere, immer schwerer werdende Seil. Nun ließ das Gewicht nach. Ein leises Rascheln drang herauf, der Strick hing schlaff. Sie zog ihn empor, lauschte, nichts regte sich. Unbemerkt, im Schatten des schweigenden, dunklen, turmhohen Hauses war David durchgeschlüpft und floh ins Unbekannte, Weite.
Ihre Aufgabe war noch nicht beendet. Es galt, ihm einen möglichst großen Vorsprung zu erringen. In zäher Besonnenheit nutzte sie die Zeit. Sie nahm den Terafim des Hauses, einen Götzen, den sie in die Ehe mitgebracht, von seinem Standort. Davids Vertrauten, den Jahvepriestern, war er zwar stets ein Greuel gewesen, die Gatten hatten ihn aber doch behalten, um ihn nicht zu beleidigen. Jetzt erwies er sich als sehr nützlich. Sorgfältig hüllte Michal ihn ein, legte ihn in Davids Bett, vergrößerte seine Länge durch ein Netzgewebe und deckte ihn mit Kleidern zu. Sie trat zurück und betrachtete ihr Werk. Im Halbdunkel des Gemaches konnte es ungeübte Augen wohl irren, als läge ein Mensch, sorgfältig eingewickelt zum Schutz vor der Luft und herumschwirrenden bösen Geistern, auf dem Lager. Der Morgen sprang empor, die Wachen drangen in das Haus, bereit, den Tod vorzufinden oder herbeizuführen. Aber da lag ein Kranker, vielleicht im Sterben. Durften sie die Ruhe des Bettes blutig entweihen, den Ablauf der Natur durch Gewalt beschleunigen? – Es war das Ehebett der Tochter des Königs, sie stand davor, mit verschränkten Armen, beherrschend und abweisend. Konnte man sie beiseite zerren? Sauls Zorn war schrecklich, unberechenbar, aber er konnte ausbrechen, wie immer man es machte. Sie pflogen Rates, wichen, eilten zum Palast, trugen den Verhalt vor. Der König selbst mochte entscheiden.
Er stampfte mit dem Fuße auf, schalt sie, jagte sie zurück. Mit dem Bett sollten sie David herbeitragen. War er bereits tot oder starb er unterwegs – gut. Ließ er sich lebend in den Thronsaal tragen – auch gut. Lebend verlassen würde er ihn nicht –
Diesmal gab es kein Zögern und Michal versuchte auch gar keinen Widerstand. Sie trat ruhig beiseite und die eifrigen Boten beachteten ihr dünn gekräuseltes Lächeln nicht. Erst als sie bestürzt von dem Antlitz des Götzen, dessen Grinsen sie zu höhnen schien, aufblickten, begegneten sie einem stärkeren, unversteckt sprühenden Hohn auf dem Gesicht der Fürstin. Hier war keine Zeit und Macht, zu fragen oder anzuklagen. Gesenkten Hauptes schleppten sie die Last des Bettes mit Terafim, Netzen, deckenden Gewändern fort. Genarrt, überlistet, zusammengeprügelt von eines Weibes Willen. Festen Ganges beschloß Michal den lächerlichen Zug.
Saul sah, verstand, wehte mit einer Handbewegung den Saal leer vom Menschengeschmeiß und wandte schweigend den furchtbaren Blick auf die Tochter. Sie waren ganz allein. Er saß, vorgebeugt, die linke Hand auf der Lehne des Sessels, um den so schnell zum Wurf bereiten Speer drohend und krampfend die Rechte geballt. Sie stand vor ihm, blaß, bereit für alles, angespannt aber furchtlos und ohne die Lider zu zucken. Zwischen ihnen die Lagerstatt und die umwickelte Puppe.
So sahen sie sich an, gleichwertig und fochten ihren Streit mit weit geöffneten Augen und bei geschlossenem Munde. Aus Saul schrie es ihr entgegen: »Du hast mich verleugnet. Du, der ich am höchsten vertraute.« Und in Michal antwortete es: »Du hast dich erniedrigt, denn du wolltest Ungerechtes.«
»Er war mein Gegner, trachtete mir nach Krone und Leben, war deiner Brüder, war dein eigener Feind.«
»Er war meines Blutes, meines Fleisches vertrauter Freund. Wie sollte er seiner Schwägerschaft Übles wollen?«
»Er buhlte um des Volkes Gunst, verkleinerte mich und meine Vorfahren und beschimpfte das königliche Haus.«
»Er hielt sich ruhig bei mir, wenn er nicht im Heeresdienste stand. Meiner Nachkommen Stammherr sollte er werden. Dein Geschlecht kraftvoll weiterkeimen lassen aus mir, Glanz und Ruhm verbreiten über sein Haus und über das unsere.«
»Dein Vater bin ich. Deine Pflicht war es, mir zu gehorchen.«
»Seine Gattin bin ich. Meine Pflicht war es, ihm zu gehören.«
Es ward stumm in ihnen, nichts regte sich um sie. Noch immer starrten sie sich kämpfend in die Augen. Sie hatten sich gemessen; keiner war stärker; keiner wich zurück; keiner gewann eine Spanne Raumes im Angriff, verlor sie in der Verteidigung.
Saul sann, grübelte, in sich lauschend, spürend. Verlor sich auf Augenblicke – hatte Michal Recht? Konnte, durfte sie nicht anders handeln, als sie getan? Durfte er sie schelten, ihr zürnen, sie strafen?
Dann aber gewann er Klarheit. Und er erhob sich in seiner ragenden majestätischen Größe, blickte hernieder zu dem Weibe, über das ein Zittern zu laufen begann, eine Unruhe sich breitete, die unbewußt ihre Augäpfel scheu, unstet, rastlos bewegte, als wollten sie den Raum vergrößern, den sie umfaßten, als brauche der Körper und der Geist, dem sie dienten, mehr Luft, mehr Bewegungsmöglichkeit, mehr Freiheit sich zu sammeln, sich zu flüchten.
Denn nun sprach Saul. Der Vater sprach. Der König. Der Beherrscher ihrer Kindheit, ihrer Jugend, um den sich ihr Denken und Fühlen gerankt hatte zu allen Zeiten. Sprach ohne Wut, gelassen, gütig fast, und wühlte in dieser Eindringlichkeit sie bis ins tiefste auf, schwächte sie, die Zorn mit Trotz abgeschlagen, die der Gewalt sich niemals unterworfen hätte. Seine Worte fielen gleichmäßig wie erbarmungslose eiskalte Tropfen abgemessen auf ihren schmerzenden Scheitel, bohrten sich wie rotglühende Nadeln, grausam und sorgfältig gezielt und langsam vorangetrieben, in ihr durchschauertes, in Brandblasen aufzischendes, von Qualen gekrampftes, ersterbendes Fleisch.
»Wenn Michal meine Tochter ist, wie ich sie glaubte, wie ich sie erwählte unter allen – warum belügt sie sich und mich? Auch ich habe gezweifelt – auch du konntest es tun. Aber du kennst diesen Mann näher als ich, als irgendeiner sonst. Du allein warst Richterin über ihn, von mir gesetzt, vom Schicksal berufen. Du allein konntest seine Verborgenheit erforschen, prüfen und erkennen, was echt an ihm und was falscher Schein. Du wirst die Wahrheit nicht verschweigen. Wenn du mir sagst: Vater, er ist ein ehrlicher und ehrenhafter Mann, tapfer und gerade, aufrichtig und getreu in jeder Lebensäußerung, und deshalb barg ich ihn vor deinem unbegründeten Mißtrauen und rettete ihn vor der Unbill deines Zornes – so will ich ihn holen lassen, Frieden mit ihm schließen, und eure Söhne sollen mir sein wie meiner Söhne Söhne, dem Thron gleich nah und in der Erbfolge der Krone mit gleichem Recht wie sie.
Wenn du mir aber dies nicht zu sagen vermagst – wenn du ihn schwach und voller Hinterlist erfandest – warum machtest du dann gemeinsame Sache mit ihm wider mich? Warum stellte Michal sich an die Seite meines Feindes?«
Sie taumelte unter der ungeheuren Wucht, griff nach dem Bettrand, fiel fast, Schweiß perlte auf ihrer Stirn, sie mußte sich niederlassen, saß zu Häupten des Götzenbildes.
Da war es gekommen, hatte sie erschlagen. Unbewußt strich ihre Hand über das Kopfpolster, auf dem sie zum Weibe erweckt war, von dem David flüchtete ohne einen Blick auf sie, nur mit sich beschäftigt, nur auf sich bedacht. War er ihrer Liebe, war er ihres Lebens wert? Wieder blitzte die Erinnerung über sie hin an den andern, den Fremden, den Unverständlichen, den sie zuweilen neben sich gespürt, vor dem ihr Leib, ihre Seele sich, fast im Ekel abwehrend, zurückgezogen. Den sie sich leugnete und der doch – sie wußte es mit schmerzhafter Deutlichkeit in diesem Augenblick – vorhanden war. Ja, er war verschlagen und geheimer, zweideutiger Gedanken und Pläne voll. Des Königs unbeirrbares Auge hatte ihn durchschaut. Und auch das ihre. Sie aber hatte sich, von Weibesschwäche, vom Begehren ihrer Sinne verführt, selbst belogen und der Bosheit zur Helferin gemacht wider ihr besseres Wissen und Gewissen.
Aber doch – er war ihr Erkenner und Erwecker gewesen. Er hatte sich in dieser Nacht, als alles verloren war, an sie geklammert, hatte Asyl gesucht bei ihr. Sie durfte ihn nicht preisgeben, auch jetzt nicht. Im Geheimnis zwischen Mann und Weib hat niemand das Recht auf Einblick. Nicht der Vater, noch der König, noch selbst ein Gott. Verwarf sie ihn in ihrem Herzen, so mußte sie allein das Urteil fällen und vollstrecken. Niemand anders. Sie war sein Weib. Und mochte er ein Sünder, ein Verbrecher sein – sie hatte ihm Treue zugeschworen, war eins mit ihm geworden. Sie wollte die Treue halten bis zum Äußersten.
Kaum bewegte sie die Lippen, als sie eine Antwort gab, die der Frage des Vaters auswich. Das war feige, der Tochter Sauls nicht würdig – sie wußte es wohl. Aber sie empfand es richtig und allein möglich für das Weib des David.
»Er zwang mich, ihm zu helfen, und sprach zu mir: Laß mich davon oder ich töte dich!«
Wie töricht, wie schwächlich war das. Sie sah es sofort ein. Wie sollte diese armselige Ausrede Saul täuschen? Sie wagte es nicht, zu ihm hinaufzublicken. Er brauchte ja nur zu erwidern: »Und warum riefest du die Wachen nicht, als er sich zum Fenster hinausschwang? Warum spieltest du, als er schon fort war, das Verstecken mit dem Götzenbild, gewannst ihm Zeit, erschwertest die Verfolgung?«
Gelogen hatte sie – sie, Michal! – zum ersten Male in ihrem Leben, hatte sich aufgegeben, selbst erniedrigt und vergeudet. Ihr Stolz wand sich in Qual vor dem eigenen Unwert. Sie war nichts mehr, nichts Besseres als die andern. Kein königlicher Mensch, hervorstechend und ausgezeichnet durch die Größe seiner Gesinnung und seiner Taten. Nur ein kurzdenkendes, plapperndes, mutloses, verächtliches Massengeschöpf. Nur ein Weib.
Sauls Wut mußte sie zerschmettern. Sie wollte es stumm erdulden und so die Sühne finden. Sauls Rede mußte ihr den ganzen Hohn und Spott entgegenschleudern, die sie verdiente, Sauls Befehle mußten ihr Ehre und Leben nehmen.
Aber der König schwieg.
Nicht Erbarmen mit der Frau, die mit einer Lüge um ihre verlorene, mißhandelte und verschleuderte Liebe hatte kämpfen wollen, bannte seine Zunge. Seine Gedanken weilten gar nicht mehr bei ihr. Mauern hatten sich rings um ihn aus der Erde emporgeschoben, die ihn abtrennten von aller Welt. Er war allein, ganz einsam und allein. Die letzte Hoffnung war verflogen, der letzte Glaube gestorben, daß ihm in seine grenzenlose, starre Öde von Menschen Hilfe und Erleichterung kommen könnte. Nun war es entschieden. Es war vergeblich, sich gegen das Schicksal zu wehren, er würde wohl weiterstreiten, planen, wirken. Aber er wußte es in dieser Stunde, das schwarze, schwere Ende kam unabwendbar. Er war besiegt. Nichts hatte er mit seinen Kindern, seinem Volke gemeinsam. Nichts band ihn mehr an andere. Immer drückender würden sich die finstern Geister des Wahnsinns auf ihn knien, bis sie ihn gänzlich erdrosselten und erstickten. Und er wandte sich ab, vor sich hindämmernd, als sei niemand anwesend, und glitt schwankend, gebrochenen Schrittes, gebeugt, am Speer die notwendige Stütze suchend, vorüber an der Tochter, die neben der Lagerstätte niedergesunken war. Ohne noch eines Wortes sie zu würdigen, ohne sie anzusehen.
Auf ihren Knien, den Kopf vorgeneigt, die Arme und Hände flehend ihm nachbettelnd, des Rufes, des Schreies unmächtig, in herzzerrissener Not, flehte ihr Wesen ihm nach. Konnte ihn nicht fassen, nicht halten, mit ihrem Wunsch, ihrer Hingabe, ihrer Auflösung ihn nicht zwingen, nicht einmal die schmale Gunst eines Abschiedsblickes sich erjammern. So schwand des Vaters hohe Gestalt, so schwand, was ihres Daseins Inhalt und reinstes Licht gewesen, langsam aus ihrem Gesichtsfeld. Ein verflatternder Mantel, das war das letzte – und das war das letztemal im Leben, daß Michal, die Tochter Sauls, ihren Vater sah.
In ihrem Hause, in dem sie scheu und Finsternis brütend wie ein Unhold aus der Tiefe sich barg, erreichte sie sein Spruch. Ohne Widerrede, ohne daß eine ihrer Mägde auch nur einen Schatten über ihre weiße Stirn fliegen sah, leistete sie Folge, versah das Haus, rüstete die Reise und ging in die Verbannung. In das kleine Dorf Gallim führte man sie. Nur niedere beklemmende Hütten in dürrer, unfreundlicher Gegend standen dort. Mühsal und harte Plage konnten dem widerwilligen Boden nur kärgliche Frucht abgewinnen; Hunger, Krankheit, Schmutz und Ungeziefer leisteten dem Alltag Vorspann. Die Männer, die dort hausten, waren gedrückte, versorgte, enghirnige Gesellen, stumpf und ohne Lebensart, froh, wenn sie unbeachtet voneinander und von den benachbart wohnenden Stammesbrüdern sich und ihre hart mit ihnen werkenden Weiber und ihre klägliche Sippe von Ernte zu Ernte durchbrachten. Der König – das war ein ferner, furchterregender Zauberbegriff. Am besten und sichersten, man hatte nichts mit ihm zu tun. Eine königliche Frau – wie sollte man sich solch ein Wunder vorstellen, wer dürfte es wagen, ihm in die Nähe zu gelangen, ohne vor ihrer Erscheinung zu vergehen?
Einer der geringsten unter diesen Versorgten und Verkümmerten war Paltiel. Selbst in dieser Gemeinde der Kleinhäusler und Armutzehrer noch besonders mißachtet. Man wußte nicht, wer sein Vater war. Und er, obwohl fleißig und still wie nur einer, empfand es als wohl berechtigt, daß man auf ihn hinabsah. Denn wenn die Kinder Israels gar nichts mehr besitzen, Kot auf der Landstraße und gehetztes Wild vor den Jägern Neid, Haß, Dummheit und Niedertracht sind, so halten sie noch fest am eingebildeten Glanze der Familie und dem Trost einer guten Abstammung. Paltiel litt unter dem Adelshochmut der Dorfgenossen. Sie waren Hungerleider und Elendkrämer wie er, aber doch stolz darauf zu wissen, wie ihr Vater und die Großväter, und manche, ehrfürchtig angestaunt, sogar, wie der eine oder andere Urahne sich genannt hatten. Ihn aber bezeichneten sie als den Sohn des Lais, des »Herrn Niemand«. Es kränkte ihn, doch er mußte es tragen und bückte sich und lebte verschüchtert und bescheiden vor sich hin. In dieses Mannes Haus trat Michal ein, des Königs Tochter, bis dahin Gattin eines der Großen am Hofe, nun freilich landflüchtigen Hochverräters. Dort wurde sie zurückgelassen auf Sauls Befehl, ganz allein, ohne jedes Gefolge, ohne Schmuck, ohne des Lebens Notdurft. So sollte sie hinfort in Gallim bleiben als die Ehefrau des Paltiel. Des Herrn Niemandes Sohn.
Offenbar bewegte Saul bei dem furchtbaren Los, das er der Tochter bereitete, noch ein besonderer Gedanke. Es war möglich, daß sie schon Mutter war; dann aber durfte nicht ein Davidssproß geboren werden, sondern ein Kind aus so elendem und verächtlichem Haus, daß es niemals den Thron gefährden konnte. Gleichzeitig kühlte er die Glut seines Hasses. Denn die Schmach, die er David antat, war ausgeklügelt und ungeheuerlich.
Aber Michal trug kein Kind von ihrem Gatten. In der kurzen Zeit ihrer Ehe, noch unterbrochen durch Davids Abwesenheit im Philisterkrieg, war sie so ganz Geliebte, so völlig Rausch verströmendes und Inbrunst fassendes Gefäß der Lust, daß für den milden Keim der Mutterschaft noch keine Schollenwärme in ihr war. Und auch in Paltiels Hütte gedieh sie nicht zu des Weibes Früchtekraft und unbeirrbarer Bestimmung.
Sie hätte sich dem aufgezwungenen Ehemann nicht entzogen. War er auch nur ein ungebildeter, ungewandter Bauer, schwerfällig in Wort und Bewegung, so erkannte sie doch schnell, daß er nicht roh und gemein war, sondern Herzenstakt besaß und rührende Verehrung für sie selbst. Verlangen und Befriedigung konnte allerdings ihr Leib niemals durch ihn gewinnen. Von den seltenen Frauen war sie eine, für die die Stimme der Natur nur einmal spricht. Der Mann, dem sie sich gegeben hatte, siegelte ihre Sinne mit seiner Persönlichkeit und ein für allemal. Sie hätte des Paltiel oder eines andern Mannes Umarmung wohl geduldet, ihm Kinder gebären, nie aber in Begierde dürsten oder Sättigung erfahren können durch irgendeinen, der nicht David war.
Paltiel aber stellte sie gar nicht vor diese Frage – niemals berührte, niemals bedrängte er sie. Daß er nicht um seinetwillen Schwiegersohn des Königs geworden war, wußte er wohl, wenn man auch die weitern Zusammenhänge ihm aufzuklären nicht für nötig fand. Michal als sein Weib zu betrachten, kam ihm gar nicht in den Sinn. Als köstlichstes Gut der Erde war sie ihm anvertraut, das er zu bewachen, dem er Dienst und Leben zu widmen hatte. Es war einmal, daß sie kam–… es war einmal, daß sie ging–… das Märchen mußte ein ebenso jähes Ende nehmen, wie es sich angesponnen hatte. Bald würde sie in Glanz und Duft entschwinden, wie sie, ein hinreißendes fremdes Wunderwesen, bei ihm erschienen war. Aber darüber viel zu grübeln, kam ihm nicht zu. Was Strafe für Michal war, bedeutete für ihn höchste Gnade. Wie hätte er, der schmutzige Ackerknecht und ungefüge plumpe Viehzüchter, zu dieser hohen, feinen Königstochter die Augen anders erheben dürfen als in anbetender Ehrfurcht und scheuer Bewunderung.
So lebte Michal in seinem Hause still dahin. Die Dorfbewohner machten einen Bogen um die Stätte, die ein Fürstenobdach und -gefängnis war. Als aber nichts weiter sich ereignete, Michal von der fernen Vornehmheit, der sie zugehört hatte, aufgegeben und vergessen schien, kehrte das Dorf von seiner Aufgeregtheit eines Ameisenhaufens, den Unachtsamkeit oder freche Neugier durchwühlte, zum Gleichmaß und zur Abstumpfung zurück. Michal zeigte sich nur selten außerhalb der Hütte. Anfangs, wenn es geschah, drückten sich alle aus ihrem Wege. Später aber ordnete man sie in die Erscheinungen des eigenen Lebens ein, begrüßte sie, die Frauen sprachen zu ihr und die Zurückhaltung der Kinder wich bald der Zutraulichkeit.
In Paltiels Dasein aber trat allmählich eine Änderung ein. Wenn auch des Königs strenges Gebot jeden Verkehr mit der Verstoßenen, ja jede Nachricht an sie unmöglich machen wollte, so fand doch einer die Wege, ihr hartes Geschick wenigstens äußerlich etwas zu erleichtern. Jonathan vergaß die unglückliche Schwester nicht. Durch ihn flossen unmerklich fast und ganz unauffällig Paltiel Gaben zu, die ihn in bessern Vermögensstand setzten. Dorfgeher kauften gerade seiner Schafe Schur für beträchtliche Summen auf, boten ihm bestes Vieh zu Spottpreisen, drängten es ihm geradezu auf. Und kleine Gebrauchsgegenstände, die er erwarb, erwiesen sich bei genauerer Betrachtung späterhin als mit kostbarem Metall versehen, ja mit Edelsteinen verziert. Auch fanden sich in geheimnisvoller Weise auf dem Hofe Ballen mit herrlichen Stoffen, sogar größere Summen barer Münze. Paltiel ahnte wohl, wie diese Wunder sich erklären ließen. Aber ob der König selbst oder ein Verwandter von Michal solcherart ihrer gedachte, wußte er nicht. Es war auch besser, darüber nicht viel zu reden oder gar zu forschen. Michal, der er von allem erzählte, schwieg. Die ersten Male hatte ihr Herz hochauf geklopft, erregt hatte sie geforscht, ob nichts weiter gekommen sei – sie hoffte auf eine Nachricht, prüfte zitternd die Tuche, ob nicht ein Zeichen eingestickt war, nur ihr verständlich. Denn sie vermeinte, daß ihr Geliebter, ihr Eheherr, daß David ihrer gedenke! Aber nichts fand sich, und als sie zufällig dann einmal einen der fremden Händler erblickte und, trotz aller Verkleidung, den vertrautesten Diener Jonathans erkannte, wußte sie, daß sie auch diese Hoffnung begraben mußte. Von David kam keine Kunde; das Dorfgerücht wollte wissen, daß er ein Räuberhauptmann geworden und später umgekommen war. Näheres war nicht zu erfahren. Und für das Weib des Paltiel war er jedenfalls verschollen und verloren.
Die Unterstützungen Jonathans machten ihren Mann in kurzer Zeit zum reichsten der Gemeinde. Jetzt nannte ihn keiner mehr den Sohn des Niemand, sondern man sprach ehrerbietig von dem Schwiegersohn des Königs Saul. Seine Lehmhütte war zu einem großen stattlichen Bauernhaus ausgebaut. Behäbig und geruhig schritt er über eigene Fluren, zählte er die stattlichen Herden. Alles gedieh ihm wohl. Aber sein Heim blieb schweigsam und wie von einem Hauche stiller Totentrauer umwallt.
Michal, die den einfachen Mann besser erkannte als er sich selbst, wußte die Schatten wohl zu deuten, die sein offenes, von der frischen Luft stark gebräuntes Gesicht überflogen, wenn er sich unbeobachtet glaubte. Sie bestand darauf, daß er das tat, wozu er sich nicht vermessen und entschlossen hätte ohne ihren Willen. Sie setzte es gegen sein Sträuben durch, daß er sich andern Frauen zugesellte. Aber sie konnte ihn nicht dazu bewegen, sie als Hauptfrauen sich zu verbinden. Hier blieb er hartnäckig und eigensinnig; ihre Vernunftgründe versagten. Im Innern dankte sie ihm, daß er ihre Ehre und Würde selbst gegen ihre eigene Zustimmung hoch achtete und verteidigte.
So blieb sie die alleinige Herrin des Hauses; die Nebenfrauen, halb ihre Dienerinnen, verhielten sich demutsvoll und unterwürfig. Jede wußte, daß eine Auflehnung den vollsten Zorn des sonst so gutmütigen Paltiel entfesselt hätte. Er selbst blieb gleichfalls unverändert, aufmerksam, zurückhaltend, in gleichmäßiger Entfernung. Ohne Launen und Mannesüberheblichkeit, aber auch ohne Kriechertum. Auch als Jonathans Spenden aufhörten und die Trauerkunde von seinem Tode, dem seiner Brüder und Sauls eintraf, veränderte sich nichts. Wie Michal innerlich die Nachricht aufnahm, erfuhr niemand. Sie hielt die vorgeschriebenen Trauerriten ab, aber ihr starres unbewegtes Gesicht verriet nicht, was in ihr vorging. Paltiel ließ sie nicht fühlen, daß sie nun nicht mehr auf der gleich hohen Stufe stand wie vordem, und er hätte nicht geduldet, daß ein hämisches Wort, eine boshafte Andeutung sie kränkte. Ihm blieb sie, was sie war – ein Wesen aus höherer Sphäre. Vielleicht hätte der Dank für dies vornehme Zartgefühl sie ihm gewinnen können. Aber nichts verriet ihr, ob sein Blut nach ihr Ausschau hielt und Lockung spürte. Deshalb wechselte sie ihre gleichmäßige Ruhe nicht und schien mit allem abgefunden und zufrieden. Manchmal aber, wenn niemand es sah, fuhr sie heftig und fieberisch einem der kleinen Mädchen oder Knaben, die nun das Haus mit Lärm und Freude füllten, über das erhitzte Gesichtchen, oder riß gar den warmen, ungeschickten, kleinen Körper an sich, bedeckte ihn mit bettelnden Küssen, hüllte ihn in den Mantel aller weichen Zärtlichkeit, aller unerfüllten Sehnsucht jener Frauen, die das Schicksal um das Mutterrecht betrog.
Zehn Jahre verblieb Michal so im Dunkel und in der stillen Abgeschiedenheit ihrer Verbannung. Sie hatte abgeschlossen mit ihrem Leben, grollte nicht, ja, sie begann sogar schon zu vergessen. Glanz, Hoffnungen, Ehrgeiz, Liebe lagen hinter ihr, verwehte Herbstblätter in einem schwermütigen, ungepflegten, längst versperrten Garten. Noch hatte es Stunden gegeben, in denen ihr Herz Unruhe und Erwartung wild durch ihren Körper pulste. Dann war sie, von niemandem gesehen, durch ihre Kammern hin- und hergewandert, erregt, planend, lechzend nach der Befreiung aus ihrer Enge, im Drange, die Mauern der Gefangenschaft zu sprengen und in das bewegte Dasein draußen zurückzueilen, auf den Platz, der ihr gebührte. Teilzuhaben an der Herrschaft, an der Bestimmung über das Los anderer, das eigene Geschick kraftvoll und nach selbstherrlichem Gesetz zu gestalten. So war es, als nach Sauls Tode verkündet wurde, daß ihr Halbbruder Eschbaal den Thron bestiegen; und stärker noch, als sichere Nachricht kam, daß David lebte, daß er sich zum König aufgeschwungen hatte über den Stamm Juda und im fernen Hebron residierte. Nun mußte man sich doch ihrer erinnern, des Unrechts gedenken, das ihr widerfahren, sie abholen, in königlichen Ehren, sie erheben aus ihrer Niedrigkeit, sie schadlos halten für die Tage der Schmach und der Entbehrung.
Aber niemand kam, niemand kümmerte sich um sie – sie war verloren, vergessen, das graue Einerlei war unabänderlich. In Qual wanden sich ihre schlaflosen Nächte; ihr Geist empörte sich, rang mit der Bitterkeit, der sie zu erliegen drohte. Sie haderte mit dem Gott ihres Volkes, beschimpfte seinen Namen, verhöhnte seine Ohnmacht und fluchte seiner Gleichgültigkeit. Eine schwere Furche querte sich rissig über ihre Stirn. Gram schüttete vorzeitiges Silber auf ihre Schläfen. Paltiel bemerkte es wohl, ahnte die Gründe, aber er erwies auch jetzt ihrem Kummer Ehrfurcht und Schweigen. Müßige Frage wäre ihm wie Entblößung erschienen. Sie dankte es ihm, gewiß, aber – es ist sehr schwer, sich niemals anlehnen zu dürfen, weil hohe Abstammung vorschreibt, allein und stehend zu leben und zu sterben. Heimlich neidete sie den andern Frauen zuweilen das Glück der Niedrigkeit. Aber auch dieser Hochflut folgte müde Ebbe. Nun lag auch das schon wieder viele Jahre zurück. Sie hatte sich abgefunden und es war um sie und in ihr gänzlich tot und stille.
Da wurde eines Morgens die dörfliche Ruhe jäh aufgeschreckt. Boten des Königs Eschbaal trafen ein, hielten sich nicht lange mit Paltiel auf, sondern begehrten stürmisch und heftig sofort vor Michal geführt zu werden. Sie warfen sich vor ihr nieder, grüßten so ihres Herren Blut und richteten dann ihren Auftrag aus. Ehrfürchtig im Tone, aber doch ohne den Gedanken oder die Möglichkeit eines Widerspruchs. Eschbaal, rechtmäßiger König von Israel, forderte die Schwester auf, sich sofort in Mahanaim, seiner Hauptstadt, einzufinden. Weiter gingen seine Worte an sie nicht. Zweck und Gründe hatte er ihnen nicht angesagt, danach zu fragen, kam ihnen nicht zu. Aber einen Aufschub duldete der Befehl nicht, höchste Eile war geboten und alles war mitgebracht und bereitet, die Reise sogleich anzutreten; angemessen in Zurüstung und mit reichem Gefolge für die hohe Frau, die Schwester des Herrschers.
Michal erkannte sofort – es hatte keinen Sinn, in diese Männer zu dringen, sie wußten sicher nichts, waren nur Glieder, keine Köpfe. Ob Gutes oder Schlechtes ihr bevorstand, würde sie bald erfahren, und sie war gewappnet gegen jeden Stoß. Weder für Schrecken noch für Freuden glaubte sie ihr vereistes Gemüt noch empfänglich.
Ohne ein weiteres Wort wendete sie sich zum Ausgang, bereit, den Tragsessel zu besteigen. Am Türpfeiler stand Paltiel wie ein Sklave, der nach dem siebenten Jahr statt der gesetzlich ihm zukommenden Freilassung die Fortdauer der Leibeigenschaft wählt und zum Zeichen der nun unlösbaren Bindung mit dem Ohrläppchen an den Pfosten des Hauses geheftet wird. In blassem Entsetzen zuckten seine Lippen, als ob sie Worte formen, Bitten hervorpressen wollten: »Verlaß mich nicht – geh nicht fort – ich ertrage es nicht.« Nun schnürte sich plötzlich doch ihr Herz zusammen. Stand es so um ihn? War sie ihm so wert gewesen, so in ihn hineingewurzelt? Bis in seiner Seele Muttergrund? Ein Schwindel überlief sie, schloß ihre Augen. Eine Stimme in ihr sprach: Weigere dich, niemand wird es wagen, dich gewaltsam fortzuführen. Bleibe hier, in stillem Frieden. Hier ist deine wahre Heimat, hier wartet scheue Liebe auf dich, wartet ein treuer, ehrenhafter, schlichter Mann, dem du Erde und Himmel bist – bleib hier – umhegt, geborgen, werde im Geiste und im Fleische dieses Mannes Weib, werde Mutter seiner Kinder; laß die feindliche Welt da draußen, sie bringt dir Unglück–…
Ein kurzes Zaudern nur, dann warf sie die Versuchung entschlossen hinter sich. Mochte kommen, was immer, sie mußte ihren Weg zu Ende gehen. Der Dämon, der ihr Geschlecht ins Unheil jagte, trieb auch sie. Und wenn er sie zum Abgrund stieß, so war es doch ihre Bestimmung – Seligkeit, seinem grausamen Zwang zu gehorchen.
Aber sie nickte Paltiel gütig, trostreich zu, weicher als je; es schien ihm wie eine Verheißung, eine halbe Aussicht – vielleicht brachte gerade dies Ereignis den heimlich ersehnten Umschwung. Man wußte ja nicht, was der König wollte. Bewegte ihn nur der Wunsch, die Schwester zu sehen, ihr Leben freundlicher zu gestalten, dann – ihr Blick versprach es – dann kam die Stunde, in der er es wagen durfte zu reden, endlich das Geheimnis seines Lebens zu enthüllen. Er durfte ihr seine Liebe gestehen – und sie, vielleicht – o sicherlich, sie würde sich in Gnade zu ihm neigen. In solcher Verwirrung von Sorge und Hoffen schloß er sich, ihrem Winke gemäß, dem Zuge an. Die Männer des Königs, der von Paltiel nichts erwähnt, wohl an ihn gar nicht gedacht hatte, forderten ihn nicht auf mitzugehen. Aber sie wehrten es auch nicht.
Schnell aber zerstoben alle linden Träume in das Nichts. Nicht zärtliche Bruderliebe oder der Drang, des Vaters Unrecht gutzumachen, hatten Eschbaal veranlaßt. Wäre es nur auf ihn angekommen, so hätte Michal immer verweilen können, wo sie war. Er hatte sich nie um ihr Geschick gekümmert, und beim ersten Zusammentreffen zog sich ihr Wesen von ihm zurück, in sich zusammen. Dieser spätgeborene Sohn Sauls war nicht von des Vaters oder Jonathans Art. Ein haltloser Zauderer, dünkelhaft und ohne eigenen Willen. Und er wäre längst vom Throne Sauls gestürzt, wenn nicht des gewaltigen Kriegshelden Abner Hand ihn schirmend gehalten hätte. Abner, der letzte von den großen Helden aus des Vaters Zeit, war es auch, der ihr nach der flüchtigen und gelangweilten Begrüßung durch den König auseinandersetzte, weshalb man sie hatte kommen lassen. Nichts verriet dabei in seinem wetterharten, durch den Sturm der Schlachten, Wüstenfahrten und das Lagerleben zerklüfteten Gesicht seine Gedanken. Ohne Umschweife berichtete er nur, daß er selbst darauf gedrungen hatte, sie herbeiholen zu lassen, daß er selbst gewillt sei, sie auf der weitern Reise zu geleiten. Die Staatsnotwendigkeit verlangte dies, damit der alte Zwist zwischen den Stämmen Israels und Juda ein Ende nehme. Denn als Bedingung des dauernden Friedensschlusses hatte der Mann ihre Herausgabe gefordert, zu dem er sie ohne Verweilen bringen werde. Dieser Mann aber war kein anderer als David, König von Juda und ihr rechtmäßiger Gatte.
David!
Mit einem messerscharfen Schnitt waren zehn Jahre ihres Lebens losgelöst von ihr, zehn Jahre der Entbehrung ausgelöscht, weggewischt, aufgelöst in das Nichts der Vergessenheit. David! Er rief nach ihr, er verlangte, er befahl nach ihr. Wie töricht sie gewesen war. Sicherlich war es früher nicht möglich. Der Zwist mit dem Vater, Not, alle kühnen Abenteuer eines heldenhaften Lebens, stets den Verfolger im Nacken, immer den Tod vor Augen, hatten ihn gehindert. Dann, als er König geworden war, hielt der Streit zwischen Juda und Israel die Schwester des gegnerischen Fürsten ihm fern. Nun aber sollte Frieden sein. Nicht Gold, nicht Macht und Länderzuwachs heischte er – nur sie, sein Weib, die Fern-Geliebte, die Gefährtin seines Jugendglückes, die er nie vergessen hatte, wie sie nie einem andern Manne gehört, eines andern Mannes nur gedacht hatte. David! Ihr Herr und ihr Diener, ihr Blut und ihr Atem, ihr seliges Lachen und ihre unaufhaltsam zehrende Träne. David, ihr Leben und Sterben, ihr Ich und ihr Du – Gott und die Welt öffneten ihr weit die verlangenden Arme, rissen sie wieder an sich. Und ginge der Weg durch die Schnellen des Jordans und den Gifthauch des Toten Meeres, über die vereisten Platten des Libanon und barfuß durch die glühenden Schauer des Sandsturmes der Wüste – kein Mensch, kein Dämon, kein Ungeheuer sollte sie zurückhalten. David! – wo war er, wo weilte er, warum war er noch nicht mit ihr, bei ihr – der immer in ihr war.
Ihrer Ungeduld war jede Zögerung zu lang, obwohl schon Abner dafür sorgte, daß die Sklaven vor Eile keuchten und an Schlaf nicht denken durften. Aber eigene Würde und der große Zweck der Friedensfahrt geboten, daß man alles sorglich und überaus prächtig rüstete, vor allem auch sie selbst. Sadin, das Luxushemd aus fernher eingeführter Seide, umschmeichelte ihren Leib, den man zuvor geknetet und mit Narde und Myrrhenöl gesalbt, mit Balsam und wohlriechenden Essenzen abgerieben, dann gepudert und mit Mennig leicht geschminkt hatte. Mancherlei Neues hatte während ihrer dörflichen Abgeschiedenheit die Mode erfunden. Die Augenlider und Brauen wurden jetzt mit Spießglanz geschwärzt, Finger- und Fußnägel mit Henna rötlich poliert. Man trug auch die Haare ganz anders als vordem, nicht mehr vorn und rückwärts aufgelöst hängend oder zu langen Zöpfen geflochten, sondern zumeist zu Ringellocken gekräuselt. Der Harem Eschbaals konnte sich gar nicht darin erschöpfen, dem hohen Gast die Frisur zu ordnen, zu wellen, an der Stirne zu stutzen und die neueste Erfindung auszuprobieren: Goldstaub über ihr Haupt hinzuwehen. Michal war all dies widrig, zu ihres Vaters Zeiten hatte Einfachheit geherrscht, aber sie duldete es schweigend. Sie fürchtete durch Widerstreben oder Auseinandersetzungen Zeit zu vergeuden. Es war ja gleichgültig, wie sie zu ihm gebracht wurde, herausgeputzt im Fürstenkleid oder in zerlumpten Bettlerfetzen. Nackend, wenn es ihm gefiel. Nur schnell – nur fort.
Sklaven hoben sie in die Sänfte und der eitle Eschbaal sah ihr, umgeben von seinem Hofstaat, wohlgefällig zu. Man konnte sich vor diesem Emporkömmling sehen lassen. Auch Michal war doch eben echtes königliches Blut, war Sauls Geschlecht. Über dem duftigen Kopfschal, der der Reisebequemlichkeit halber nur lose, nicht zum festen Turban gewunden war, trug sie, gehalten von einer Korallenstirnkette und Muscheln, die dem bösen Blick wehrten, den hauchfeinen Schleier, ohne den sich die vornehmen Frauen nun seit längerer Zeit schon nicht mehr öffentlich sehen ließen. Das kostbare Unterkleid war so lang und schwer, daß die Sklavinnen die Schleppe tragen mußten; silberne Heftel hielten es zusammen. Ihr Gürtel war nicht wie gewöhnlich aus Leinewand, sondern aus bunter Schnur gedreht, gefärbt mit Konchyliensaft und Karmesschildlaus, mit Goldbuckeln verziert und abwechselnd dazwischen mit Topasen, Smaragden, Rubinen, Türkisen und Onyx überkrustet. Die Amulette, vier purpurblaue Quasten an den Schultern, hatte man nicht vergessen. Goldene Fußspangen klirrten um die Knöchel, die sonst dazugehörigen Schrittkettchen aber ließ man weg, um die Reisende nicht zu behindern. In den Ohrläppchen glänzten die Netiphoth, tröpfchengleich geordnete Perlen; Halsketten, Oberarmbänder und solche über den Handgelenken, goldene Ringe für die Finger und die Zehen mit Karneolen, Achat, Jaspis und dem seltsam funkelnden Leschem vervollständigten das Geschmeide. Die köstlichen Schuhe aus feinstem Tachaschleder aber zierten zwei schön geschnittene Amethysten. Eine Handtasche nahm sie entgegen mit Spiegelchen aus geschliffenem Metall und einem Bisambüchschen. Aber als ganz zuletzt ein Kebsweib Eschbaals eilfertig ihr auch noch einen Nasenreif befestigen wollte, lehnte Michal flüchtig lächelnd ab, wie sie sich auch entschieden geweigert hatte, der fremdländischen Mode zu folgen und sich schwarze Punkte zwischen Lippen und Wangen einstechen oder gar ein Blumenornament einritzen zu lassen. Mochten sie ihr doch all diesen Tand aus fernen Ländern umhängen, den zu sammeln Eschbaal erfreute und den tyrische und kanaanitische Händler, des Königs Schwäche kennend, herbeigeschleppt hatten. Vor Davids leuchtenden Augen würde er ohnehin erblassen und zerstieben. Ihr Antlitz aber mußte unverstellt und unverändert, vor Freuden wieder jung, ihm zärtlich entgegengrüßen.
Unterwegs freilich, an den morgenkühlen Tagen und den Abenden, in denen das Kamel in ihrem Tragstuhl sanft sie wiegte, oder wenn sie während der Mittagsruhe still im Schatten einiger Palmen oder unter schnell aufgeschlagenem Zelte ruhte – unterwegs, wenn der Schlummer nachts sie floh und der auf- und abschwellende Sang des Gebetes vom Feuer der Männer zu ihr herüberplärrte, oder ein Vogelschrei, ein Brüllen der Saumesel ihr Denken schmerzend aufstörte, kam häufig schwere Überlegung über sie. Und ihr häßlicher Bastard, der Zweifel. Dann sah sie den andern David vor sich, den falschen, ihr fremden, wie er in der Nacht des Abschieds in ihre Seele sich eingeätzt. Und Sauls mächtige Erscheinung heftete die Augen vorwurfsvoll und anklagend auf sie. Die Fürstin drehte sich und stöhnte. Die Sklavinnen schlichen sogleich näher, murmelten zauberkräftige Worte, um den feindlichen Geist zu verjagen. Aber Michal rang sich bald frei. Dies war nicht wahr, durfte nicht wahr sein, sie ertrug es nicht, wollte es nicht –. »David, mein König, mein Held, mein Geliebter – wo weilst du? Sei bei mir, sei mit mir – der du immer in mir bist; verlaß mich nicht – du mein Ich – verlier mich nicht, du mein Du!«
Nie aber blickte sie zurück nach dem Ende des Zuges, nie wandte sie das Haupt, wenn sie wieder die Sänfte bestieg, nie durften ihre Gedanken Untreue begehen und auch nur flüchtig sich abwenden zu dem Schatten der Vergangenheit, zu den kranken Tagen der Verbannung, zum gestorbenen Gestern. Davids war sie gewesen bis zu jener Nacht, da er sie fliehen mußte. Davids war sie heut, würde sie morgen sein in unzerrissener Folge. Dazwischen war nichts und gab es nichts. Nur vor ihr strahlten die Stunden. Was hinter ihr lag, war keine Wirklichkeit, war nur ein erstickender Spuk vom Samum erzeugt in buhlerischer Gemeinschaft mit der Dürre und dem Entsetzen.
Und der dort als letzter, übersehen von den hochmütigen Esel- und Kameltreibern, durch die Sonnenglut im stechenden Sande mahlend die müden wunden Füße schleppte, dessen tief in den Höhlen entzündete Augen nur nach einem Punkte starrten, auf die hohe leuchtende Sänfte, die auf den Schultern der Träger oder am Buckel des Kamels schwankte, den kaum am Stab noch ein Wahn, eine unbestimmbare irre Hoffnung aufrechterhielt – der war auch gar nicht Paltiel, der wohlhäbige, gefestigte, wackere und angesehene Hofbesitzer aus Gallim. Das war ein siecher, elender Bettler, wie sie mit eklen Schwären vor den Toren der Städte sitzen, die Klapper in der Hand, um Mitleid wimmernd. Ein Gespenst, dem Grabe entstiegen – was hatte er mit der Tochter eines Königs, mit der Gattin eines Königs zu tun? Er, ein Mensch, der aus der Bahn geworfen, von einem unfaßbaren Geschick zerschmettert, dahinschwankte, ohne zu verstehen, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können, nur in dem eigensinnigen Triebe festzuhalten, was man da vor ihm wegtrug aus seinem Leben. Eine ungeheure Faust hatte in ihn hineingegriffen, sein Herz zusammengekrampft, daß es in überhitzter Kraftanstrengung jagte. Nun ließ sie los, er sackte zusammen, blieb am Wege, im Staube. Das Rad ging über ihn, zerquetschte ihn, und was da übrigblieb, war nicht wert, den Blick einer vorübergleitenden hohen Frau auf sich zu lenken. Aber wie sollte er weiterleben, nachdem er ins gelobte Land von weitem hatte sehen dürfen? Wie sollte er zurückfinden in seine Einsamkeit, seine Demut, in die lichtlose Armseligkeit des Einst, wie sollte er, der Michal Ehemann, nun wieder sich wandeln in den kümmerlichen Paltiel, des Herrn Niemand Sohn?
Die Furten des Jordan waren durchschritten. Der Marsch ging schwerfällig die Hänge des Gebirges Bir zenaki hinan. Auf dem Sattel, über den die Straße führt, nördlich Bachurim, dem alten Grenzort des Stammes Benjamin, ließ Abner rasten. Am Horizont erschien die unregelmäßige Masse einer leichten Erhöhung, der Ölberg von Jerusalem. Ein Fieber sprang Michal an. Hier stand sie am äußersten Punkte der Heimat. Von Benjamin war ihres Vaters Herrlichkeit ausgegangen, hier wohnten noch Leute ihrer Sippe, dies Volk gehorchte noch ihrem Bruder, dem Sauliden. Wenn nun der Saumpfad sich senkte, kam sie in fremdes Gebiet, ins Land der kanaanitischen Jebusiter und danach zu den Judäern, die ihrem Vater immer aufsässig gewesen, Davids Stammesbrüder, Davids Reich. Unwiderruflich hatte das Orakel dann gesprochen. Das Neue, Unbekannte nahm sie auf, trennte alle Fäden der Verknüpfung. Aber zu David führte der abwärts sich schlängelnde Weg. Und wo David war, war das Leben, war die Heimat.
Ein lautes, bitterliches Weinen traf ihr Ohr. So völlig aufgelöst und in fassungslosem Schmerz, wie es nur Kinder oder die kindesgleichen Gemütes Gebliebenen in letzter Not und Hilflosigkeit vermögen. So weint nur jemand, der ohne Hoffnung, ohne Waffe des Widerstandes unter unerbittlicher Gewalt zusammenbricht, dem das Liebste, was ihm ward, wegtreibt auf Nimmerwiedersehen. So weint man innerlich am Grabe seines Kindes in der Scheidestunde. Nun wandte sie doch den Kopf zurück, bezwungen wider Willen, tief betroffen, ahnungsvoll. Und sie sah, was sie erwarten mußte. Abner war zum Schweif des Zuges getreten und wies gebieterisch dem Paltiel die Straße, die sie gekommen. Bis hierher, bis zu des Reiches Grenze, hatte er ihn geduldet. Ihn weiter mitzunehmen, wäre für David eine Beleidigung gewesen. Davon verstand Paltiel nichts. Er wußte nur das eine, empfand nur, daß er auch des letzten beraubt werden sollte. Wenigstens hatte er noch in ihrer Nähe weilen, von fern sie sehen dürfen, wenn sie die Sänfte betrat und verließ. Durch die gleiche Sonnenglut, den gleichen Wind, die ihr Belästigung und Erquickung gewesen, war er mit ihr noch verbunden; die Spuren trat er nach, die ihr Tragtier in den Boden wuchtete. Nun wurde er fortgestoßen wie ein räudiger Hund, verjagt wie unreines Getier. Er machte einige Schritte, drehte sich, taumelte, fiel, stand wieder auf, hielt still, die barsche Ungeduld Abners trieb ihn weiter; er fürchtete sich, er blickte zurück, sah Michals Augen, wollte auf sie zu, mußte weichen, begriff nichts, ging rückwärts, verstand nichts, stolperte und weinte, winselte und weinte.
Und langsam, langsam tauchte er unter, entglitt dem Augenfeld der schweigend starrenden Leute, sank und verschwand aus dem Gesichtskreis, aus dem Leben der Frau, die er zehn Jahre unter seinem Dach geborgen hatte. Keine Bewegung machte Michal ihm nach. Nur ihr beklommenes Herz dankte ihm, nur eine wehe Stimme in ihr rief ihm Abschiedsgrüße zu. Jetzt hatte der Fels ihn verschluckt, noch einmal von einer Wegbiegung her kam der leichte Hall seines Schluchzens. Dann war alles still. Abner kam vor, gab das Zeichen zum Aufbruch. Die Sklaven hoben den Tragstuhl, ihr eintöniges Marschlied setzte ein, der Sattel von Bachurim war überwunden, das Gebirge trennte sie von Paltiel, dem Lande Benjamin, dem Volke Israel. Michal, die Königin von Juda, hatte die Grenze des Saulidenreiches überschritten.
Mit Lärm und Freude über die glücklich bestandene Reise durchschritt der Zug das Tor von Hebron. König David ging ihm entgegen, begrüßte Abner noch auf der Gasse, zu besonderer Ehrung, die Sänfte trug man an ihm vorüber in das Frauengemach des Palastes. Scheinbar bemerkte er es gar nicht, und auch Michal blickte nicht hinaus, so gebot es die Schicklichkeit und die Sitte. Müde von allen Anstrengungen und der Aufregung der kommenden Dinge harrte sie dem Abend entgegen, zählte die Zeit, und dann stand David vor ihr, solange ersehnt und nun doch ganz überraschend.
Ihre Begleitung hatte sich zurückgezogen. Allein, so wollte es der König, sollten sie sich begegnen nach diesen Jahren der Trennung, in diesem Augenblick des Wiederfindens. So empfand es auch Michal als richtig. Ihr Herz, ihr Geist, ihre Sinne brannten ihm entgegen. Sie hob flehend, begehrend die Arme, ihn zu empfangen, an ihn sich zu lehnen, in stummem Gefühl sich selbst auszuläutern und ein für allemal auszuschmelzen, was zwischen sie getreten war, verpaßte Stunden, hemmende Gedanken. In Demut und Liebe war sie bereit und ergeben – ihre Blicke suchten die seinen, fahndeten das geliebte Gesicht, wollten sprechen in Zärtlichkeit und Not, in Erinnern und Vergessen, in Leid und höchstem Glück. Ihre Blicke fanden die seinen – ihre Arme sanken hilflos, und sie erschrak und fiel in Schweigen.
Denn der da vor ihr stand – kein Zweifel mehr – das war der andere. Ein selbstgefälliger, eitler und verschlagen blinzelnder Genüßling. Nicht der jugendkräftige David, den Heldenglanz umwob, der kühn und doch stets gefällig erschien, der Liebling der Krieger und des Volkes. Dieser etwas rundliche, bärtige Mann, dessen Gesicht von tausend Plänen und Listen, aber auch vom Hang zur Bequemlichkeit, verworfenen Lastern und ungezügelten Begierden Zeugnis gab, hielt es nicht mehr für nötig, die Maske vorzustecken. Oder doch nicht ihr gegenüber. Kein Zauber der Erinnerung umhüllte ihn. Nur satte Befriedigung, daß er sie nun doch wiedergeholt hatte, die Saul ihm zu Schimpf auf immer hatte entreißen wollen. Nicht Dankbarkeit für das, was sie einst an ihm getan, bewegte ihn, nur rasche und schlaue Berechnung, was sie ihm in Zukunft helfen und bedeuten könnte. Keine Liebe rief nach ihr, kein Echo aus jenen Stunden, in denen ihre Jugend sich verschenkt hatte, selig im Rausch dem einen und einzigen zu gehören. In tiefster Scham aufglutend senkte sie ihr Gesicht. Jetzt verstand sie die neugierigen Blicke, die schlecht verhehlte Genugtuung, die den Tag über unbehaglich wie Schneckenschleim über sie hingekrochen waren; nun begriff sie – man hatte geprüft, verglichen, sie abgeschätzt wie eine neue Sklavin, die Beute oder Kauf gewonnen. Und man hatte wohlbefriedigt festgestellt, daß von dieser da keine große Gefahr drohe. Von dieser Hageren, Düsteren, um die der Schmuck wie eine fremde Narrentracht klirrte, dieser Alternden und schon Verbrauchten.
Davids Frau war sie gewesen, die Herrin seines Hauses, stolz und geehrt in ihrer fürstlichen Würde und begehrt in ihrer jugendlichen Frische. Nie war der Gedanke, nie die Möglichkeit ihr aufgekeimt, daß neben sie, die Tochter des Königs, sein Gnadengeschenk an einen jungen Vasallen, ein anderes Weib im gleichen Range treten könnte. Nun kehrte sie wieder, getrennt von den Ihren, beladen mit dem Unglück ihres Geschlechtes, entwurzelt und heimatlos zu ihm, der gestiegen war über das zertrümmerte Schicksal ihres Vaters und ihrer Brüder. Zehn Jahre hindurch hatte keines Mannes Hand ihren Leib berührt, hatte sie ihre Sinne unterdrückt und geherbstet. Er aber hatte gekostet, was Zufall und Wahl ihm boten, hatte Mannesrecht und Mannesart geübt, unbekümmert um sie und ihre eifernde Treue. Er nahm sie zu sich, wie ein verkramtes Spielzeug, dessen sich eines Kindes Laune erinnert. Er wertete sie jetzt nach vielen, reihte sie ein neben viele, unter viele, Hauptfrauen und Kebsfrauen, Leibmägde und fremde Sklavinnen. Eine Zahl, ein Zuwachs war sie, eine Gelegenheit nur. Für seinen Harem – eine mehr.
Sie wehrte ihm nicht, die jähe niederdrückende Erkenntnis machte sie widerstandslos und nahm ihr jede Willenskraft. Hätte er sie preisgeben wollen der Gier seiner Krieger oder ihr befohlen, sich unverhüllt allem Volke zu zeigen, sie hätte auch solches mit sich geschehen lassen. Denn ihre Seele erkrankte tödlich in dieser Stunde, die ihre Liebe niederschlug. In dieser Stunde wurde auch der Streit zwischen Saul und ihr endgültig entschieden zugunsten von ihres Vaters weitem Blick und dunkler Ahnung. Aber gerade dies, daß sie sich fallen ließ, aufgab und sich verlor, schuf ihr ungewollt und unbewußt einen Triumph. Denn so selbstsicher und spöttisch überlegen David ihr gegenübergetreten war – in ihm war doch eine Unsicherheit, die er übertäuben wollte durch sein dünkelhaftes Auftreten. Das Blut des Emporkömmlings hatte es nicht verlernt, daß es eigentlich dienen mußte dem Blute seines Königs. So hoch und frech er sich aufgeschwungen hatte, so heiß er seinen Arm nun um Michal schlang – zwischen ihnen stand ernst und gebieterisch das Bild des Herrschers, den er verraten hatte; Saul sprach zu ihm aus dem versteinten Gesicht der Tochter und befahl seinem Fleische, sich zu beugen und sich in Demut in den Staub zu werfen.
So schlich er aus der Kammer, geschlagen, beschämt und gelähmt. In seinem Mannestum erniedrigt, schwach und ohnmächtig an der Frau, die unbewegt geblieben war, mit starrem Blick, der Sprache beraubt, ohne Widerstreben, aber auch ohne Entgegenkommen, ohne ein Beben ihres Körpers, eine kalte Statue in seinen Händen. Und auch zu andern Malen erlitt er den nämlichen Unglimpf des gänzlichen Versagens.
Michal aber legte allen Schmuck von sich; daß man sie wie eine Braut oder ein Opfertier für den Mann herausgeputzt hatte, dem sie im Grunde gleichgültig war und der nur seine Ehrsucht und den niedrigen instinktiven Haß gegen den gefallenen Saul mit ihrem Besitz streicheln wollte, traf sie nachhinein besonders schwer. In dunkle wallende Schleier kleidete sie sich, von allen scheu gemieden, ein unheimlicher Spuk unter dem harmlos-fröhlichen, gedankenarmen, Süßigkeiten knuspernden, in bunten Farben, Lachen und fortwährendem Klatsch dahinlebenden Weibervolk des Königs. Abners Tod wurde bekannt, sie dankte in ihrem Herzen Joab, der ihn erschlug. Denn auch Abner, der ihres Vaters Vetter und Vertrauter gewesen, hatte die Treue gebrochen, als er sie um irgendwelcher politischen Ziele halber auslieferte an ihres Vaters Feind. Dann wurde Eschbaal ermordet, und sie verspürte, als einzige, unter Davids erheuchelter Trauer über das Verbrechen seine kaum zu zügelnde innere Freude. Es wunderte sie nicht und erschreckte sie nicht mehr. In unbetrüglicher, erbarmungsloser Deutlichkeit sah sie nun bis in die innersten Windungen seines Gehirns. Sie hatte erkannt, daß sie einem Unwürdigen zu eigen gewesen war; ohne Mitleid, ohne frauliche Schwäche verurteilte sie ihn jetzt, verwarf seine Beweggründe, seine Handlungen. Mit Eschbaal hatte kein tieferes Gefühl sie verbunden, sie zürnte ihm, daß sie auch ihm nichts gewesen war als ein toter Stein im Knöchelspiel. Aber er hatte die Krone Sauls getragen, er war der letzte gesalbte Fürst aus seinem Stamme gewesen. Solange er lebte, war auch sie selbst einer gewissen Rücksicht sicher. Nun stand sie ganz allein. Daß David ungehemmt, ohne alle Gefühlsseligkeit seinen Weg weiter verfolgen würde, bezweifelte sie nicht. Nur eine Bestätigung war es ihr, daß er selbst nun Sauls Nachfolge im ganzen Umfange erlangte und an Eschbaals Stelle König wurde auch über Israel. Und als die letzten Sauliden, ausgenommen nur der hinkende, untaugliche Meribaal, Jonathans unwürdiger, knechtisch sich unterwerfender Sohn, dem Tode verfielen, als David unter einem nichtigen Vorwand alle sieben auf einmal hinrichten ließ, auch da erschien Michal starr und unbewegt und tränenlos. Nichts mehr konnte sie in Staunen setzen, was von jenem kam. Jede Abscheulichkeit war ihm zuzutrauen, wenn sie seinen ehrgeizigen Zielen oder auch nur kleineren Gelüsten diente. Nackt und ekelhaft entblößt lag seine Seele vor ihr in all ihrer Arglist; nur das Äußere, die Krone, der Speer und der Petigil, der Prachtmantel, waren ein König. Sie hätte wider ihren eigenen Körper wüten mögen, der sich ihm unwiderruflich zugelobt hatte, dem Manne, der sie getäuscht und preisgegeben, der sie begeifert und verhöhnt hatte, den sie hassen sollte, und dem sie untertan war – trotz ihrer selbst, trotz alledem.
Denn dies war das Verhängnis ihrer Einsamkeit und ihrer Größe. Die leichte gefällige Natur des Weibes war ihr versagt und unverständlich und blieb ihr ein ungedeutetes Rätsel. Wie jene brunnentiefen Wunderblumen aus dem Märchenland trieb sie nur eine Blüte, spendete sie nur einmal Duft. Begnadet der, dem die Erscheinung zuteil wurde, dem eine Nacht das seltsame Geheimnis offenbarte. Aber ob ein Kaiser oder ein Bettler, ein Weiser oder ein Narr, ein Andächtiger oder ein leichten Sinnes Verschwendender – sein Eigentum wurde sie und blieb sie. Man konnte hadern mit ihm, sich empören, sich zerfleischen. Man konnte zerbrechen an ihm und zugrunde gehen. Ja, selbst wenn man, um ihm zu entfliehen, andern sich hinwarf – er blieb der einzige und der Eigner.
So glühte in der abgestumpften, vom Gram umsinterten Frau zu innerst doch noch das eine große Gefühl, das ihrem Dasein Prägung gegeben hatte. Sie krankte an David, sie sah in ihm den Mörder ihrer Brüder, den Erbfeind des Hauses, den Mann, der sie erniedrigte und vor sich selbst verächtlich machte, der sie dem Spott, und was schlimmer war, dem Mitleid seiner Weiber und ihrer Mägde überließ; sie durchschaute den Heuchler, der alle Welt und zuweilen sogar sich selbst belog – aber das war sie. In ihr aber war ein Etwas, das ihm verfallen blieb, es hing an ihm, hielt an ihm und – so sehr sie sich darum schalt und schämte – oft verlangte es nach ihm. Stärker als alle Vernunftgründe, als aller Hochmut war die unvernünftige Demut, die sie zwang, trotz ihrer selbst und alledem, nur Davids Weib zu sein und ihn allein zu lieben.
David wußte und ahnte nichts davon. Sein plumpes Mannesgefühl hätte selbst dann nicht aufgemerkt, wenn er weniger erfüllt gewesen wäre von seinen ihm unsäglich wichtig scheinenden Projekten. Aber so, unter neuen Kämpfen mit den Philistern, der Befestigung seiner Herrschaft über alle Stämme, der Verlegung der Residenz in das im Kriege gegen die Jebusiter eroberte Jerusalem, hatte er wenig Zeit, sich in Michals Trauer und inneres Erleben zu versenken. Er ging ohne Bedenken und feine Skrupel seinen Begierden nach. Waren schon in Hebron sechs Hauptfrauen ihm zugesellt, Ahinoam, Abigail, Maachas, Haggith, Abital und Egla, so nahm er in Jerusalem noch mehr Weiber und zeugte viele Söhne und Töchter mit ihnen, daneben gebaren ihm auch noch seine Kebsweiber zahlreiche Kinder.
Aber der Gedanke, Michal sich wieder zu erobern, verließ ihn bei alldem niemals gänzlich. Zu sehr wurmte es ihn, daß er, dem alles im Leben geglückt war, hier an diesem einen, an sich ganz belanglosen Ding – eines Weibes Umarmung, gab es Gleichgültigeres auf der Welt?! – versagen sollte. Sein Stolz, seine Eitelkeit waren empfindlich getroffen und seine Zähigkeit gab so leicht nichts auf. Hätte sie sich ihm geradezu verweigert, so wäre alles schnell erledigt gewesen. Er war ganz der Mann dazu, eines Weibes Widerstand mit ganz besonderm Genuß gewaltsam zu überwinden. Aber ihrer völligen Passivität war er nicht gewachsen.
Was ihn aber besonders antrieb, war noch ein anderes. In Michal reizte ihn nicht nur das Weib, nicht nur das ungewohnte Erlebnis, das Rätsel seiner eigenen Körperlichkeit – ihr Besitz war auch von politischer Bedeutung, beinahe eine Notwendigkeit. Ihm lag daran, sein Reich auch seinen Nachkommen zu erhalten, eine unanfechtbare und starke Dynastie zu schaffen. Nun gab es aber schon bei seinen Lebzeiten besorgniserregende Anzeichen. Jede seiner Frauen wollte ihrem Sohn die Thronfolge sichern. Man rang ihm im Rausch der Diwane halbe Versprechungen ab, jede hatte ihren Anhang; Intrigen im Palast und außerhalb entspannen sich und umwanden ihn. Die Kinder schon standen sich feindselig gegenüber, lernten früh im Bruder den Feind und Störenfried des eigenen Wohls erblicken. Wurden sie älter, mußte das zu Zwistigkeiten führen, vielleicht sogar zum Aufstand einzelner oder mehrerer verbunden gegen ihn selbst. Wie aber sollte es erst werden, wenn er heimgegangen. Würde sich einer unter seinen Sprossen finden, bedeutend genug, um aller andern Herr zu werden? Und wenn selbst dies kaum zu erwartende Ereignis eintrat, würde sein Geschlecht noch Bestand haben in der dritten Generation und in den folgenden? Sollte das Reich, das zu errichten er keine Mühe, keine Entbehrung – und auch keine schlimme Tat – gescheut hatte, in Staub zerfallen, wenn er selbst zum Staube geworden?
Aus all dieser Bedrückung gab es eine Lösung: Michals Sohn. Wenn sie, die erste seiner Frauen, einen Sohn gebar, war dessen Thronerbrecht an sich unbestreitbar. Vor allem aber war es ein Kind aus Sauls Geschlecht. Das bedeutete die Verschmelzung beider Königsstämme, die Einheitlichkeit und ununterbrochene Fortsetzung des Königsgedankens. Und es würde nicht nur den immer noch zurückhaltenden Norden, vor allem die Benjaminiten, ihm verknüpfen, sondern überall vom Volke als sichtliches Zeichen der göttlichen Gnade, als schönster Beweis für seine und seiner Nachfolger königliche Bestimmung angesehen werden; als habe Saul selbst die Versöhnung gepredigt und Davids Samen gesegnet.
Und hier begegneten sich, unausgesprochen, der Eheleute Gedanken. Denn auch in Michal war mehr und mehr und kaum noch zu überwinden der Wunsch entkeimt, einen Sohn von David zu empfangen. Die Liebe, deren sie sich schämte und die sie doch nicht unterjochen konnte, erhielt dann eine Rechtfertigung und Freispruch. Auch empfand sie es als heilige Pflicht gegenüber dem höher als je verehrten Vater, seinem Blute die Krone zu erhalten, oder eigentlich neu zu gewinnen. Stärker aber noch als alle solche Erwägungen war das immer heißere Verlangen, Mutter zu werden, Mutter zu sein. Als israelitische Frau kannte sie es nicht anders und fühlte es nicht anders, als daß es nur einen wahrhaften Segen gibt: die Fruchtbarkeit; nur ein verzweifeltes Geschick: kinderlos zu leben; niemanden nachzulassen, der das Totengebet spricht zur Jahrzeit am Grabe der Eltern.
So schmolz mehr und mehr das Eis um ihre Empfindung. Noch war die hohe Flut nicht über ihr, aber es wehrte nur der letzte Damm. Wie einst in Paltiels Haus hätte ein zufälliger Beobachter sie erblicken können, wenn sie sich ungesehen glaubte, kniend vor einem Kinde, mit hastigen scheuen Liebkosungen, ängstlich, es zu erschrecken, und doch im Drange, es an sich zu pressen und sein kleines Herz an das ihre pochen zu lassen, das so voll war von Leid und Widerstreit und so durchtränkt von unendlicher Sehnsucht.
Sie begann einen Kampf gegen das eigene Ich zu Davids Gunsten; entschuldigte ihn vor sich, schmälte sich hart und unduldsam, verkleinerte sich, um ihn ein wenig höher zu heben. Ach, sie wußte, daß all dies nicht richtig war, daß sie sich täuschte und die Wahrheit verschleierte. Aber sie wußte auch, daß ihr selbst die Schatten der Abgeschiedenen vergeben mußten. Denn größer, gewaltiger noch als ihre Pflichten gegen sie, erhabener als die einsam ragende Klippe ihres Schicksals war ihre Liebe. Und alles überstrahlte das menschliche und göttliche Gesetz in ihr – ihr Recht auf Mutterschaft.
Wäre David in diesen drängenden Tagen einer zweiten Frühlingsleidenschaft zu ihr gekommen, so hätte er Michal nach allen Prüfungen, die sie durchlebt, schnell erlöst und erschlossen. Und das ewige Wunder des Werdens hätte sich in ihr vollendet. Aber er war wieder einmal mit Wichtigerem beschäftigt. In der unruhevollen Sorge um sein Werk hatte er den Gedanken der Priesterschaft aufgegriffen, die Lade Jahves aus ihrer Vergessenheit nach Jerusalem zu bringen. Das alte nationale Heiligtum konnte eine weitere feste Glasur für das Tonzeug seines Königreiches geben und so rüstete er die Fahrt.
Michal hörte davon, merkte die Vorbereitungen für den großen Heerzug, der die Lade einholen sollte. Die erregbare Neugier der Frauen berührte sie nicht. Ihr war es nur eine unpasse Gelegenheit, die David jetzt fernhielt von seinem Hause; jetzt gerade, wo sie bereit war, ihm Haus und Heimat zu errichten in sich selbst.
Ihre Ungeduld wuchs unerträglich, als ein Unglück sich ereignete, das eine längere Unterbrechung des Unternehmens erzwang. Neunzig Tage wartete David ab in der Burg auf Zion, neunzig Nächte erwartete Michal ihn auf ihrem Lager. Aber der König, kopfscheu durch das böse Vorzeichen, bebend vor dem Zorn der Gottheit, der sich an der Lade offenbart hatte, und in feiger Angst horchend auf jedes drohende Murmeln der öffentlichen Meinung, betäubte sich allabendlich in wüsten Orgien. In den verruchten Lastern, die Sodom, Babylon und Ägypten ersonnen und die auch in seinem Harem gelehrige Schülerinnen gefunden hatten, wälzte er Schlamm über seine Gedanken und Befürchtungen. Niemals fand er den Weg zu der Spröden und Reinen, der er grollte, weil er sie sich feindlich glaubte. So glitt er ahnungslos vorüber an dem höchsten und reinsten Gefühl, das seinem Leben geschenkt war. Weinestrunken oder von unerhörter Ausschweifung ausgesogen und erschöpft, taumelte er an dem Gemach vorbei, in dem die einzige Frau, der einzige Mensch seiner harrte, der ihn liebte – um seiner selbst willen – trotz alledem.
Nach der dreimonatlichen Pause begann die Einholung der Lade zum andern Male. Diesmal, so vermeldeten täglich die Läufer, ging alles glatt vonstatten. Nun war der Festzug nur noch zwei Tage, heut nur noch einen von Jerusalem entfernt. Und jetzt verkündete erst leises Summen, dann immer deutlicher, unterschiedlich werdend das Gewirr von Tönen – Musik, Heilsrufe, Bittgesänge, Schreie der Begeisterung und Selbstanfeuerung, daß er die Mauer erreicht hatte, daß er einbog in die schwarz gepflasterte Hauptstraße der freudig erregten Stadt. Die Zurückgebliebenen strömten entgegen, ihn aufzufangen, in ihn einzumünden. Michal blieb in der Burg, schweren, ahnungsvollen Herzens, ausgemürbt von der langen zwecklosen Erwartung, müde und grollend auf jedermann. Auf David, der sie verschmähte, auf seine Priester, sein Volk, seinen Hofstaat, die sich zu dieser Narrensposse vereinigt hatten, einen alten Fetischkasten, den Saul irgendwo verächtlich in einem Winkel des Landes hatte morschen lassen, anzubeten und ihm zu huldigen. Auf Jahve endlich, dem dieser Zauberschrein geweiht war. Jahve – was gilt er, was bedeutet er? Ihrem Vater war er Feind gewesen und hatte David ausgewählt und gestützt gegen ihn. Er war nicht besser und nicht mehr wert als alle andern Baale, die gerade dann immer versagten, wenn man ihrer Hilfe ernstlich bedurfte. Wo war seine Macht, wo selbst die der großen Astaroth, der Göttin der Fruchtbarkeit, zu der sie geopfert und gefleht alle die Tage und Nächte hindurch. Warum brachten diese Gewaltigen nicht einmal das kleine alltägliche Geschehnis zustande, einen Mann in die Arme einer Frau zu führen, die sich ihm schenken wollte?
Hadernd, ablehnend, grimmig in lästerndem Spotte blickte die Einsame am Fenster lehnend hinaus auf den Hof, in den die Schlange des Zuges sich wälzte. Und plötzlich sprang ihr Herz in einem großen Satze auf, ihre Augen quollen vor, ihre Fingerspitzen krallten sich in die Brüstung und das niedere Gitter von Holz, und sie beugte sich vor und durch die Öffnung hinaus, als wollte sie sich hinunterstürzen. Mit schmerzhaftem Krampf, mit aufsteigender Übelkeit hämmerte sich der Anblick, der sich ihr bot, in ihren Kopf, der nicht fassen konnte, nicht glauben wollte, was dort geschah.
Voran der unübersehbaren Menge schritt David daher. Schritt? Nein – er schritt nicht, geruhsam und gelassen, wie es einem ehrbaren Manne, wie es vor allem dem Herrscher ziemt. David, der König von Juda und Israel – der Mann, den sie liebte, von dem sie sich Kinder erhoffte – er tanzte. Das ärgste aber – Michal bohrte die Fäuste in die Augen, sie wollte nicht sehen, sie durfte nicht sehen – sooft er in die Höhe sprang, bauschte sich das Priesterröckchen, das er trug, hoch empor, und alle Bürger und Mägde und Knechte erblickten die Blöße ihres Herrschers und begrüßten aufkreischend und johlend in unflätigem geilem Entzücken das seltene Bockspiel einer königlichen Scham.
In diesen Augenblicken starb Michals Liebe den bittern Tod der Verachtung. Im Salz der ungeweinten Tränen erstarrte ihr Leib, wie einst der Körper von Lots Frau, als sie neugierig ihre Augen wandte nach dem Untergang der Sodomiter. In dieser Stunde erblich die letzte Hoffnung, das letzte weibliche Begehren in Davids Ehefrau, versiegte der Born der Mutterkraft in ihr und das brünstige Schwellen der Muttersehnsucht. Davids Tanz erstickte das ungezeugte Kind in dem edlen Schoß der Saulidin, sein stampfender Fuß zertrümmerte auch den Bau seines eigenen Lebens, die gesicherte Zukunft seiner Herrschaft und seines königlichen Geschlechtes.
Denn nun wußte Michal, daß sie einem Phantom nachgejagt war, einer Fata Morgana, wie Ahasel der Wüstenteufel sie dem verdürstenden Wanderer vorzaubert, der vom Wege abgeirrt im Sande versinkt und verröchelt. Ein flüchtig aufzuckender Gedanke bat die Götter um Verzeihung, deren Walten sie kurzsichtig verkannt hatte. Schauder überflog sie bei der Vorstellung, ihr Begehren hätte sich erfüllt, David hätte sie zur Mutter gemacht. Sie hatte ihn geliebt und noch lieben dürfen, als sie ihn für einen kleinen Menschen gehalten. Jetzt aber hatte sie begriffen, daß stets nur ein unreiner Klang, eine versteckte quälende Disharmonie erschallen konnte, wenn er sein Inneres enthüllte. Alles in ihm, auch seine süße Kunst, die sie einst eingefangen und bezaubert, war unecht. Vor ihrem Ohre schrillte ein Lied voll verbrecherischen Triumphes und ihr Hirn kündete mit unerbittlicher Klarheit, dies ist die wahre Melodie seines Lebens. Der Ekel lehrte sie jetzt den wirklichen Sinn des Wortes: David schlägt die Harfe.
Aus Ehrsucht zügellos, heuchlerisch und feige, so hatte sie ihn schließlich eingeschätzt. Aber dieser da war nicht nur böse und nieder, dieser war schlecht und gemein. Die Gemeinheit aber verpestet jeden, der sich ihr gesellt, und ist unausrottbar bis ins dritte und vierte und tausendste Glied. Niemals durfte Sauls Tochter ihr verfallen, nie durfte ihr Körper dazu dienen, faulige Früchte zu tragen, dazu helfen, daß das Abscheuliche sich fortpflanze und neues Unheil, neuen Gifthauch wehe über die künftigen Geschlechter.
David brachte die Brand- und Dankopfer dar in der Hütte, die man als einstweiligen Unterstand für die Lade im Burghof errichtet hatte. Berauscht vom glücklichen Ausgang des langen Unternehmens, erhitzt und erhellt vom Zuruf der Menge, aufgewühlt vom eigenen Schrei und Tanz trat er in sein Haus. Heute mußte Michal sein eigen werden, heute wollte er das Unterpfand künftigen Glückes, den Thronerben, erwecken in ihrem Leibe. War er nicht der Liebling Jahves, der verehrte und gepriesene Gebieter aller Stämme, der würdige Nachfolger des großen Königs – alles ging ihm zum besten aus und heute stand er auf dem Gipfel des Erfolges. Wer konnte ihm widerstehen?
Er trat in sein Haus, schritt unverweilt in die Räume der Frauen, auf Michals Kammer zu, in der sie neunzigmal den Morgen und den Abend angefleht hatte um sein Erscheinen. Vor der Tür trat sie ihm entgegen, wehrte den Zutritt in eherner, fast abgeklärter Gelassenheit, Istar, der Mond- und Todesgöttin gleichend. Und David verschlug es den Atem, die tanzmüden Knie gaben nach, er mußte sich anlehnen und starrte mit erschrockenen Augen. Den Turban hatte sie abgelegt, die Haare gelöst, ein Riß zog quer über ihr Gewand, der härene Sack hing um ihre Hüfte und ohne Sandalen setzte sie die schlanken Füße vor. Michal hatte Trauer angelegt. Im Heime Davids weilte der Tod. Und ehe der Bestürzte fragen, forschen konnte, sprach sie mit schneidendem Hohne in der Stimme: »Wie herrlich ist heute der König von Israel gewesen, der sich vor den Mägden seiner Knechte entblößt hat, wie sich die losen Leute entblößen!« Und Wort und Aussehen und Haltung ließen keinen Zweifel, wie tief sie ihn verachtete und daß er selbst der Tote war, um den sie die Tracht der sieben Tage angelegt, weil er gestorben war für sie, als seine Manneswürde starb und seine königliche Ehre.
Da begriff er, daß er niemals mehr dieses Weibes teilhaftig werden konnte. Er stürzte tief vom Scheitelpunkt seiner Selbstgefälligkeit und seiner sichern Hoffnung, verworfen, zu leicht befunden und hinabgestoßen in den Abgrund des Nichtseins, in die Totengrube der Verfemten. Zorn und Rachsucht quollen in ihm auf, schäumend vor Wut wäre er am liebsten über diesen hochmütigen Stolz hergefallen, hätte Michal niedergerissen und gewürgt. Doch die Strenge ihres Wesens, die Kraft ihrer Geringschätzung drückte ihn nieder wie ein Tier unter die Peitsche des Bändigers. Aber gut denn, wenn er sie nicht erringen konnte, wenn dieser einzige Mensch ihm zu widerstehen und ihn zu züchtigen vermochte, so wollte er ihr wenigstens mit Worten Schmach und Schimpf bereiten. Tödlich wollte er sie verletzten, die an ihn gefesselt war durch Ehevertrag und Gesetz. Ihr als Frau war es ja unmöglich, die Ehe zu lösen, er aber würde ihr nie den Scheidebrief erteilen, den sie wohl erwartete und erhoffte. Trat sie als seine Witwe ihm entgegen, so sollte sie es sein und bleiben bei seinem lebendigen Leibe und dem ihren. Und er wußte wohl, wie er sie am tiefsten verwunden konnte:
»Dem Herrn habe ich gedankt, vor ihm gespielt und getanzt – weil er mich erwählt hat vor deinem Vater und vor allem seinem Hause. Weil er mich an seine und seiner Söhne Statt erhoben hat, der Fürst zu sein über Israel.
Kränkt es die stolze Michal, meine Gattin zu heißen? Dünkt es ihr Anlaß zur Trauer und Totenklage, in meinem Harem weilen zu müssen, eines Mannes Weib und Eigentum zu sein, der sich gemein gemacht hat vor allen? –
Noch geringer will ich werden denn bisher. Niedrig will ich werden in meinen eigenen Augen. Spott und Schande aber sollst du erdulden von den Frauen meines Hauses. Die Mägde, von denen du geredet hast, sollen frohlocken und lachen über dich, und ich will sie zu Ehren kommen lassen hoch über dir. –
Dich aber preise ich, und dir singe ich, Jahve, und jauchze dem Herrn, denn er ist freundlich und seine Güte währet ewiglich. Die Himmel verkünden seine Gerechtigkeit und alle Völker sehen seine Ehre!«
… Was weiter zu erzählen von Michals Tagen? Wie ihr Geschick sich noch gestaltete und sich vollzogen? – Aber ihr Leben war ja doch beendet mit dieser Stunde. Durch alle Höhen und Tiefen war sie geschritten. Glanz und ragende Stellung waren ihr Teil und Erniedrigung und schwerer unaufhaltsamer Fall. Durch alle Himmel, durch alle Höllen der Leidenschaft war sie gewandert, Eden und Frucht der Erkenntnis hatte sie in sich getragen, nun war sie ausgeschlossen und zum Staube verflucht. Unwiederbringlich, unerreichbar entschwand das Paradies vor ihren Augen und aus ihrem Herzen, und die Pforte der Verdammnis schlug dröhnend und auf immer hinter ihr zu.
Wie viele graue, freudlose Jahre sie in der Gruft, die sie sich freiwillig bereitete, noch dahinkümmerte – wir wissen es nicht. Und es ist auch ganz gleichgültig. Nichts konnte sie mehr berühren, nichts erreichen und erweichen. Vielleicht gaben Kummer und Erschöpfung ihr ein baldiges gnädiges Vergehen. Vielleicht – und dies ist wohl eher anzunehmen – trocknete sie noch Jahrzehnte dahin, erlebte, wie David immer tiefer sank in Sündigkeit und seelische Zersetzung, aber auch, wie das Gebäude seiner Taten schon in seinen Tagen zu wanken und rissig zu werden begann.
Aber all dies ist ganz gleichgültig für Michals eigene Geschichte. Sie hatte keinen Teil mehr an den Dingen dieser Welt. In der Auffassung ihres Volkes war sie tot wie auch in ihrer eigenen, von Stund' an, als sie der Bestimmung des Weibes entsagte, lieber unfruchtbar dahinwelken wollte, als sich zu mischen mit der Erbärmlichkeit. Und keinen stolzern Grabspruch kann man ihrem unausgelebten Leben ersinnen als die letzten Worte, die die Bibel über sie berichtet, den Ausklang nach der Absage, die sie David erteilte. Geschrieben steht:
»Aber Michal, Sauls Tochter, hatte kein Kind bis an den Tag ihres Todes.«
… Durch die Jahrtausende klagt dieses Spruches Melancholie. Unaufhörlich begleitet sie alles Geschehen, alle wüsten Taten der Männer, allen Irrwahn des Menschengeschlechtes; Not, Seuchen, Krieg, Verfolgung, Haß und Gier, Bedrückung der Schwachen und die freche und herausfordernde Anmaßung der Gewalttätigen und Gesetzesübermütigen, die sich mehr und besser zu sein dünken als ihre armen von ihnen geknechteten Brüder. Immer klang und klingt als leiser Unterton das ganz einfache, ganz alltägliche und doch in seinem Jammer so unsägliche Schicksalswort jener Frauen, die nicht Mutter werden konnten trotz ihrer Eignung und trotz ihrer Sehnsucht.
Michal, die Stolze, Edle, hat freiwillig das Marterlos auf sich genommen. Den schwersten Weg ist sie geschritten, sich selbst brachte sie zum Opfer dar vor dem strengen und geheimnisvollen Gott, dem sie zur Priesterin geweiht war, vor ihrer eigenen, alles hingebenden, alles wagenden, alles ertragenden Liebe.
… Durch die Jahrtausende drang ihr rührendes Erleben, erhielt sich Michals unbefleckter Ruhm. Er zwang auch mich in seinen Bann, hieß mich von ihr erzählen, über deren Grab an unbekannter Stätte Schicht auf Schicht sich gehäuft, Gottessucher und Gottesleugner, Gotteskünder und Gotteskrieger gewandelt, das seine Beute birgt vor aller zudringlichen Forschung, dessen Geheimnis keines Spatens Neugier je enthüllen wird. Ihr Geist beschwor sich mir und spulte die kleinen Ereignisse ihrer Leiblichkeit und das große Ereignis ihrer wundervollen Seele vor mir ab. Er befahl mir, diese bunten Tafeln euren Augen vorzulegen. Und während das Spiel ihres Lebens sich magisch vor mir vollzog, saß ich, ein atemloser Zuschauer, davor, aufgewühlt und entzückt, hingerissen, begeistert, aber auch in tiefstem Mitgefühl für ihr großes, schweres Leiden. Für ihr großes, schweres Leid.
Aber nun heben sich wallende Nebel zwischen uns. Der Schatten aus der fernen Urzeit der Geschichte wird schwächer, durchsichtiger und will entschwinden. Die aus der Todesruhe herglitt in das überhitzte, übergrellte Licht unserer Tage, wendet sich hoheitsvoll zurück in das Glück des Nichtmehrseins, in die Vergangenheit und das ewige Schweigen.
Michal, meine Gefährtin so mancher Stunden, Michal, meine Schwester, meines Blutes Braut – sie verläßt mich – ich kann sie nicht bannen, ich darf sie nicht halten.
… Und durch die trennenden Schleier hindurch, aus der Symphonie des unsichtbaren Weltorchesters, die das Trauerspiel ihres Daseins begleitete und in dem Davids Harfe schließlich nur ein unbedeutendes vom Sange ihrer reinen Sphäre überrauschtes Instrument war, löst sich, in leiser Klage aufschwingend, abschwellend, verhallend die eine wehmütige schlichte Folge von Tönen, in der ihres Wesens Größe und ihr schwerer Schmerz, die Kraft ihrer Entsagung und ihr Nachruhm festgehalten sind für alle Zeiten:
» Aber Michal, Sauls Tochter, hatte kein Kind bis an den Tag ihres Todes!«