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Der Erbfeind


Des Volkes Wille war unerschütterlich. Vergebens hatte der greise Samuel wieder und wieder versucht, seinen Sinn zu ändern. Nur vorübergehend dämpfte sich die Erregung, wie damals, als auf der Versammlung zu Mizpah eines der so seltenen Sommergewitter zu Hilfe kam und die anrückenden Philister erschreckte und verscheuchte. Seitdem waren einige Jahre vergangen; Jahre, in denen Samuel mit steigender Unruhe erkannte, daß die Gedankensaat, die ein jäher Windstoß über die Gemüter gestäubt hatte, keimte, Wurzel schlug und unwiderstehlich die Erde lockerte. Sie wollten nicht länger einem priesterlichen Richter gehorchen, mochte er noch so untadelig seines Amtes walten wie Samuel. Heraus wollten sie aus der nationalen Zersplitterung, aus dem Geschlechts-, Stammes- und Parteienhader. Einen Führer begehrte die Menge, einen Helden, willig, ihm zu folgen, auf daß er sie von dem schmählichen Druck der Feinde befreie. Ihr aufgestauter Haß und ihre Sehnsucht nach Vergeltung, durch die mißtrauische Politik der Philister glutig überhitzt, spähten nach einem Ausweg und freier Bahn. Um den Preis der völkischen Auferstehung und in der Aussicht, das Joch des Erbfeindes abzuschütteln, waren der Norden und der Süden, Israel und Juda bereit, den alten Zwist beizulegen und zu vergessen. Ihrer Sonderrechte wollten die einzelnen Stämme sich begeben, ein einig Volk von Brüdern sein und zu einer Spitze sich ziehen. Die Priester mahnten: Jahve verargt es, wenn man einen irdischen Herrscher kürt und neben ihn setzt. Aber des Volkes Wille blieb unerschütterlich. Auch in den wider das Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung und ohne ihr Befragen abgerissenen Teilen des Landes, vor allem aber im besetzten Gebiet, wo der Kommissar der Philister schaltete, gab es nur eine Stimme, einen Wunsch, ein eigensinniges Verlangen: »Gebt uns einen König!«

Begreiflich war die tiefe Verdrossenheit, das Gefühl des Unglücks und der nationalen Schmach. Der große Krieg hatte in der Doppelschlacht von Aphek das Blut und die Blüte der Hebräer verschlungen. Selbst das alte Heiligtum aus der Urväterzeit, die Bundeslade, war den Philistern in die Hände gefallen, und schwer wuchtete ihre Faust auf den Besiegten. Ihre Eroberungszüge hatten zwar aufgehört. Des Donners Groll von Mizpah hatte als warnendes Wunderzeichen ihren Aberglauben eingeschüchtert. Seither hielten sie sich innerhalb ihres Gebiets, und einige von den verlorenen Grenzstädten hatten sich sogar wieder von ihrer Oberhoheit losgesagt, ohne daß die fünf Könige der Philister ernstlich Einspruch erhoben. Diese Herrscher, die früh die Macht der Einigkeit erkannt hatten, hielten das Hauptziel für gesichert. Ein fester Riegel verschloß den Zugang zum Meere. Überzählige Erzeugnisse von Viehzucht, Wein-, Öl- und Getreidebau konnten die hebräischen Hintersassen nur durch die Vermittlung der Philister in den Weltverkehr bringen. Was an ausländischen Rohprodukten und den großen technischen Errungenschaften der Neuzeit dem besiegten Binnenvolke zuteil wurde, hing vom Willen der Beherrscher der Küste ab. Und wenn diese auch nicht kleinzügig waren – wie sie ja schon in früheren Zeiten wichtige Kenntnisse, so die Schrift und die Bearbeitung des Eisens, den Nachbarn gelehrt hatten – so empfand doch jeder wehrhafte Mann aus Israel und Juda das lastende Gewicht der Fremdlinge und ihr im Vaterland eingerichtetes Spionage- und Überwachungssystem als unwürdig und unerträglich. Was aber die Gemüter am tiefsten erregte und das Volk in allen seinen Teilen aufwühlte, bis in das Mark erschütterte und sein geduldiges Blut mit Gift sättigte, war die allgemeine Entwaffnung, die die Philister mit hartnäckiger Inbrunst durchgeführt hatten. Nicht nur, daß sie alle vorhandenen Waffen als Beute verlangt und ihre Ablieferung erzwungen hatten – so groß war ihre Angst vor dem Wiedererstarken des kriegerischen Geistes der Hebräer, so sehr fürchteten sie trotz ihres Sieges, den sie als das glänzendste Ereignis der Geschichte gefeiert hatten, die inneren Kräfte der Unterdrückten, daß sie auch für alle Zukunft ein Abrüstungsgebot erließen. Hiermit folgten sie einem früheren Beispiel. Schon zur Zeit der Richterin Debora war nach einer Niederlage das Waffentragen den Israeliten untersagt worden. Aber diesmal gingen die Philister gründlicher zu Werke, gewarnt durch die geschichtliche Erfahrung, daß es damals doch gelungen war, nach und nach ein Heer heranzubilden und zu rüsten. Sie nahmen die wenigen Erzgruben des metallarmen Landes an sich, und damit nicht aus eingeführten oder vorhandenen ehernen Werkzeugen des Friedens Schwert und Spieß gefertigt werden konnten, wollten sie jede Heeresindustrie unterbinden und untersagten deshalb sogar das Handwerk der Schmiede. Wenn jemand einen Pflugschar, eine Haue, Beil oder Säge schärfen lassen wollte, mußte er sie ins Land der Philister senden. Auf diese Weise gedachten sie den unruhigen Gegner dauernd niederzuhalten und zu sanfter Ungefährlichkeit zu erziehen. Aber sie stachelten nur seinen Grimm und nährten die zehrende Ungeduld. Man mußte mit schartigen Schneiden sicheln und sensen, zimmern und trümmern. Stumpf forkte die Gabel Dünger und Gras, dem Vieh war der Stachel nur Kitzel, das klumpige Ackerland schien der weichlichen Egge zu spotten. Auch beeilten die philistäischen Schmiede die Wiederherstellung der Geräte nicht sonderlich. Allenthalben schlummerte Ärger, reckte sich Sorge. Aber an versteckten Plätzen im Land lagerte dennoch manch gutes Waffenstück. Der Hirte, der seine Herde vor wilden Tieren und den räuberischen Gelüsten hungernder Beduinen verteidigen mußte, der von der feindseligen Natur bedrohte Reisende, aber auch der schollengesetzte Großbauer im Innern des Landes besaßen irgendwie ein Dolchmesser oder fertigten sich Keule und Bogen, versahen die Pfeile mit Feuersteinspitzen, tauchten diese in wirksamen Giftsud, oder man grub die alten Wurfbeile wieder heraus, die einst achtlos der Erde überlassen waren, als die Kunst des Metallschmelzens und Hämmerns aufkam.

Samuel war in schwerem Zwiespalt. Die Not seines Volkes brannte in ihm heiß wie in allen. Aber er übersah die Dinge von höherer Warte als die in ihrem Hasse unbesinnliche Menge. Sein abgeklärtes Alter tadelte den kaum zu bändigenden Ungestüm der Jugend nicht, ehrte ihre schöne vaterländische Begeisterung und liebte sie deswegen um so mehr. Die Stimme der Vernunft predigte aber eine nüchterne Politik. Wie sollte das waffenlose Volk den Feinden entgegentreten? Die freie Verbindung mit dem Meer, über das sie als kühne Seeräuber einst gekommen waren, gab ihnen von je einen Vorsprung, ihre Ausrüstung war der der Hebräer stets überlegen. Der Filzhelm ließ die Pfeile Israels unschädlich abprallen, die schweren ehernen Rundschilde und Schuppenpanzer machten sie nahezu unverletzlich gegen die Speere und Schwerthiebe Judas. Und war nicht der Verlust des letzten großen Krieges schließlich nur ihrer Überlegenheit im Material zuzuschreiben? Der Schrecken ungeheurer, eisenbeschlagener Streitwagen war über die tapferen Kämpfer hereingebrochen. Man hatte das sagenhafte Kriegsgerät unterschätzt, sich darüber im Hauptquartier sogar lustig gemacht – wußte man sich doch im göttlichen Schutze; man diente der gerechten Sache und vertraute dünkelhaft der guten Ausbildung der Mannschaft und der Erbweisheit in der Kunst der Strategie. Aber aus welchen Ursachen immer und wie grausam auch die Wahrheit den Stolz zerfleischt – es hilft ja alles nichts: Wir sind besiegt. Die Besten sind dahin. Entbehrung und Bedrückung haben den Rest an Körper und Geist zermürbt. Samuel hielt es für unerträglich und frevelhaft, den ungeheuren Satan Krieg von neuem zu beschwören.

Das Ansehen, das er genoß, ermöglichte einen notdürftigen Zusammenhalt des Volkes. Er versah sein Richteramt im Umherreisen, behielt aber einen Stammsitz, und zwar in Rama, nachdem die alte heilige Stadt Silo zerstört worden war. Man wußte allerorts, daß Samuel unbestechlich und von strengen Sitten war. Aber die Priesterschaft war nicht seines Geistes. Frechlinge wie Hoffni und Pinehas, die Söhne seines Vorgängers Eli, die das pilgernde Volk brandschatzten, den frommen Glauben höhnten, Opferspeisen gierig verschlangen und mit den verbuhlten Dienerinnen der Stiftshütte Unzucht trieben, duldete Samuel nicht. Aber selbst seine eigenen, zur Nachfolge im Hohepriester- und Richteramt bestimmten Söhne ergriff die Verwirrung der Nachkriegszeit. Sie neigten zum Geiz, nahmen Geschenke und beugten das Recht. Samuel trauerte tief, aber in seinem echten Gottvertrauen, erwachsen aus den Vorgängen seiner eigenen Widmung und Berufung zum Priester, wollte er dem Willen Jahves nicht vorgreifen. Sein greisendes Haupt lauschte schon hinunter zum Grabe, aber sein Geist steilte zum Himmel empor in dieser festen Zuversicht, daß der Herr der Heerscharen auch ohne Waffenglanz, jauchendes Blut und den Schrei der Vernichtung dem Volke seiner Auswahl helfen werde. Die Zeit mußte sich erfüllen, in der die Welt einst am jüdischen Wesen genas. Seine Standesgenossen hatten andere, triftige, wenn auch nicht offen verkündete Gründe für die Verherrlichung des Friedens. Ihnen schien der priesterliche Obrigkeitsstaat, in dem ihre Belange bestens gewahrt waren, die ideale Staatsform. Das Volk? – Was war das? Ein plumper, geistesträger Koloß. Seine Ungezähmtheit war mit Vorsicht zu behandeln. Es konnte aber nur Gegenstand der Gesetzgebung und Verwaltung sein, nicht Lenker seines Schicksals. Vormundschaft ist Staatserhaltung. Murrte es, so machte man einige kleine Zugeständnisse in widerwilligem Feilschen, Schritt für Schritt weichend, und mit dem Hintergedanken, bei guter Gelegenheit nach rückwärts zu revidieren. Herrschen ist eine Kunst, sie blieb der auserlesenen Kaste vorbehalten. Wie sollten sonst auch für die männliche Nachkommenschaft fette Pfründen gefischt, wie genügend Kapital gehamstert werden, um Töchter der guten Familien zur Ehe zu erkaufen?

Durch Arbeit etwa? – Arbeit ist Pöbelschmutz. Erde und Dung hätten die feingepflegten levitischen Hände verrauht und die blütenweiße Linnentracht des Priestertums befleckt. Und wenn auch Unruhgeister, wie einst zu Moses und Aarons Zeiten die Bösewichter der Rotten Korah, Daton und Abiram, aufbegehrten und die Lämmertreue der Gefolgschaft zu erschüttern suchten, neigte sich doch die große Mehrzahl vor dem Geheimnis adliger Abstammung und der Livree des lieben Gottes in Ehrfurcht und Gehorsam. (Auch war die Kunst der Wundertaten, wie Moses sie vor Pharao geübt, der frommen Gilde nicht verloren.) Abgaben und Steuern flossen willig für höhere und allerhöchste Zwecke. Auch sie dienten selbstverständlich nur der Heiligung aller und der erbaulichen Erhebung. Es war unbequem und opferschwer, die herrschende Klasse zu sein; man trug es seufzend, aber gefaßt. Denn es geschah zu Gottes Ehre, für des Volkes Wohl. Und es menschelte niemand und nirgends.

Samuel als Oberhaupt und Ältester des levitischen Verbandes mußte die Privilegien, Einkünfte und die Machtsphäre wahren. Er wußte, daß mit seinen stets Getreuen nicht zu scherzen war und daß Widertum Lebensgefahr bedeutete. Auch wünschte er sehnlich, das Hohepriesteramt seinem Geschlecht erblich zu gewinnen und eine Hausmacht zu begründen. So hielt er, trotz mancher Gewissensbedenken und schwerer Zweifel, die er im Gebet mit seinem Gotte klarzulegen und niederzuringen versuchte, fest am Alten und verschloß lange der Unzufriedenheit des Volkes sein Ohr. Aber nun war alle Kunst diplomatischer Verzögerung, aller Betrug, alle Unheil kündenden dunklen Androhungen, Hinweise auf göttlichen Zorn und Strafen, alle ungünstigen Orakel und Weissagungen von Unglück und Trübsal vergeblich. Stärker war der durch die Jahrzehnte aufgespeicherte Wille zur staatlichen Erneuerung und zum seelischen Wiederaufbau.

Nichts dünkte die Männer furchtbarer, nichts zerfraß und verheerte mehr als das Gefühl der Demütigung. Lieber sollte der Rest des Volkes auch noch zugrunde gehen, lieber wollte man mit Nägeln und Zähnen gegen die Eisenmaschinen des übermütigen Erbfeindes kämpfen als die Schande länger dulden. Auch der Grimm über die zunehmende Rücksichtslosigkeit, Anmaßung und Verderbtheit der regierenden Klasse wuchs zusehends; dumpfes Grollen aus der Tiefe kündete das nahende Ungewitter. Und sollte nicht im Ausbruch eines lange untätigen, feurige Lava und sprengende Gase in sich zusammenpressenden Vulkans alle Ordnung und jede Zukunftshoffnung verbrannt und verschüttet werden, so mußte man einen Ausweg finden.

Einen letzten Versuch machte Samuel; noch einmal unternahm er es, die Stammesältesten, die sich in Rama einfanden, um notgedrungen auch ihrerseits das Volksbegehren zu vertreten, mit Gründen der Vernunft zu überzeugen. Gewiß war nicht alles, wie es sein sollte, aber das Bestehende ist immer das kleinere Übel. Die Einführung der Monarchie war zwecklos. Auch der König konnte keine Schwerter erschaffen, keinen Blitzstrahl niederschmettern in den Stamm der Feinde. Ein König – das hieß ein Seufzen, eine Plage des Volkes mehr. Und er erinnerte, daß die Altvordern das Königtum für etwas Schimpfliches hielten, wiederholte die alte Fabel, die Jotham einst erzählt vor den Männern von Sichem: Die Bäume wollten einen König setzen über sich, aber Ölbaum und Feige und Weinstock verschmähten die Wahl. Nur einer riß das schmähliche Amt an sich und nahm die Unehre auf. Nur ein einziger – es war der verachtete Stechdorn. Konnte es anders sein, war es anders geworden seitdem?

»Der König«, so verkündete Samuel, »wird euch zu seinen Knechten machen. Eure Söhne wird er zu Soldaten und Läufern bestimmen. Eure Töchter befehlen zum Dienst seines Hofes. Fröner werdet ihr sein. Teile von euren Äckern und Wiesen, Ölgärten und den Weinbergen wird er als Krongut verlangen und dazu den Zehnten von allem Erwerb, von euren Ernten und der Frucht eures Fleißes, dem Gelde. Was er aus dem Born eurer Arbeit mühelos schöpft, wird er gefräßigen Schmarotzern spenden, seinen Hofnarren und seiner Leibgarde. Mit seinem Wohlergehen sind sie verknüpft. Schwert- und Beamtenadel werden sie sich nennen und dünken. Um ihren Nährboden, den König, zu sichern, werden sie euch hetzen und jagen, den Atem euch abdrosseln in Bedrückung und Krieg. Damit ihr flutendes Meer bleibt, vom Winde getrieben, der König und sie aber inmitten der Wellen fest wie ein Felsen aus Bronze.«

Die Ältesten meinten wohl, daß Samuel nicht übertreibe, die meisten von ihnen waren der Königswahl abgeneigt; viele, weil sie eine Einbuße der eigenen Stellung befürchteten, einige aber umgekehrt, weil sie die freie Demokratie, wie sie aus der Nomadenzeit her lange lebendig gewesen war, schätzten und ihre Wiedereinführung wünschten. Aber der Wahn der Macht, der die Philister befallen, das widerliche Pochen auf ihren geistigen und militärischen Vorrang, die Schutz- und Trutzbündnisse, die sie mit den Randvölkern, besonders den Ammonitern, geschlossen hatten, um die aufstrebenden Hebräer mit einem unzerbrechlichen Ring zu umziehen und auf ewig niederzuhalten, wirkten stärker als alles Erwägen. Die Ungeduld war unbezähmbar, der Wille aller ein Löwe im Sprunge. Die Philister hatten vor der Schlacht bei Aphek, als die Lade Jahves im hebräischen Lager ihre Niederlage zu sichern schien, mit einem Anruf sich ermutigt und zum Siege aufgerafft. Trotzdem die Juden und Israeliten oftmals dem Kriege abhold gewesen und viele sogar den Traum eines ewigen Friedens für lebendige Wahrheit gehalten hatten, ertönte jetzt jenes tapfere Feindeswort in aller Herzen wieder: »Seid Männer und streitet!«

Übermächtig wirkte dabei das alte, nie ganz erloschene Gefühl, daß der Nation nur ein wirkliches Heil werden könne: durch das Volk – für das Volk – aus dem Volke! Dadurch schwand die letzte Hoffnung der Richterpartei. Nicht einer der Söhne Samuels oder ein anderer Nachkomme aus einem der erlauchten Geschlechter konnte zum König gewählt werden, sondern aus der unbekannten Masse wurde der Führer und Befreier ersehnt und erwartet. Ein Thing sollte einberufen, das Los über alle zwölf Stämme und ihre Zweige geworfen und so der König erkoren werden. Ohne den Dung von Intrigen und Versprechungen sollte des Volkes reinste Blüte hervorsprießen aus dem Nichts und dem Zufall. Nur eine Lebensader und Lebensquelle sollte sprudeln, die Allseele sollte im König wirken und ihm seinen Denk- und Lenkspruch bilden: »Vom Volke bist du genommen – zum Volke sollst du gehören. Sei Diener am höchsten aller Heiligtümer – an deinem Volke!«

Als Ort für die Nationalversammlung wurde Mizpah bestimmt, in Erinnerung an das Wunder, das sich dort vollzogen und den Damm gegen die Philisterflut aufgeworfen hatte. Die Ältesten reisten von Rama ab – das Spiel der Priester schien verloren, das Ende ihrer Herrschaft unabwendbar.

Wenig Zeit war – aber immerhin – es war noch Zeit. Es galt sie zu nutzen und aus dem Zusammenbruch zu retten, was zu retten war. Ganz ohne Widerstand konnte man die schönen Stellen, das sorglose Drohnendasein, dies Herrenleben, das von Geschlecht zu Geschlecht als Selbstverständlichkeit sich fortgepflanzt hatte und schon ehrwürdige Tradition geworden war, nicht aufgeben. Das oberste Gesetz einer klugen Politik der Staatserhaltung war, sich und die Seinen und das Seine zu erhalten. Es war wirklich sehr undankbar von den Untertanen, daß sie nicht länger blind gehorchen wollten, es waren geradezu vaterlandslose Gesellen.

Samuel ging mit sich und den höchsten der Bonzen zu Rate. Diese Königswahl einer Gottesentscheidung zu überlassen, wie die naiven Bauern und Bürger und ihre Ältesten, die sich wenigstens naiv anstellten, verlangten – das war undenkbar. Man mußte vorarbeiten, nachhelfen, kurz, die Sache zurechtschieben und im voraus den geeigneten Mann aussuchen. Aber wie in der Eile den Richtigen finden? Er bedurfte vieler Eigenschaften. Ansehnlich mußte er sein, um dem Instinkt der Menge zu schmeicheln; er mußte den Frauen gefallen, in Hoheit und Würde erstrahlen. Den Priestern mußte er von vornherein zu Dank verpflichtet sein, an ihre Wundermacht und ihre innige Vervetterung mit dem lieben Gott glauben. So konnte vielleicht eine Art Zusammenhang mit dem Königtum gewonnen, jedenfalls der Einfluß und die bevorzugte Stellung der bisherigen Regierungskreise gerettet werden. Deshalb durfte der König nicht schon durch seine Stammes- und Geschlechtsgemeinschaft größere Bedeutung besitzen, dem Klüngel der Gaufürsten also nicht angehören. Auch schien es löblich, daß er einfältigen Gemütes und ohne allzu große Verstandesgaben war.

Der Zufall oder vielleicht Jahve, der sich ja auch sozusagen in eigener Sache anzustrengen hatte, kam zu Hilfe. Unter den Ratsuchenden in einer kleinen Stadt, in der Samuel gerade seinen Inspektionspflichten nachkam, fand sich eines Tages ein seltsames Paar ein. Ein baumlanger Bauernlümmel, mehr in die Höhe geschossen als irgendein anderer Hebräer, mit einem schmächtigen, fast knabenhaften Haussklaven zur Seite. Beide waren reisemüde, abgerissen und ihr Begehren klang drollig genug. Irgendwo in der Ferne, wo Saul (so hieß der Lange) als Hirte auf der Weide weilte, waren ihm ein paar Eselinnen weggelaufen. Ängstlich vor dem Zorn seines Vaters forschte er mit seinem Begleiter ihnen nach, und jetzt suchten sie schon seit mehreren Tagen durch ganz Israel hindurch ihre Eselinnen, die vermutlich längst wieder in den heimischen Hürden iahten. Ihre geringe Zehrung und Habe hatten sie auf dieser kindischen Fahrt verbraucht. Nun traten sie vor Samuel, boten ihm das letzte, was sie hatten, eine schäbige kleine Silbermünze, und begehrten in rührendem Vertrauen auf die Allwissenheit und seherische Begabung des Gottesmannes, er sollte ihnen Auskunft geben: den Aufenthalt von ihrem Viehzeug.

Samuel war viel Einfalt gewöhnt. Wenn man selbst von Gaben des Glaubens und der Zuversicht leben, zahlreiche Parteigänger ernähren und noch etwas für die alten Tage und unruhige Zeiten zurücklegen möchte, muß man die menschliche Dummheit ertragen und unterstützen. Aber der Fall Saul bildete in der reichen Sammlung törichter Begehren ein besonders erlesenes Stück. Samuel überließ deshalb seine Erledigung nicht einem Unterpriester, sondern nahm sich selbst in vollem Ernste dieser Eselei an. Und bald, als er mit den beiden Reisegefährten, die nicht wußten, woher sie am nächsten Tage etwas zu essen erbitten, noch weniger aber, wie sie die Heimreise bewerkstelligen sollten, ins Gespräch kam, faßte der Gedanke Wurzel, daß hier vielleicht der geeignete Mann gefunden war. Körperliche Größe, schlichte Sinnesart, besonders aber die Abstammung Sauls entsprachen ganz den Erfordernissen. Der junge Viehzüchter war von Benjamin, gehörte also dem unansehnlichsten der Stämme an, dessen Verhältnis zu den übrigen ein gespanntes war. Dies ging auf ein altes Begebnis zurück. Burschen aus Gibea, der Stadt, in der Saul wohnte, hatten einst einen durchwandelnden Leviten beleidigt und sein Kebsweib eine Nacht hindurch so hergenommen, daß sie starb. Ganz Israel hatte auf diese unerhörte Verletzung des Gastrechtes hin in heiligem Zorn sich vom Stamme Benjamin losgesagt und ihn in hartem Kampfe ausgerottet bis auf wenige hundert Mann, die in das Wüstengebirge Rimmon entkamen und dort ein klägliches Dasein führten. Danach hatte der Grimm sich beruhigt und man wollte die übriggebliebenen wieder aufnehmen in die Gesamtheit, damit nicht die Nachkommenschaft eines der Söhne Jakobs völlig erlösche. Nun aber bot sich eine große Schwierigkeit. Alle Frauen waren erlegen, und der Heerbann hatte übereilt sich zugeschworen, keinem des verfemten Stammes ein Weib zur Ehe zu geben. Ein Ausweg fand sich, als sich herausstellte, daß die Einwohner der Stadt Jabes dem Rachefeldzug sich nicht angeschlossen hatten. Man bestrafte sie, indem man die Männer und Frauen tötete, die Jungfrauen aber den Söhnen Benjamins zur Ehe überließ. Nur waren es zu wenige. Um aus der Not zu kommen, gab man schließlich den aus der Wüste in ihr Stammland Heimgekehrten den Rat, beim Nationalfest zu Silo reigentanzende Mädchen zu entführen. So geschah es unter stillschweigender Billigung des Gesamtvolkes. Die betroffenen Angehörigen der geraubten jungen Damen beruhigten sich damit, daß sie nicht freiwillig die Heirat ihrer Töchter zugelassen hatten, der Fluch also nicht über sie kommen könne, daß aber andererseits die Fortpflanzung von Benjamin ein Gott wohlgefälliges und Gesamtisrael nützliches Werk war. Ein peinliches Unbehagen blieb bitterschmäckig zurück. Man hatte Fangball gespielt mit dem Recht und der Wahrhaftigkeit.

Viel Zeit war seitdem über das Land gegangen. Benjamin blieb eine sehr kleine Gemeinschaft, und eine gewisse Mißachtung haftete den Männern an, deren Ahnmütter Beute und Raub gewesen.

In diesem Stamme, der also niemals überragende Bedeutung gewinnen konnte, war das kleinste Geschlecht das des Kis. Dies war der Vater von Saul, der bei ihm diente. Man konnte diesen Jungmann, der schon seit Jahren verheiratet war, heranwachsende Söhne besaß und es doch zu keinem selbständigen Haushalt gebracht hatte, füglich als den Geringsten in ganz Israel bezeichnen. Ihm stand kein Stammes- und kein Sippeneinfluß zur Verfügung, wenn auch sein Vater ehrengeachtet und der Stamm Benjamins am rassereinsten und völlig unvermischt sich hielt, also des Blutes Edellese bedeutete. Hierauf waren die Benjaminiten auch stolz und hoben sich adlig von der großen Menge und Mischlingschaft etwa des Stammes Juda ab.

Wie Saul über derlei dachte, erforschte Samuel nicht weiter. Er schien ihm so unreif und unausgeglichen, die äußeren Verhältnisse so päßlich, daß er nur schnell den kostbaren Fund zu sichern trachtete. Hätte er sich ein wenig Mühe gegeben um die Gedanken dieses mundfaulen Mannes, der das Sprechen dem behenden Sklaven überließ und dessen Ratschlägen sich gänzlich zu fügen schien, so wäre er wohl stutzig geworden. Denn Saul hatte die Reisezeit nicht nur dazu benutzt, im Straßenstaube nach verwehten Eselspuren zu forschen, sondern auch eifrig aufgemerkt auf das, was die Leute sprachen und meinten. Und wenn die Klagen über Israels Schmach und Erniedrigung ertönten, so hatte er zwar nicht mit eingestimmt, schweigsam hatte er dem herzbewegenden Jammer gelauscht. Aber unbeteiligt war er nicht. Dafür zeugten die Wellen, die über die hohe Stirn huschten. Das Feuer zeigte es, das in den dunklen, plötzlich ganz streng und hart blickenden Augen aufglimmte, und die Muskelspannung der starken schönen Hand, die sich an der Seite ballte, als ob sie sich um den Griff des Schwertes krampfte – das der Philisterübermut zu tragen untersagte. Hätte des Hohepriesters Sehergabe, von der die Leute um geringes Geld sich einen Wahrspruch erkaufen konnten, gerade in dieser Stunde nicht versagt, so hätte er in der Seele dieses jungen Mannes, den er für geeignet hielt, König von Juda und Israel zu werden, lesen können, daß er wirklich der Rechte war – freilich ganz anders, als Samuel es vermeinte. Vielleicht hätte bei solcher Erkenntnis die Hingabe Samuels an sein Volk das Wunder vollbracht, daß er Saul zum König erhoben – trotzalledem.

Aber er sah in ihm nur das geeignete Werkzeug für die Pläne der Priesterschaft. Er gab ihm ein paar billige allgemeine Ratschläge wegen der Eselinnen, sorgte für seine Unterkunft, zog ihn an die eigene Tafel und verkündete ihm heimlich, er sei zum Könige ausersehen nach der göttlichen Eingebung, die er, Samuel, erhalten habe. Er salbte ihn auch gleich im voraus, gebot ihm aber, einstweilen noch Stillschweigen zu wahren und sich zum Volkstage in Mizpah pünktlich einzufinden. Für seine Rückreise orakelte er ihm einige harmlose Vorzeichen, deren Eintreffen leicht in Szene gesetzt werden konnte und ihm Beweise von der Weisheit und dem Wissen des Priesterstandes geben sollten. Was Saul von alledem dachte – ob er überhaupt dachte – kümmerte Samuel und seine Freunde nicht. Der schöne, große, schwer schreitende Mann ließ etwas stumpfsinnig alles mit sich geschehen, schwieg und kehrte sich heimwärts. Die Anzeichen trafen auf dem Wege pünktlichst ein. Männer begegneten ihm am angesagten Ort und überreichten ihm, ohne Befragen und ohne Zahlung zu begehren, die notwendige Reisezehrung. Saul nahm es hin, gleichgültig, wie er ohne sichtliche Erregung das Salböl auf sein dichtes schwarzes Haar sich hatte träufeln lassen. Aber wiederum hielt er überall die Augen offen und den Mund geschlossen. Alles nahm er in sich auf, was ihm begegnete. Sogar in einen Kreis heulender Derwische ließ er sich ziehen und zur Ekstase aufstacheln, ohne aber Vergnügen daran zu finden oder besondere Prophetengabe zu verspüren. Als er in Gibea wieder eintraf, erwähnte er von den besonderen Erlebnissen mit Samuel nichts. Das einzig Wichtige an der ganzen Reise schien ihm die erfreuliche Tatsache, daß die Eselinnen wieder da waren und ihrer Disteln lecker sich erfreuten.

In Mizpah verlief dann alles nach Programm. Hymnen wurden gesungen und Opfer dargebracht. Die Abgesandten kritisierten, die Jugend tat sich bedrohlich gegen die Verkalkten. Die Führer verteidigten das Geschehene, versprachen das Beste für die Zukunft, suchten die Formel der Einigung. Niemand war recht zufrieden, alles war schlecht, alles war falsch, so ging es nicht weiter. Am Abend war man von Reden erschöpft, beschloß, was man eigentlich nicht wollte, keinesfalls verstand, bestimmt nicht förderlich war, nicht klar, nicht ehrlich. Aber man beschloß es einstimmig und das war die Hauptsache. Am andern Morgen begann die Königswahl. Das Volk war in weihevoller Erhebung, die Auguren verbargen ihr Lächeln. Die Lose über alle Stämme wurden herzugebracht, der Köcher geschüttelt, ein Zeichen sprang heraus. Und es fiel das Los über Benjamin. Dann wurden die Geschlechtsgenossenschaften ausgesiebt, und es fiel das Los über die Sippe des Kis, dann über sein Haus und endlich über dieses Hauses Sohn Saul, von Beruf bisher ein König über vierfüßige Esel. Jetzt über Juda und Israel.

Dies Ergebnis entsprach aber gar nicht den Erwartungen der Menge. Schon Benjamin hatte Mißstimmung erweckt. Der Name Saul stürzte in Murren und Gemurmel. Vor allem der stets eigenbrötelnde Süden, Juda und der mit ihm verschmolzene Stamm Simeon, verhielt sich ablehnend. Niemand kannte Saul, niemand hatte von ihm gehört. Man rief nach ihm, und es zeigte sich, daß er nicht einmal zu den Delegierten gehörte und daher im Ring nicht verweilte. Die Priester, die wußten, daß er beim Gepäck der Reisenden sich barg, holten ihn herzu. Kühn und groß, furchtlos und bezwingend trat er in den Kreis, stand er schweigend vor aller Augen. Keiner war ihm gleich unter dem Volke, und hingerissen jauchzte alles auf in dem einen Schrei der Erlösung: »Es lebe der König!«

Die Verfassung wurde angenommen und dann der Reichstag geschlossen, und die Heimfahrt für die Abgeordneten begann. So groß war der persönliche Zauber, der von Saul ausgegangen war, und der neue Reiz des Königtums, daß ihn viele auf dem Wege nach Gibea geleiteten. Andere sagten sich bei wieder eingetretener ruhiger Überlegung, daß das Ganze eine Komödie der schlauen Priester war, zu der dieser Saul sich aus irgendwelchen undurchsichtigen Beweggründen hergegeben hatte. Sie bezeigten deutlich ihre Mißachtung gegenüber einem solchen Schein- und Schattenkönig ohne Macht, ohne Beziehungen, ohne Reichtum, ohne Erfahrung. Aber niemand erfuhr, was Saul selbst von allem dachte. Er nahm Huldigung und Verhöhnung entgegen mit gleichem unbewegtem Gesicht. Sah, hörte und schwieg.

In der Heimat griff er sein altes Gewerbe auf, betreute das Vieh, pflügte den Acker und lebte mit Frau und Kindern, still und gelassen wie vordem als Tischgeher im Hause seines Vaters. Die Episode von Mizpah schien er völlig zu vergessen; die Neugierigen, die mit ihm gezogen waren und als erste Dienstbereite auf Hofehren gehofft hatten, verliefen sich. Die Philister, die die Entwicklung der Dinge aufmerksam verfolgten, spotteten heimlich über diese ewig unrastigen Hebräer, die sich untereinander zankten, sich mit Worten berauschten, und schwatzhaft von ihren eigenen Vorzügen, dem Wert ihrer Eigenart und der Erhabenheit gerade ihres Volksgottes alle Welt überzeugen wollten. Der schweigsame Saul aber trieb Tag für Tag die Rinder seines Vaters an dem Hügel vorüber, der seinem Leben und Denken Inhalt und Richtung gegeben hatte. Und das Salböl brannte auf seiner Stirn.

Denn auf der Anhöhe bei Gibea stand das Siegesdenkmal der Philister, und die Wache lehnte sich, scheltend über den überflüssigen Dienst im Feindesland, auf ihren Spieß und blickte verächtlich hinunter ins Gefilde von Benjamin.

Von dem Hügel bei Gibea war der Feuerfunke hinabgesprungen in die große Seele des Sohnes des Kis. Dies war sein Morgen- und Abendgebet, wenn er an der Stätte der Schmach vorüberschritt: Rache am Feind, Befreiung seines Volkes vom Joche, Erhebung und Erlösung von Israel. Er hatte gewartet Sommer- und Regenzeit, jahrein, jahraus, daß ein Blitz Jahves die Säule seiner Verächter in den Staub werfe und zerstöre. Er hatte auf die Sturmflut des Volkes gehofft, daß sie hereinbreche und überwältigend sich ergieße über diesen Damm und im furchtbaren Anprall das übermütige Zeichen der Schande hinwegschwemme, auslösche und abwische die Demütigung und die Jahre der Knechtschaft. Seinen Knaben Jonathan hatte er an die Hand genommen, kaum daß er gehen gelernt, ihn vorbeigeführt am Hügel zu Gibea, und den Heranwachsenden nichts anderes gelehrt, in sein junges Gemüt nichts anderes gesenkt und geleitet als diese eine heiße Mahnung: »Tue deine Pflicht – werde ein Mann! Damit der Stein dort zerschellt und in Trümmern zersplittert. Damit das Vaterland wieder frei und groß wird, würdig und ehrfurchtgebietend. So hat die Verheißung der Götter es den Vätern geschenkt. So haben sie es eingerichtet, so blieb es erhalten, bis die späten Söhne, schwächlich, unentschlossen, eingebildet und sittenverderbt das kostbare Erbe verloren.« Und er hatte in aller Heimlichkeit zwei Schwerter geschmiedet, für sich das eine und eins für den Sohn, damit sie zur Stelle wären, wenn der Erwartete, der Ersehnte käme, der Held und Befreier, der Führer in Juda und Israel.

Überall auf seiner Fahrt hatte er gleiches Empfinden gespürt. Nirgends aber fand er den Mann, der aufrufen wollte zur Tat, der reinen Herzens, unbelastet von Fehlern der Vergangenheit sich an die Spitze stellen konnte, dem alle begeistert folgen würden in Not und Tod, zum Kampf für das Recht und die Freiheit.

War das Zusammentreffen mit Samuel Zufall oder göttliche Fügung? Er hatte nicht an sich selbst gedacht in seinen Träumen. Nicht Ehrgeiz beseelte ihn, nur die glühendste Vaterlandsliebe. Er verachtete auch die Priesterschlauheit und ihre Taktiken und Praktiken, die er schnell durchschaute. Was war ihnen das Volk in Not? Nur eine Phrase. Wann hatte ihre Sattheit je um den Hunger der Sehnsuchtsvollen sich bekümmert? An einem Parteifeuerchen wollten sie ihre Suppe kochen und fetten Braten dazu. Diese Kinder des Eigennutzes, Vertreter bevorrechtigter Kreise, hochnäsige Dünkelbolde, die sich erdreisteten, die große arbeitende Masse des eigenen Volkes gering zu schätzen, hatten, besorgt um ihren Sondernutzen, der Zersplitterung der Nation und dem kleinstaatlichen Geiste nicht gewehrt. Sie waren es, die das Unglück über Israel gebracht. Klüfte hatten sie in der Gesamtheit gebildet, die Schichten der Bevölkerung geteilt, um sich die Klassenherrschaft zu erhalten. In ihrer frevelhaften Selbstsucht hatten sie das eigene Interesse dem Volkswohl gleichgesetzt und die aufstrebenden Kräfte niedergehalten; sie betrachteten sich als Erbpächter der Staatsklugheit und als die alleinigen Besitzer vaterländischer Gesinnung. Aber sie waren nur die mühelosen Nutznießer einer unerschöpflichen Fülle gewesen. Mit ihnen hatte er nichts gemein, und von ihnen konnte die Rettung nicht kommen. Sie hatten verspielt, sich als unfähig erwiesen. Der Weg zur Höhe von Gibea führte über sie hinweg. Als sie aber ihn auserwählten, in ihm den belanglosen Helfer ihrer Pläne gefunden zu haben glaubten und das Volk abermals zu betrügen hofften, mit Hilfe seiner vermeintlichen schlichten Einfalt, da hatte er sich zugeschworen: Wenn nicht bald der Mann in Israel auftreten würde, der, alle überragend, das Volk aufsprengen und begeistern könnte, dem er als letzter Diener und Gefolgsmann gern sich unterordnen und anschließen wollte, so mußte er selbst des Werkes sich unterfangen. Siegen oder untergehen, des königlichen Salböls würdig werden oder sterben als ein Verfolgter und Geächteter. Aber nicht viele Tage seines Lebens mehr konnte er es ertragen, das freche Wahrzeichen von seines Volkes Elend aufragen zu sehen. Dort, auf dem Hügel von Gibea.

Die Ereignisse vollzogen sich anders, als er gedacht. Nicht die Philister, der Erbfeind im Westen, schürten das Glimmen zur Flamme, sondern das kulturärmliche, wie eine Herde Wüstenschakale im Osten lauernde Ammonitervolk glaubte, des Bündnisses der mächtigen Philister sicher, sich auf das wehrlose Israel ungestraft stürzen zu können. Sie waren ins Ostjordanland eingefallen und umlagerten die Stadt Jabes in Gilead. Eine Woche Ersatzzeit gewährten sie den Einwohnern auf ihre Bitte. Höhnisch und erfolgsgewiß – denn woher sollte Hilfe kommen? Nach Ablauf der Frist sollte die Stadt übergeben und alle Männer zu Schimpf und Unglimpf auf dem rechten Auge geblendet werden. Die Verzweifelten entsandten Boten, nach Benjamin zuvörderst. Von Jabes waren ja einst die Mütter des Stammes gekommen. Und dann – schwächste Hoffnung – lebte nicht in Gibea ein Mann, von dem man zwar seit dem Tage von Mizpah nichts gehört hatte, als höchstens Spottlieder wandernder Priester und Sänger, der aber doch von Samuel als der von Gott bezeichnete König der Juden gesalbt war?

Saul schritt vom Felde daher, hinter den Rindern, ernst, langsam und bedächtig, wie es des Landmannes gemessene Art; er bemerkte eine Volksansammlung vor dem Tore, hörte verzweifelte Klagen aus dem Munde von Fremdlingen, trat hinzu, sah ihre Angst, ihre abgehetzten Gesichter, ihre beschwörenden Augen, das Mitgefühl, aber auch das ohnmächtige Zögern seiner Ortsgenossen, vernahm die herzzerreißende Botschaft und wußte: Die Stunde ist gekommen.

Hoch richtete er sich auf, der Schweiger sprach. Und seine Worte klangen wie Fanfare und Befehl. Ohne Überstürzung, aber auch ohne Zweifel und Bedenken, kurz, bestimmt. Es gab keinen Widerspruch, aber er hätte ihn auch nicht geduldet. Das Kommando war bei ihm. Die Jabesiten atmeten auf, die Leute von Gibea erkannten Saul kaum wieder – stutzten und gehorchten. Und alle ahnten, begriffen, wußten in stürmischem Aufwallen ihrer Herzen: Die Stunde ist da – der Führer ist da – Saul, der geborene König, der von Volkes Wunsch und Wahl gekorene – Saul ergreift seine Herrschaft.

Einst hatte der Fremdling, dem das Gastrecht in Gibea gebrochen wurde, die Stämme aufgerufen gegen Benjamin, indem er den Rumpf seines hingemordeten Weibes elffach stückelte und jedem Stamm einen Teil übersandte. Die Stadt Jabes war dem Bruderkriege damals ferngeblieben. Jetzt zahlte Benjamin die alte Schuld für sein eigenes Unrecht und für die Freundschaft, die Jabes ihm erwiesen. Wieder traf als Botschaft das Stück eines Körpers ein bei allen Gemeinschaften des Landes, die Rinder vom Pflug hatte Saul getötet und zerteilt. Es ging um das letzte – wenn Israel sich jetzt nicht aufraffte, war sein Schicksal besiegelt, sein Untergang bestimmt. Der Landmann bedurfte seines kostbarsten Gutes, der Zugtiere, nicht mehr. Der Feind würde ihm doch alles nehmen. Wer aber glaubte, durchschlüpfen, ein kleines Sondergut bewahren und retten zu können – wer nicht begriff, daß höher als all sein Vermögen und selbst als sein Leben die Ehre und der Bestand des Volkes steht, wer nicht bereit war, alles zu opfern, um für sein Land und seine eigenen Nachfahren alles zu gewinnen, den sollte der vernichtende Zorn treffen. Denn dies war der Sendung heimlicher Nebensinn: Wie in den alten Zeiten Menschen den Göttern dargebracht wurden, um sie milde zu stimmen und das Unheil von der Gesamtheit abzuwenden, so sollte jeder verdammt und verurteilt sein, der sich seiner Pflicht entzog. Und die Strafe des Opfertodes sollte er erleiden, vor seinem höchsten Gott, dem Volke.

Ein Aufschrei der mißhandelten Kreatur, ein »Bis hierher und nicht weiter!« war es, aber auch ein Ruf der Kraft, Selbstbefreiung und der verletzten und zerfetzten Menschenwürde, die sich zu furchtbarer Vergeltung ermannt. Um die Einigkeit und Einheit aller ging es. Deshalb bot Saul auch nicht in seinem königlichen Namen allein den Heerbann auf. Er kannte keine kleinliche Eitelkeit, und jetzt war zum wenigsten Zeit für Gegensätze. Er forderte auf, Saul und Samuel nachzuziehen, erkannte also das Richter- und Priesteramt noch als gleichberechtigt neben seiner Regierungsmacht an. Ihm ging es um die Sache, nicht um die eigene Person.

Seine Kühnheit und seine Klugheit fielen in offenen Schoß, zur Empfängnis bereit. Eilig folgten alle seinem Ruf. Noch bevor die Woche abgelaufen war, konnte er Mannschaft genug in Basek mustern, zog in der Nacht vor Jabes, und obwohl seine Leute sonderlich genug bewaffnet waren und mehr einem Haufen glichen, der sich bei einem Trödelhändler ausgerüstet hatte, als einem geordneten Heere, so hatten sie doch zwei mächtige Bundesgenossen, Verblüffung und Begeisterung. Und die Ammoniter erlitten eine wütende Niederlage.

Überwältigend war der Jubel des Volkes, rührend die Dankbarkeit der Bewohner von Jabes. Am liebsten wäre man sofort beisammengeblieben und weitermarschiert gegen die Philister und allen feindlichen Trutz. Aber Saul lenkte mit kurzen Worten ab. Die Saat mußte erst reifen, dies Werk bedurfte noch gewissenhafter Vorbereitung. Und so groß waren schon sein Ansehen und die überlegene Macht seines Geistes, daß auch die Ungeduldigsten sich beugten und fügten. Wenigstens aber wollten sie nun die Spötter über Saul zur Rechenschaft ziehen, vor allem die Leute aus dem Süden, aus Juda, die Vermessenen, die sein Königsrecht angegriffen hatten. Das Heer dürstete danach, seine Hingebung, seine Liebe dem König zu beweisen. Aber auch hier bremste Saul den sich überstolpernden Eifer. Dies war ein Tag des Heils in Israel – da sollte niemand trauern. Die Zeit der gegenseitigen Anschuldigungen, Verdächtigungen, des Parteihaders, in der jedes Hand und Mund wider jeden andern war, sollte zu Ende gehen.

Auf Rama, und wo sonst größere Priestergenossenschaften weilten, fielen die Ereignisse wie ein Heuschreckenschwarm. Kopflos und bestürzt wogte alles durcheinander. Der Sieg über die Ammoniter war gewiß erfreulich – aber – aber – sollte man sich in diesem plumpen Benjaminiten getäuscht haben? Ehe aber noch ein feines diplomatisches Plänchen, eine kleine Hinterhältigkeit sich entpuppen und aufflackern konnte, tat Samuel den entscheidenden Schritt. Bei der Siegesfeier im Gilgal salbte er Saul nochmals und legte danach in feierlicher Kundgebung sein Richteramt nieder. Kein besserer Führer denn Saul war für die kommenden schweren Zeiten zu finden. Ein Versuch, das Priesterregiment neben oder gar über dem Königtum zu erhalten, mußte scheitern, selbst wenn Saul damit einverstanden war. Denn um ihn scharte sich in unzugänglichem vaterländischem Fanatismus die gesamte Jugend, bereit und gewillt, alles niederzuschmettern und in alle Winde zu zerstreuen, was sich dem angebeteten, aus dem Dunkel herausgetretenen Heros des Lichtes und ihrer Hoffnungen entgegenstellte. Und – was Samuels Entschluß noch erleichterte – die Gesinnung seiner eigenen Söhne stand im Lager des Königs.

Er legte Rechenschaft vor allem Volke und wurde aus ehrlichem Herzen und in dankbarem Gefühl für seinen freiwilligen Verzicht als Richter entlastet. Das Hohepriesteramt behielt er bei. Von Stunde an sollte und wollte er nur noch im Dienste Jahves leben. Das gab Einfluß und Ansehen genug und konnte auch die Priesterschaft zufriedenstellen. Ein wohltätiges Sommergewitter, dessen Nahen die wetterkundigen Leviten vorher feststellten, wie damals als die Philister sich auf Mizpah zu bewegten, gab der Versammlung noch mehr Feierlichkeit. Jahve selbst hatte sich gemeldet, natürlich auf Bitten Samuels, um die neue Monarchie zu billigen, aber auch zu gemahnen, daß über dem erhabenen König ein noch erhabenerer steht, und in seiner besondern Hut und Huld seine getreuen Diener vom Samen Aarons, die Priester.

In den Hauptstädten der Philister erwachte der Widerhall. Es tagte eine feierliche Zusammenkunft der fünf Fürsten in Gath, damals dem Vorort des Staatenbundes. In der Festtracht, mit Federkrone, Schurz und Schuhen berieten sie. Ein Teil war für den sofortigen Krieg. Mochte es sich nur um eine kleine Bewegung eines israelitischen Stammes handeln – wofür sprach, daß Saul nach dem Kampfe gegen die Ammoniter in seine Vaterstadt zurückkehrte und sich ganz ruhig hielt – oder bereitete sich eine Erhebung des Gesamtvolkes vor, immer war es besser, in einem Präventivkrieg Israel und Juda völlig zu vernichten, ehe es sich wiedergefunden und genügend gerüstet hatte. Aber die Mehrheit war dagegen. Der Handel im Reiche hatte sich mächtig entwickelt, die Verbindung mit Kreta, dem alten Stammland der Philister, war gefestigt, darüber hinaus gingen die Wege nach Ägypten und zu allen Küsten des Mittelmeeres. Philistäa war danach so stark westlich eingestellt, daß es an neuem Landbesitz in Kanaan und am Verlauf der dortigen Dinge nur noch schwaches Interesse hatte. Der Reichtum wuchs ständig, die Künste blühten, der Gedanke an Krieg war nicht volkstümlich. Auch war das Gefühl der geistigen, kulturellen und technischen Überlegenheit der seefahrenden Nation gegenüber dem Hirten- und Viehzüchtergesindel so stark, daß niemand die Hebräer noch für eine ernste Gefahr hielt. Sie waren entwaffnet und überwacht, und vor allem – sie waren immer untereinander mißgünstig und eifersüchtig. Diese Stammeseigenschaft wies ihrer ganzen Geschichte die Bahn und hatte sie trotz allgemeiner Tapferkeit und hervorragender Begabung einzelner immer wieder zu Vasallen ihrer Feinde gemacht. Auch dem unbekannten Mann aus Benjamin würde es nicht gelingen, sie zu überwinden. Was verschlug es da, daß sie ihn in ihrer närrischen Vorliebe für Geheimbündelei, für mystische Traumbilder aus einer schöneren Vergangenheit und erfüllt von dem weltabgekehrten Rausch, den sie Idealismus nannten, zum Könige bestimmten.

Saul war sehr zufrieden, daß es nicht jetzt schon zum Kampfe kam; er brauchte Zeit. Sein Plan war, in der Stille überall zuverlässige, mählich mit guten Waffen sich versehende Gruppen zu bilden, die auf das gegebene Zeichen sich zusammenschließen und den Kern eines Heeres bilden sollten. Ihm ließen die sicherlich in hoher Zahl zuströmenden Freiwilligen sich schnell angliedern. Aber der Ungestüm der Jugend ließ seine Absicht nicht ausreifen. Er hatte erst eine ganz kleine Schar, freilich auserwählte Männer, heranerzogen, als der Krieg losbrach. Und er konnte nicht einmal viel schelten, denn seine eigenen Lehren, sein eigenes Blut erwiesen sich stärker als alle kluge Bedachtsamkeit; Jonathan, den sein Vater mit Ingrimm ernährt, in glühendem Haß gehärtet hatte, in dem kein anderer Gedanke lebte als die Befreiung des Vaterlandes und der nichts geübt hatte als die Kunst des Bogenschießens, in der er trotz seiner Jugend ein unübertroffener Meister war, ertrug's nicht länger. In einer Sommernacht fieberte es ihn vom heißen Lager empor, trieb ihn aus der dunstigen Kammer, zog ihn wie einen Schlafwandelnden mit magischer, unwiderstehlicher Kraft durch das schlummernde Land, dorthin, wo auf der Anhöhe drohend im Mondschein die Säule der Philister ragte. Er tötete die schlafende Wache, stülpte das Denkmal um und die aufgehende Sonne sah den Hügel bei Gibea frei von der Schmach des Volkes Israel.

Es war geschehen. Saul hielt sich nicht mit Vorwürfen oder schwankenden Erwägungen auf. Er sandte Boten, die überall das verabredete Posaunensignal gaben, und ging im Eilmarsch nach dem Gilgal, dem vorbestimmten Sammelort. Dorthin sollten auch nach der geheimen Abrede Samuel und die Priesterschaft eiligst kommen, um die für den glücklichen Ausgang der großen Volkserhebung erforderlichen Gebete und vorgeschriebenen Brandopfer zu verrichten. Aber die Philister zeigten sich viel schneller unterrichtet, als Saul geglaubt hatte. Die Kunde, daß sie mobilisiert hatten, und zwar in einer nie geahnten Weise, verbreitete sich rasch. Eine unfaßbare Menge der gefürchteten Kriegswagen stand bereit, unzähliges Fußvolk und eine ganz neue Waffengattung, der die Hebräer gar nichts Gleichwertiges entgegensetzen konnten: gepanzerte Reiter. Die Leute wurden zaghaft, viele verbargen eilig ihre Frauen und ihr Vieh, ihr Gerät und Gold in den Höhlen und Klüften des Gebirges, in unwegsamen Felslöchern, ja, in tiefen Erdgruben und blieben dort, statt dem Aufgebot zu folgen. Und Samuel verzögerte sich. Andere flüchteten in aller Eile über den Jordan, in der Annahme, daß die Philister so weit östlich keinesfalls vorstoßen würden. Es wurde Saul berichtet. Jeder Tag bedeutete einen unersetzlichen Verlust, stärkte den Feind und verbreitete den Kleinmut in seinem eigenen Volke; schon blätterten manche ab, die sich im Gilgal eingefunden hatten, das kleine Heer stand vor der Gefahr der völligen Auflösung. Und Samuel kam nicht. Die Mißstimmung, der Glaube, daß Jahve den Krieg nicht wollte, stiegen – faulige Memmen, die solche Gedanken heimlich flüsternd verbreiteten, fehlten nicht. Saul sah sich vor einer völligen Niederlage ohne Schwertstreich und Pfeilschuß.

Da faßte er einen kühnen Entschluß. Ließ Samuel ihn im Stich – so hatte er sein Hohepriesteramt verwirkt. Ohne Brandopfer würden seine Leute nicht marschieren, das sah er ein. Ihm selbst lag nichts daran. Mut, ein tapferer Arm und Volk und Vaterland, das waren die Götter, an die er glaubte, auf die allein er vertraute. Wenn er aber im Innersten auch den ganzen Hokuspokus, den die Priester zu ihrem eigenen Nutzen erfunden hatten, verachtete, so durfte er doch die Zagheit seiner Soldaten nicht unnütz vergrößern. Sie hatten nun einmal gelernt, daß man ohne göttliche Einsegnung es nicht wagen darf, in die Schlacht zu ziehen. Gut, man wird opfern. Bleibt der Pfaffe aus, so ist der König da. Wollte Samuel nicht kommen, so wird Saul sein eigener Priester sein. Er schritt auf die Höhe und brachte das Brandopfer dar, als sei er ein Levit und geweiht, und er erklärte den Seinen, das heilige Salböl auf seinem Scheitel berechtige ihn auch zum Gottesdienst. Sie waren es zufrieden. Das Opfer rauchte geradeauf zum Himmel, sie und ihr Tun waren dem Herrn wohlgefällig. Ihr Mut raffte sich zusammen, Kühnheit blitzte wieder aus ihren Augen, sie vergaßen der Übermacht des Feindes, der eigenen notdürftigen und kläglichen Bewaffnung und huldigten dem königlichen Priester, bereit, ihm zu folgen.

Staub kündete das Herannahen eines Zuges, es waren keine Krieger. Samuel traf ein. Widere Einflüsse hatten ihn zurückgehalten. Seine Unterpriester hatten ihn bedrängt, nicht nach dem Gilgal zu gehen. Der Fehlschlag des kriegerischen Unternehmens war sicher, damit das Ende der Herrlichkeit Sauls. Stand die Priesterpartei zu ihm, so würden die Philister auch sie in den kommenden Strudel der Vernichtung hineinziehen. Den Jahvekult, den sie entgegen dem Wunsche ihrer Baalzeloten in überlegter Politik gegenüber den Unterworfenen bisher geduldet hatten, würden sie verbieten und austilgen. Die hebräischen Priester kamen dann um Stelle und Brot. Ließ man aber Saul fallen, so würde die oft gezeigte Klugheit der Philister die früheren Zustände wieder herstellen. Die Monarchie war dann eine belanglose Episode und der priesterliche Richterstaat unter der Souveränität der Philister fester gegründet als vordem.

Mehrere Tage schwankte Samuel. Vielleicht war das, was seine Ratgeber verlangten, das richtige nicht nur für ihr Behagen, sondern auch für das gesamte Volk. Der Krieg war dann zu Ende, ehe er recht begonnen, ohne den erneuten Jammer zerrütteten Wohlstandes, ohne auf Jahre hinaus durch Steine verarmte Äcker, abgehauene Oliven- und Obstbäume, niedergebrannte Weinstöcke. Ohne Tote und Verstümmelte, geschändete Frauen und Jungfrauen und das Verschachern so vieler Männer und Weiber auf den Sklavenmärkten der fernen Länder. War es nicht besser, das eingebildete Gut der nationalen Ehre und des Selbstbestimmungsrechts aufzugeben und friedlich unter der milden Oberherrschaft der Nachbarn zu leben, zu gedeihen? Die Stimmen des Alters, der resignierenden Vernunft, des eigenen Nutzens unterstützten die drängenden Mahner. Aber stärker erwies sich schließlich doch das Pflichtgefühl des greisen Hohepriesters. Saul war allzu kühn und wahrscheinlich führte sein Weg zum eigenen Untergang und lieferte Israel und Juda der Rache der Feinde aus. Aber er war der einzige, an den das Volk glaubte; ihn jetzt im Stich zu lassen, die getroffene Abrede zu brechen, hieß Verrat. Und Samuel hatte sein ganzes Leben verbracht im Banne der Überlieferung der Väter, denen kein irdisches Gut und kein göttlicher Glaube so heilig waren wie das eigene Wort. Wie sie wollte er handeln, auf Gefahr und Verderb des eigenen Lebens, und er setzte seinen Willen durch und ging, die Opfer zu vollziehen, nach dem Gilgal.

Er traf zu spät ein. Saul entschuldigte seine Eigenmächtigkeit, es war letzte Not, er durfte nicht länger warten. Auch jetzt noch, unmittelbar vor dem Ausmarsch, mied Samuel den offenen Zwist. Er hinderte auch sein Gefolge, die Krieger Sauls zu beunruhigen und ihre Zuversicht zu untergraben. Aber die Tat des Königs schied ihn auf immer von ihm. Er hatte seiner weltlichen Macht zu seinen Gunsten entsagt, der Eingriff in sein Priesteramt machte ihn zum unversöhnlichen Gegner. Wenn er selbst auch ursprünglich kein Levit gewesen, sondern Ephraimit, so war er doch von Mutterleib an Gott geweiht und dadurch dem Priesterstamme zugesellt – Sauls Opfern aber war ein Vergehen gegen ihn und die Priestergemeinschaft und gegen Jahve selbst. Ein Königtum, das sich anmaßt, zur Not auch ohne Geistliche auszukommen, kann nicht geduldet werden. Er verwarf Sauls Entschuldigungsgründe, tadelte in harten Worten seine Handlung und prophezeite ihm Verderben und Untergang, weil er das göttliche Gebot übertreten hatte. Sobald als möglich brach er vom Gilgal auf. Auch Saul hatte keine Zeit für weitere Auseinandersetzungen. Die Feinde waren angerückt und standen beim Passe von Michmas, nur wenige Stunden von Gibea entfernt. Saul zog ihnen entgegen und stützte sich mit den ihm gebliebenen Mannschaften, wenigen hundert Mann statt der erhofften zehntausend, auf seine Stadt. Das Lager schob er weiter vor, auf eine Hochebene, von der aus man die Stellung der Philister einsehen konnte. Die Ausrüstung wurde in aller Eile vollendet, Nahrung zusammengetragen, man mußte gefaßt sein, in die Wüste auszuweichen. Bei den bevorstehenden Gebirgsscharmützeln konnten die Wagen und Reiter der Philister nicht voll verwendet werden, aber ihre Übermacht war so groß, daß ein Sieg nicht möglich schien.

Aber Jonathans Kühnheit und ein zufälliges Ereignis halfen in wunderbarer Weise. Der Kronprinz, der wegen seiner jugendlichen Überstürztheit, die des Vaters klugen Plan durchkreuzt hatte, schwere Gewissenslasten trug, dürstete danach, seinen Fehler zu sühnen. Der Gedanke, an gesichertem Platz hinter der Front zu verweilen, war ihm unerträglich. Ihm schien das vornehme Vorrecht des Thronerben, am gefährlichsten Punkte sein Leben in die Schanze zu schlagen. Die Leitung des Feldzuges kam anderen zu, die durch Erfahrung, Alter, Wissen und Besonnenheit dazu befähigt waren. Jonathan aber hätte es für eine entehrende Beschimpfung gehalten, wenn man ihn zum Feldherrn hätte degradieren wollen, von dem höheren Range, der seinem Mut, dem Beispiel, das er geben konnte, und seiner fürstlichen Verantwortung zukam: zu stehen, zu kämpfen und, wenn es das Geschick gebot, freudig zu fallen in der vordersten Reihe des Sturmtrupps. Ein einfacher Soldat wie die andern. Im Streite für das Vaterland, Gott und die Krone.

Ohne Vorwissen Sauls und der Kampfgenossen, nur mit einem einzigen Gefährten, machte er sich auf gegen Michmas; dort enthüllte er seinem Begleiter seinen tollkühnen Plan, und dieser entgegnete ihm nur: »Tue, was dein Herz dir befiehlt. Ich bin mit dir.«

Sie stiegen in die Felsspalte des Passes hinab und durchkletterten die steile Wand auf der Gegenseite, auf deren Höhen die Vorposten der Feinde standen. Daß an dieser für völlig unzugänglich gehaltenen Seite ein Angriff erfolgen könnte, schien ausgeschlossen. Die beiden Jünglinge überraschten die Wache völlig und machten an zwanzig der Erschreckten nieder, die andern entflohen schreiend und trugen Verwirrung über den nächtlichen Überfall ins Lager. Daß nur zwei Angreifer über sie gekommen waren, hatte niemand bemerkt. Eins der in diesem Teil des Gebirges sehr häufigen kurzen Erdbeben setzte gleichzeitig ein. Nun war der Schrecken unaufhaltsam. Das Lager stöberte auf, kopflos liefen die Schlaftrunkenen durcheinander. Ausgesandte Späherabteilungen hörten das Geschrei, rannten teils zu den Zelten zurück und wurden in der Dunkelheit für Feinde gehalten, teils flüchteten sie ins Land hinaus und rissen andere entgegenkommende Rotten mit sich. Niemand kannte sich aus, alles wirrte toll herum, berstend vor Angst, keinem Befehl gehorsam, heulend, zu den Göttern schreiend. Waffen flogen zu Boden, kehrten sich gegeneinander, der Bruder fiel dem Bruder zu Füßen, bettelte den vermeintlichen Feind um Schonung und Gnade an. Hier bargen Köpfe sich in dem Staub, jammerten in die Erde hinein um das junge Leben, die Schätze daheim, Frauen, Kinder, Geliebte. Dort beschwor der oberste Dagonpriester seinen Herrn, jetzt seine Macht zu zeigen gegen den Judengott. Scheu gewordene Pferde rissen sich los, fuhren in den Knäuel. Posaunen tosten vergeblich zur Sammlung, vermehrten nur die Angst vor dem Feinde. Die leise rollende, grollende Erde der Hebräer trat in den Kampf, löste Felsblöcke, die hinabsprangen auf die Häupter der Zerschmissenen. Der Wirrwarr steigerte sich aufs höchste.

In Sauls Lager schlief man nicht. Die Bergwache meldete das Getümmel; der König alarmierte. In Eile befahl er den Aufruf der Mannschaft. Alles zur Stelle; zwei nur fehlten, Jonathan und sein Waffenfreund. Gute oder schlechte Gründe der Abwesenheit? – Gleichviel, nicht nachdenken. Weiter. Der Lagerpriester Ahia soll schnell das Orakel geben; seine Vorbereitung fordert Zeit. Das Lärmen drüben dauert an; nicht aufhalten; zieh deine Hand ab, Priester, laß den Ephod. Vorwärts, vorwärts! – Eine Anfrage? Nachher, später. Vorwärts, nur vorwärts! Laufen, springen, jagen – drüben steht der Feind. Ob die Erde bebt, ob der Himmel stürzt – was die Götter meinen? – wir holen uns ihre Antwort, ihre Sprüche selbst. – Sie stehen geschrieben in den Leibern der Philister.

Schon sind sie drüben. Israel und Juda über dir, Philister! Saul und Jonathan über dir, Philister! Jahve und alle Götter und Dämonen des Landes Kanaan und Zauber und Wunder und Pest und Aussatz, Erdbeben und Himmelsdonner über dir, Philister! Nieder mit deinen Gepanzerten und Berittenen. Raßle die Streitwagen ineinander und in das eigene Heer, wirf die Schilder und Helme und Harnische fort und flieh – flieh! Sechshundert über dir? Sechstausend und sechzig mal tausend! Waffenlos? Nein – alte Steinäxte, verrostete Hellebarden, die schon als Rauchkehr gedient, krumme Sicheln, Messer, Holzkeulen, schartige Sensen und unsere Fäuste, Zähne, Nägel, stampfende Füße sind da! Eines Volkes Zorn, eines gedemütigten, gekränkten Volkes Rache ist da! Ist über dir! Wehe dir, Philister!

Und in deiner Mitte, aus dir heraus der ärgste Feind. Die Männer, die zähneknirschend dir Gehorsam leisten mußten, die du ausgehoben im annektierten Land, zum Dienst bestochen und gepreßt im besetzten Gebiet. Der Schlachtruf Israels ertönt im Lager der Unbeschnittenen. Brüder! Wir sind hier, sind bei euch, sind mit euch! Hier sind gute Schwerter, hier der Gänge des Lagers Kundige – der Tag der Befreiung ist da! Heil König Saul – Heil Israel! Aufersteht das gepeinigte, verblendete, zu Boden geworfene Hebräertum. Vaterland! Unser Land! Vaterland!!

Es war eine herrliche Schlacht. Viel Schweiß, Blut und Geifer floß, Menschen wurden zerfleischt und zerstückelt. Gierig schnitten sie Arme, Beine, Köpfe ab, stachen Augen aus, entrissen dem Feinde die Mannheit. An den Steinen klebten Muskel und Faser, Mark und Gehirn. Grobe Keulen zersplitterten weiße Zähne mitsamt den Kiefern, sprengten Knochen und Knorpel, zerschmetterten Rippen, zerknirschten das Rückgrat. Ächzend preßten die Männer ihre Gedärme in die aufgeschlitzten Leiber zurück. Pfeilgift erzeugte überaus lustig anzusehende Verkrampfungen. Geballte Fäuste malmten zerspringende Schläfen, spreizende Finger gurgelten ab, fetzten aus kreischenden Mäulern schlüpfrige Zungen heraus. Genießerisch fraßen die Lagerhunde abgehauene Nasen und abgedrehte Ohren, soffen Blut, heiß springendes Blut bis zum Erbrechen. Zelte brannten, Marketenderinnen, Feldhuren, Kinder inmitten. Wollten fliehen, wurden johlend von den Siegern in die Glut zurückgetrieben, Säuglinge gespießt, sausten in hohem Bogen in die Flammen. Es stank nach Angst, Menschenbraten, Blutgerinnsel. Pfählen, reißen, stampfen, schlagen, heulen, röcheln, winseln, fluchen, beten, jauchzen, jammern, Gott preisen, Gott anflehen, Gott danken, Gott verfluchen. Vergeblich der Schrei um Gnade zum Himmel und zu den Menschen: Pardon wird nicht gegeben! Von der Raserei der zu Bestien Gewordenen nicht, und nicht von des Allgütigen Allmacht. Es gab viel Lärm und Bewegung. Es war eine herrliche Schlacht.

Die Niederlage der Philister war großartig. Sie flohen nach allen Seiten. Saul ließ keine Zeit, Beute einzuheimsen. Später. Jetzt mußte der Sieg sich auswirken. Überallhin zerstreuten sich die Feinde. Ihnen auf die Fersen! Die Zersprengten einzuholen, sie zu vernichten gelang über Erwarten – denn die kleine Schar der Verfolger wuchs von Stunde zu Stunde. Die Überläufer vermehrten die Zahl, auch sonst strömten frische Kräfte hinzu. Magnetisch zog der Erfolg aus allen Felsspalten, Erdlöchern und Höhlen des Gebirges Ephraim die Ängstlichen und Abwartenden heraus! Hier waren sie! Hinter den Geschlagenen her! Wer hatte an ihrem Mut gezweifelt? Waren sie nicht zur Stelle? Kampflechzende Helden, tapferkeitsgebläht; freilich etwas verspätet, aber nur um eine kleine Weile. Ohnehin wären sie heute zum Heer gestoßen, hatten nur gerade noch bessere Waffen aus den Verstecken holen wollen. Ja, ihr Eifer war vorbildlich. Am allerhurtigsten eilten sie den Fliehenden nach. Nur nicht zu spät kommen. An den Feind. Und zur Beute.

Gleichviel – sie waren da und man konnte sie gut gebrauchen. Sieg ist wenig, Ausnutzung des Sieges alles. Keine Müdigkeit, kein Ausrasten, keine Nahrungspause – Saul befahl es, verbot, auch nur einen Bissen zu essen, drohte Todesstrafe dem, der nachließ in der Verfolgung; und alle schwuren Gehorsam.

Jonathan stieß im Walde zur Hauptmasse, erschöpft, berauscht, allen bald voran. Im Vorübergehen tauchte er seinen Stab in eine Honigwabe, schlürfte die Spitze ab, unkundig des Gebotes und Schwures. Seine übermüdeten Augen frischten wieder auf. Er lobte den anderen die Erquickung und erfuhr nun erst vom anbefohlenen Fasten.

Den ganzen Tag hindurch bis zum Abend hielt das Jagen an, dann fielen alle ermattet nieder. Sie nahmen sich nicht Zeit zum Schlachten und Beten, sondern stürzten sich, vor Hunger vergehend, auf rohes, blutiges Fleisch, dem Gesetze Jahves zuwider. Der Priester, der den Tag hindurch überflüssig gewesen war, beschwerte sich. Saul hörte auf ihn. Der erste Hunger war gestillt, man fand Zeit. Ein Altar wurde errichtet und geopfert. Alle schmausten und gedachten zu rasten – nur der König nicht. Er wollte nach kurzer Pause weiter, die Grenze überschreiten, wie eine Hagelwolke ins überraschte, ängstlich sich duckende Land des Erbfeindes einfallen und so den Sieg bis zum letzten vervollständigen. Große Reichtümer lockten, die meisten waren bereit, die Müdigkeit zu überwinden, andere widerstrebten, sie konnten nicht mehr. Das geforderte Orakel war ungünstig; wessen Sünde stand dem Plan des Königs entgegen? Der Priester loste mit Urim und Thummim. Das Heer ging frei aus gegen die Fürsten; zwischen Saul und Jonathan stand nun das Urteil. Urim erschien zum anderen Male. Jonathan war gezeichnet. Der Kühne, Geliebte, der den Tag eingeweiht und durchgekämpft hatte wie kein zweiter, sollte Schuld haben an Gottes Ungnade? Wie denn? – Er hat das Fastengelübde gebrochen, als er im Wald vom Honig kostete.

Saul erhob sich vom Stein. Der König sprach – der König richtete – der König verurteilte. Wissentlich oder unwissentlich – wer das Gesetz übertritt, im Kriege zudem, auf der Spur des Feindes, der ist verfallen. Und ist's mein Sohn und Stolz, und ist's ein Held und Führer – er hat verwirkt. Jonathan muß sterben.

Da erzitterte das Volk von Israel und Juda. Denn hoch über ihm rauschten durch das nächtige Dunkel die Schwingen der Übermacht und Übergröße, erbrauste der unbeugsame Wille zum Rechte und zur Gerechtigkeit. Und nun erst ward sich jeder voll bewußt, was das Wort birgt und bedeutet: ein König!

Dann aber geschah das Wunder – Jonathan hatte unter allen den vielen Kämpfern keinen Gegner, keinen Neider. Das Heer kann nach uralter Sitte und seinem Kriegsfug gemäß den Verurteilten vom Tode lösen, wenn es einstimmig die Gnade übt, die nicht einmal der Feldherr spenden darf. Denn des Volkes Wille überwindet menschliche und göttliche Satzung und ändert sie, er ist gewaltiger als Schwur und Fluch. Ohne Widerspruch hatte Jonathan sich zum Sterben bereitet. Nun wurde er einhellig losgesprochen und stand frei. Saul wandte sich schweigend ins Zelt. Jetzt mußte er allein sein mit sich selbst. Die andern umjauchzten den Wiedergeborenen, ihnen Wiedergeschenkten. Freude und Glück erfüllten die Nacht, endeten die Schlacht und Verfolgung. Und nur einer hockte nach Jonathans Lösung untätig, igelhaft und mürrisch in sich versenkt, abseits auf der Erde: der Lagerpriester Ahia.

Man durfte es nicht wagen, in Philistäa einzubrechen, sobald der Feind Gelegenheit gefunden hatte, sich zu sammeln und die reichen Hilfsquellen seines Landes zu nutzen. Saul mußte sich an dem bisher Erreichten genügen. Er stellte den Feldzug ein; das befreite Gebiet fiel Israel-Juda wieder zu, die alte Grenze wurde hergestellt, und auch die Philister zogen es vor, den Krieg mit dem hebräischen Einheitsstaat, der sich mit einem Schlage so machtvoll und furchtbar erwiesen, ruhen zu lassen. Der König blieb darum nicht müßig. Es galt, für kommende Entscheidungen vorzusorgen. In raschen und energischen Vorstößen warf er sich auf die Randvölker im Süden, Osten und Nordosten, zertrümmerte das Ammoniterreich, schlug die Edomiter und Moabiter und andere Nachbarn. Nur ganz selten traf ihn ein Rückschlag. Er war so schnell in Angriff und Wucht, daß den Feinden keine Zeit zum Zusammenschluß untereinander blieb. Die Hilfe der Philister fiel aus, sie hatten genug mit sich zu schaffen. Auch hielt Saul sie durch kühne Grenztruppen im Schach, wohl unterstützt durch seinen Vetter Abner, den Sohn des Ner. Ein Mann von gleicher vaterländischer Gesinnung wie der König selbst, wortkarg, zuverlässig, treu und militärisch hochbegabt, so daß er bald zum Feldmarschall aufrückte. In dieser Stellung verblieb er während der ganzen Regierungszeit Sauls, der in ihm seinen getreuesten Helfer und Berater fand, dem er auch widerstrebende Ansichten nicht verargte. Denn Saul war auch darin groß, daß er Größe neben sich ertrug und freie Männer und freies Wort schätzte. Er sah in Abner allzeit den Freund und erkannte willig seine Bedeutung an, ohne ihn als untertänigen Knecht zu behandeln oder seine Verdienste um Volk und König als Handlangerarbeit zu verkleinern.

Seiner Königswürde vergab er dennoch nichts; er richtete seinen Hofstaat angemessen, wenn freilich ohne Prunken, Prahlen und Protzen ein, beließ ihn aber in Gibea. Wenn es auch andere zur Hauptstadt geeignetere Orte gab, so wollte er sich doch von seiner Wurzel nicht lösen. Ein Baum, der seine Kraft der heimischen Scholle entsaugt, so schien ihm der Gedanke des Königtums. Er widerstand deshalb auch dem Anreiz, durch Heirat mit fremden Fürstentöchtern dynastische Beziehungen anzuknüpfen. Einen Harem mußte er natürlich einrichten, das forderte seine Stellung, aber er barg nur Töchter des Landes. Und seinem Herzen stand seine erste Frau Ahinoam allezeit am nächsten; wie auch ihre Kinder Jonathan und dessen Brüder Isio und Malchisua und die Töchter Merab und vor allem die jüngere Michal; diese ihm am allerähnlichsten an Aussehen und Charakter. Der Bureaukratie abhold, schuf er kein umfassendes Hof- oder Staatsbeamtentum, ließ vielmehr den einzelnen Stämmen unter ihren ansässigen alten Geschlechtern weitgehende Selbstverwaltung. Unerbittlich forderte er Zusammenhalt und völlige Unterwerfung nur in einem, im Heeresdienst. Denn wenn auch von geringeren Gegnern keine große Gefahr drohte, so war doch der Krieg gegen den Erbfeind nie durch einen wirklichen Frieden abgeschlossen. Die Grenzkämpfe währten ununterbrochen und Saul wußte wohl, daß das gesamte Juda-Israel seine Machtstellung noch einmal in hartem Kampfe würde zu verteidigen haben. Deshalb arbeitete er emsig an der Ausgestaltung und Bewaffnung der Armee, jeder Mann wurde gemustert und ausgebildet. Eine besondere stehende Elitetruppe bildete der König aus den tüchtigsten und rüstigsten Leuten. Dies schien eine kleine Schwäche von ihm, seine Vorliebe für die langen Kerle. Aber diese Garde bedeutete doch mehr als eine Laune und als ein königliches Spielzeug.

Einen größeren Feldzug unternahm er gegen die Amalekiter, weniger aus eigenem Antrieb als auf Drängen Samuels. Der König wußte wohl, was den Priester gerade zu diesem Verlangen trieb. Die Amalekiter hatten ihre Sitze im Wüstengebiet zwischen Kanaan und der Halbinsel Sinai. Der Überlieferung nach hatten sie sich den von Süden her ins Gelobte Land eindringenden Geschlechtern, also Juda, Simeon und dem damals noch nicht aufgeteilten Priesterstamm Levi, besonders feindselig erwiesen. Aber diese verjährten Ereignisse reizten den Zorn der Priesterschaft in Wahrheit nicht. Sie wollten vielmehr durch die Gesamtheit der Hebräer die gefährlichen Nachbarn von Juda gründlich und möglichst auf immer schwächen. Denn im Süden, in Juda, lag die Zukunftshoffnung der konservativen Partei. Nur äußerster Not gehorchend, hatte es sich dem Einheitsstaat eingefügt, der israelitische König verletzte von vornherein ihr stark ausgeprägtes Sondergefühl. Und wenn sein Erfolg und seine Persönlichkeit auch alle Einwendungen überwunden und eine starke reichsunitarische Strömung auch in Juda gebildet hatten, so sahen die vornehmen jüdischen Geschlechter doch immer noch scheel genug auf den Hergelaufenen, den Emporkömmling aus Benjamin, den Sohn des Nordens. Besonders aber bestand und wuchs der Gegensatz durch die religiösen Verschiedenheiten. Israel war lässig und duldsam; neben Jahve-Jehova wurden andere Gottheiten, oft rein örtlicher Art, verehrt und angebetet. Saul selbst hatte aus seiner Gleichgültigkeit auf diesem Gebiete nie Hehl gemacht. Die eigenmächtige Feier der Brandopfer auf dem Gilgal blieb ihm unvergessen. Juda dagegen war streng jahvistisch, für den wahren Glauben eifernd und bigott. Hier besaß das Priestertum seinen reichsten Hort. Durch einen Sieg über die Amalekiter wurde der Süden von der ständigen Bedrohung befreit. Erreichten die Priester dies, so erwarben sie sich Anspruch auf Dank, und die Judäer hatten zudem die Hände frei, wenn es in Gottes unerforschlichem Ratschluß etwa wieder einmal sich ereignen sollte, daß das Großhebräische Reich zerfiel, Norden und Süden sich wieder trennten und man – was Gott verhüten möge – seine heilige Kirche, seine geweihte Priesterschaft, die Stammeseigenart und die alten Überlieferungen gegen den freigeistigen und sogar ketzerischen Aufkläricht der Demokraten im Norden verteidigen müßte.

Trotzdem Saul diese Zusammenhänge klar durchschaute, konnte er sich dem Verlangen Samuels nicht entziehen. Dies wäre als offene Stellungnahme gegen Juda gedeutet worden, und das junge Reich hätte der dann unausbleiblichen inneren Erschütterung sich vielleicht nicht gewachsen gezeigt. Ein kluger Feldzugsplan entschied schnell; das feindliche Heer wurde zerstreut, der König der Amalekiter, Agag, gefangengenommen, von Saul aber nicht hingerichtet. Es widerstrebte ihm, den grundlos Überfallenen auch noch seines Lebens zu berauben. Das aber war durchaus nicht im Sinne der Judäer und der Priesterschaft. Und da Samuel auf alte Gerechtsame und die ungesühnten Übeltaten der Feinde aus den Vorväterzeiten her pochend sich berief, stellte das Heer zum ersten Male sich gegen Sauls Meinung. Der König mußte zulassen, daß Samuel den Amalekiterfürsten eigenhändig niederschlug. Damit aber waren auch die letzten Brücken zwischen der Priesterpartei und ihm abgebrochen. Samuel zog sich sofort nach Rama zurück, Saul begab sich wiederum nach Gibea. Beide wußten, daß der heimliche Gegensatz sich so gespannt hatte, daß er über kurz oder lang zum Ausbruch kommen mußte. Fortan gab es keine Versöhnung mehr. Die Wege des Staates und der Kirche trennten sich, und Saul und Samuel sahen sich von diesem Tage an niemals wieder.

Noch rollte Saul den inneren Zwist nicht auf; denn die Stunde der großen Außenentscheidung rückte heran. Das aufstrebende hebräische Volk bedurfte des Zuganges zum Meer. Furchtbar war dem König der Gedanke, daß er nur mit neuem Blutvergießen und dem Grausen der Zerstörung seine Aufgabe erfüllen konnte. Es gab Stunden, wo tiefe Trauer ihn erfaßte, und die schwere Last, die gerade auf seinen Schultern lag, das Unheil, das auf sein Volk und auf den Gegner zu wälzen er auserwählt und gezwungen war, bedrückten ihn tief. Aber der ihm gewiesene Weg war klar. Da gab es kein Zögern und Ausweichen. Es war ein unerbittliches Muß. Er war der König – für ihn gab es nur ein Gesetz: die Pflicht.

Am meisten aber quälte ihn der steigende Zwiespalt im eigenen Lager. Da waren Stimmen, deren Ursprung nicht nachweisbar, Erscheinungen, die nicht zu begreifen waren. Aber in sich fühlte der König genau, daß die Einmütigkeit des Volkes zerrann. Eifrige Wühler waren geschäftig in leiser, nagender Arbeit. Sie umkreisten ihn und verdüsterten des Volkes Sinn, seine Begeisterung kühlte sich ab, seinen hingebenden Glauben gifteten sie in Mißtrauen um; ihrer eigenen unsauberen Ziele halber gefährdeten sie das Vaterland und untergruben die junge Monarchie. Ihnen war der König nur wert und geheiligt, wenn er bereit war, Bannerträger ihrer Vorteile zu sein und ihren Willen zu tun. Über Saul, der klar und erhaben über kleine Menschlichkeit und menschliche Kleinheit hinwegblickte, vor dem alles liebedienerte und nachgiebig auswich, um hinter seinem Rücken alsbald wieder zusammenzuströmen, kamen die Menschenverachtung und der Menschenhaß. Niedergeschlagen sann er seiner Ohnmacht nach und der Gemeinheit der anderen; und es gab Stunden, wo diese Gefühle sich verdichteten bis zur wirklichen Melancholie.

Gerüchte hierüber verbreiteten sich, und die Verstimmungen des Königs wurden eilfertig in Krankheit, Gottverlassenheit und das Walten böser Dämonen umgedichtet. Das machte manches Herz bang und zog es von Saul ab. Die Priester hätten jetzt einen Vorstoß gegen ihn nicht ohne Aussicht auf Erfolg wagen können. Aber es fehlte ihnen der geeignete Mann. Wollte man einen Prätendenten aufstellen, so mußte es jemand sein, dem Liebe und Vertrauen der großen Masse zufiel, der aber zugleich, im Unterschied von Saul, einem altangesehenen Geschlecht angehörte, dem also weitverzweigte Unterstützung sicher war. Auch galt es, den Gegensatz zwischen Nord und Süd auszunutzen; der Gesuchte mußte nach seiner Erziehung fest in der Hand der Priester sein. So begann man in Juda die Stimmung gegen Saul zu verschärfen, um die Führung des Gesamtreiches vom unzuverlässigen Norden auf den strenggläubigen Süden überzuleiten. Eifrig hielten die Priester Umschau. Auch Samuel selbst scheute es nicht, sein hohes Alter in den Dienst dieses gottgefälligen Werkes zu stellen. Schließlich winkte in Bethlehem ein Ziel. Dort blühte das Geschlecht des Isai, der seine Abstammung in direkter Linie von Juda, dem Stammesvater selbst, nachweisen konnte. Zwar war es nicht reinen hebräischen Blutes, da der Großvater des Isai, Boas, eine Moabiterin namens Ruth geehelicht hatte und auch schon die Stammesmutter Thamar, Judas Frau, keine Nachfahrin Abrahams, sondern eine Kanaaniterin gewesen war. Aber ganz rassereine Judäer gab es seit langem kaum mehr, und der Makel glich sich dadurch aus, daß ein Vorfahr Isais, Nahesson, schon als Fürst der Kinder Judas anerkannt worden war. Die acht Söhne Isais waren also unter den Edlen von Juda die vornehmsten.

In dem jüngsten von ihnen glaubte Samuel alle notwendigen Eigenschaften vorzufinden, und er senkte den Samen des heißen Ehrgeizes vorsichtig in seine Seele. Der Jüngling, der als Hirt die väterliche Herde weidete und versorgte wie einst Saul, war gewandt, anstellig, klein und zierlich, aber von anmutigem Wesen und schönem Körperbau, geschmeidig in Bewegung und Benehmen, behende in Gang und Wort. Seine bronzegetönte Hautfarbe, die großen unschuldig blickenden Augen und das rötliche Gelock um sein ebenmäßiges Gesicht machten ihn allen wohlgefällig. Seine Brüder hielten zwar nicht viel von ihm, sie kannten seinen Charakter genau und schalten ihn unter sich frech, vermessen und mit Herzensbosheit erfüllt. Fremden aber bot er sich sanft, bescheiden, zuvorkommend und fügsam dar. Sehr entzückte Samuel seine große musikalische Begabung und vor allem seine bis zur Übertriebenheit an den Tag gelegte und geübte Frömmigkeit. In aller Stille erging an die Vorsteher aller Priesterschaften ein Geheimbericht über den Sohn des Isai, den jungen David.

Ein Vorwand, ihn am Hofe einzuführen, ergab sich leicht. Die trüben Stimmungen des Königs verflüchtigten sich am besten durch Musik. Von Gibea aus hatte man deshalb schon seit längerer Zeit nach jemandem Ausschau gehalten, der als Vorspieler dem König Zerstreuung bringen konnte. Abstammung, Alter, äußere Gaben ließen David Isaisohn als sehr passend für diesen Posten erscheinen; er wurde dem König empfohlen und dieser hatte nichts gegen seine Person einzuwenden. Aber bevor David dem Rufe Folge leisten konnte, trat ein Ereignis ein, das alle klugen und heimlichen Absichten über den Haufen warf. Die erwartete Nachricht kam nun doch für alle überraschend und aufwühlend: Die Philister waren ins Land eingefallen. Und schon die ersten Meldungen erwiesen, daß es sich diesmal nicht um Grenzstreitigkeiten handelte, sondern um einen ernstlichen und beträchtlichen Angriff.

Aus den schon fast sagenhaft gewordenen Ureinwohnern, den Hünen, die im Winkel des Gebietes der Philister zwischen Gad und Asdod ihrem langsamen Aussterben entgegengingen, hatten sie eine besondere Heeresgruppe gebildet. Schon als Jahve dem Erzvater Abraham das Land Kanaan verhieß und die Herrschaft über seine Bewohner versprach – zu denen damals die Philister noch nicht gehörten – hatte er die Riesen erwähnt. Als dann nach dem Auszug aus Ägypten die ersten Späher auf Moses Anordnung Palästina erforschten, erschreckten sie bei ihrer Rückkehr das Volk durch die Kunde von eben diesen Riesen, den Nachkommen des Enak, die im gelobten Lande siedelten. Später erwiesen sie sich als gar nicht besonders gefährliche Feinde. Und wenn nach der Legende die ersten Riesen Bastarde von Engeln und Menschenfrauen waren, so hatten die himmlischen Väter ihnen jedenfalls kein großes geistiges Erbe nachgelassen. Ihrer Stärke und Körperlänge glich ihr Verstand nicht; sie wurden bei der Eroberung von Kanaan unter Josua fast völlig ausgerottet, der spärliche Rest mehr und mehr gegen die Küste gedrängt, und vermochten auch dort sich gegen die nachmals über See eindringenden Philister nicht zu behaupten. Jetzt hatten diese sie aber zum Heere eingezogen, und als der gewaltigste unter ihnen, Goliath, hervortrat und die Hebräer zu einem Zweikampfe herausforderte, der statt einer Massenschlacht das Schicksal des ganzen Feldzuges im Gottesurteil entscheiden sollte, befiel der gleiche Schrecken die Scharen Sauls wie einst ihre Ahnen. Koloß, Maße und Rüstung waren so furchtbar, daß niemand es wagte, ihm entgegenzutreten. Goliath verhöhnte die Hebräer morgens und abends während vieler Tage, zum angenehmen Zeitvertreib. Die Entmutigung stieg; hätte Sauls Strenge nicht geschreckt, wäre das ganze Heer auseinander gelaufen; aber lange war der Zustand nicht mehr erträglich. Das Wagnis einer Schlacht, bevor der geforderte Zweikampf erledigt war, erschien unmöglich. Eine solche Verletzung altgeehrter Kriegssitte hätte jeden von vornherein mit dem Gefühl der unvermeidlichen Niederlage erfüllt. Saul selbst und seine Söhne oder Abner durften als die Führer sich nicht stellen, das verbot der Brauch, und die Philister hätten sie mit Recht abgelehnt, Der König verzehrte sich in Sorge, Scham und Verzweiflung. Er beschwor seine Leute, setzte höchste Preise aus, versprach schließlich sogar eine seiner eigenen Töchter dem zur Ehe, der das Abenteuer unternehmen wollte. Aber niemand meldete sich.

In dieser Zeit sandte Isai, dessen drei ältesten Söhne im Felde standen, David zu ihnen. Das Gerücht, daß an der Front irgend etwas nicht in Ordnung sei, war ins Land gedrungen. Die Miesmacher unkten mit erhobenen Fingern und emporgezogenen Augenbrauen ein schlimmes Ende. Sie hatten natürlich schon längst gewußt, daß die Sache übel ablaufen würde und vermehrten die Bängnis und Überreizung durch ihre überaus zeitgemäße Weisheit bedeutend. Der Geist der Heimat wirkte wiederum zum Heere hinaus. Isai wollte in diesen schweren Tagen seinen Söhnen wenigstens einige Liebesgaben zukommen lassen und gab David auch ein ansehnliches Paket für ihren Vorgesetzten mit. Die reichen Leute sollten dies zwar nicht tun, und Feldwebel aller Heere der Welt sind auch stets unbestechlich gewesen – aber vielleicht gab es hier eine Ausnahme, einen, der Geschenke annahm. Der Zufall konnte es dann fügen, daß nicht gerade die jungen Leute aus dem angesehenen und sehr begüterten Geschlecht Judas auf die gefährlichsten Posten gestellt wurden, sondern andere, ärmere, nicht von altem Adel, die keine Pakete aus der Heimat erhielten.

David war über den Auftrag begeistert. Er hatte es vor Ungeduld daheim kaum ausgehalten. Nach Kampf und tapferen Taten Mann gegen Mann und Auge in Auge dürstete er nicht gerade. Als Freiwilliger hatte er sich nicht gemeldet. Aber irgendwie dabei sein wollte er gerne. Die Begehrlichkeit und Unruhe, der Vorwitz und die Vordringlichkeit, die den Südstämmen der Hebräer vielfach eigneten, waren bei ihm durch die Einflüsterungen der Priester und das Interesse, das Samuel ihm bezeigt hatte, außerordentlich gesteigert. Der Traum von Herrschaft – womöglich über die ganze Erde – der jeden gesunden jungen Menschen heimsucht, spukte in seiner regen Phantasie beständig. Kriegszeit und die Aussicht auf Abenteuer boten solchen Vorstellungen die beste Nahrung.

Die Brüder empfingen ihn übel. Schon bevor er sie aufsuchte, hatte er überall im Lager herumgelungert, mit seinen schnellen Augen alles erspäht, mit seinen weitgeöffneten Ohren alles erlauscht. Der älteste der Söhne Isais fuhr ihn hart an und riet ihm, sich nur möglichst schnell wieder auf den Weg zu machen. Ihn treibe ja doch nur Neugier, er solle sich lieber um seine verwahrlosten Schafherden kümmern. David berief sich auf des Vaters Befehl. Als der Bruder ihn überhaupt keiner Antwort würdigte, fragte er die Umstehenden, was mit dem Goliath vorgehe. Vor allem: welcher Art und wie groß die Belohnung sei, die dem Bezwinger des Riesen zugesagt war. Und er machte allerhand Andeutungen, als ob er sich getrauen möchte, den Kampf aufzunehmen. Es geschah wohl mehr, um den Bruder zu ärgern, allenfalls bewegte ihn Gedankenspielerei, Ruhmredigkeit und der Wunsch, sich hervorzukehren. Aber das Geschwätz kam vor Saul, der ließ ihn rufen und jetzt konnte Davids Ehrgeiz und Prahlsucht schwer zurück.

Der König nahm ihn nicht für voll, das stachelte den jungen Judäer besonders auf. Er renommierte mit Heldentaten, die er als Beschützer seiner Herde gegen das Raubzeug vollbracht habe, plapperte großtönende Worte vom Schutze Gottes, und Saul sagte sich schließlich, daß jedenfalls der Mut dieses Knaben dem Heer ein Beispiel geben und die gesunkenen Geister auffrischen könnte. Er gab Befehl, ihn zu wappnen. Aber David stolperte über das lange Schwert, als er zu gehen versuchte, ertrug die Last des Panzers nicht, und wäre nicht allen so bitterernst zumute gewesen, so hätte wohl ein allgemeines Gelächter die Narretei beendet.

In Davids eifrigem Gehirn jagten sich die Gedanken. Aufgeben wollte er nicht. Das hieße allen Zukunftshoffnungen entsagen – er hätte auch zu Hause vor dem Zorn der beschämten Brüder und dem allgemeinen Spott keine ruhige Stunde mehr gehabt. So, wie es gemeint war, in echtem, ehrlichem Kampfe, konnte er den Feind nicht bestehen. Aber war er auch schwächlich, so traute er doch seinem Verstande mehr zu als dem dieses langen Schlagetots. Schließlich, er hatte schnelle Füße. Und zum Davonlaufen bot sich wohl immer noch eine Gelegenheit.

Die Begegnung der beiden ungleichen Kämpen begann mit der üblichen gegenseitigen Beschimpfung. Und hier fand Goliath sofort seinen Meister. So etwas an Mundgewandtheit und Zungenfertigkeit war weder dem braven Riesen noch den übrigen Zuhörern je vorgekommen. Das spritzte und klatschte nur so. Und der langsam denkende, schwerfällige Enaksohn sperrte verblüfft Augen und Ohren auf über das kleine, quirlige, schwer verständliche Worte von sich speiende Gezwerg. Dann aber hob er sich entrüstet auf, um diesen hebräischen Floh zu zerquetschen.

In diesem Augenblick gebrauchte David seine Hirtenschleuder. Die völlige Überraschung, mehr noch als der heftige Schlag vor die Stirn, machte den armen Goliath, der nur seine eingelernten Kampfesregeln kannte, für einen Augenblick besinnungslos. Auf solche neuerfundene Methode war er nicht eingestellt. Als reisiger Held mit Schwert und Brünne hatte er sich zu Tjost und Buhurd gestellt, im ehrlichen Turnier darauf loszuprügeln und – wenn möglich – nicht geprügelt zu werden.

Aber unversehens kam die neue Zeit über ihn. Er fiel als erstes Opfer der Artillerie. Es ist wahrscheinlich, daß er bei sich bitterlich gegen die gemeine Verletzung der Kampfesnormen und gegen die neue Methode im Kriege überhaupt protestiert hat. Es ist auch sehr wohl möglich, daß er das Vorgehen Davids als schweren Verstoß gegen das Völkerrecht empfand und sich sehr darüber beschweren wollte. Aber die Frage der Berechtigung konnte bedauerlicherweise nicht nachgeprüft werden. David trieb die Bosheit so weit, dem wackeren Krieger, der betäubt zu Boden getaumelt war, hurtig den Kopf abzuschlagen, und zwar in Ermanglung einer eigenen Waffe mit Goliaths Schwert. Auch dies war nach Meinung hervorragender Autoritäten des Völkerrechts nicht zulässig. Die ganze Art und Weise Davids ist also zu beanstanden, sogar schwer zu mißbilligen. Zweifellos ist der Totschlag Goliaths theoretisch genommen ungültig. Aber in der Praxis war er unwiderruflich.

Die Hebräer hielten sich mehr an die Praxis. Sie nutzten die Überraschung der Feinde gründlich aus, stürzten sich, ohne auch nur den Befehl zum Angriff abzuwarten, auf sie (wieder ein zu rügender Verstoß gegen die Kriegsgesetze) und jagten die gänzlich Zerknirschten und erbarmungswürdig Entmutigten in einem Satz bis in ihr eigenes Land, wo ihre Festungen die spärlichen Überbleibsel aufnahmen und der Verfolgung Einhalt geboten. Unermeßlich war die Beute, unermeßlich der Triumph, und David war der Name des Tages.

Sauls gerader und ritterlicher Natur war die Art der Überwindung Goliaths recht zuwider, aber die Hauptsache war doch, daß das Vaterland gerettet war. Not kennt kein Gebot. Er durfte auch seine inneren Bedenken nicht äußern, das Volk hätte ihn nicht verstanden. Als sich gar herausstellte, daß der mit einem Schlage zum Nationalhelden gewordene junge Mensch der gleiche war, der für den Posten als Hofmusikus obenan auf der Liste gestanden hatte, war Davids Zukunft entschieden. Ein so vielseitig talentierter Jüngling durfte nicht hinter den Herden verbauern und versauern. Noch während er mit seiner Trophäe, dem Haupte Goliaths, mit den immer noch erschreckt aufgerissenen und über die Schlechtigkeit der Welt heftig sich beklagenden Augen, dastand, teilte Saul ihm mit, daß er ihn zu Hofe berufe, zu besonderer ehrenvoller Verwendung. David dankte hochbeglückt. Die unsichtbare Leiter erzitterte. Ein fester Fuß stand auf der ersten Sprosse.

Der König entließ David in Gnaden. Alle drängten sich um ihn, selbst die Brüder schoben sich herzu. Erfolg verschönt und veredelt. Aber bevor er sich entschließen konnte, wohin er sich zunächst wenden sollte, fühlte er sich mit glühender Gewalt umarmt. Jonathan hatte vor Ungeduld das Ende der Audienz bei seinem Vater kaum abwarten können. Seine enthusiastische Natur dürstete danach, diesem David, der als Retter Israels erschienen war, seine Liebe und Bewunderung zu bezeugen. Er hatte keine Bedenken, wie der kälter die Menschen wägende König, er überströmte von heller Begeisterung. Alles war hinreißend schön. Sieg und Erlösung von der Schmach, die sein vornehmes und tapferes Herz schwerer empfunden hatte als irgendeiner. Der Himmel wieder klar, voller Lerchensang, der Feind geschlagen, der wüste Riese in den Staub geworfen von der Hand eines schmächtigen, unbewaffneten Hirten; es war voll Wunder. Es war wundervoll. Man mußte jubeln, lachen, singen. Ganz tief glücklich war man, und vor allem mußte man dem Bringer dieser wonnigen Stunde danken, ihn Freund, Gefährte, Bruder nennen und ihn recht, recht lieb haben.

David erwiderte diesen stürmischen Ausbruch der Gefühle so gut, wie es ihm möglich. Der Vorteil, den die ihm angetragene enge Kameradschaft des Königssohnes bringen konnte, lag auf der Hand. Und wenn ihm auch der Überschwang und die alle Bedenken überspringende, schwärmerische Hingabe von einem anderen Menschen etwas Fremdes war, nicht recht verständlich und in einem andern Falle eher lächerlich erschienen wäre, so überwältigte doch die einfache Größe und Aufrichtigkeit, die neidlose Bewunderung und Ehrlichkeit Jonathans selbst sein berechnendes und kühles Herz. Sie tauschten die Kleider, er empfing von Sauls Sohn Schwert, Bogen, Gürtel und sogar den Mantel, den zu tragen sonst Vorrecht des königlichen Hauses war. Und als die geheimnisvolle, mystische Zeremonie des Treuebundes erfüllt wurde, als der Blutstrom, der Jonathans Seele trug, mit dem seinigen sich mischte, da hatte er die beste Absicht und den reinsten Willen, dieser Wahlverwandtschaft Pflichten zu erfüllen. Jonathan aber gab in dieser Stunde das schönste und wärmste, keuscheste und strahlendste Gefühl dem Bruder hin: Mannesfreundschaft!

Für ihn hieß das sich binden und verschmelzen und Treue wahren in jeder Lage und jeder Gefahr. Fürs Leben und fürs Sterben.

Bald genug erhielt er Gelegenheit, sie zu erweisen. Im Anfang zwar gab es keinerlei Trübnis. Der Sieg hatte Saul von mancherlei Sorge befreit. Daß ein vornehmer Judäer dabei und nun bei Hofe eine große Rolle spielte, gewann die Gemüter des Südens. Davids anschlägiger Kopf fand sich schnell in die Stellung des Befehlshabers, die ihm anvertraut wurde. Der Glaube der ihm Untergebenen an sein Glück und die Angst der Feinde vor dem Namen des Goliathbezwingers unterstützten ihn aufs beste. Dem Schlachtgetümmel setzte er sich zwar nicht selbst aus. Er ordnete an, befahl und dirigierte hinter der Front. Er hielt sich also klüglich. Aber der Sieg war mit ihm, beim Einmarsch der Truppen schritt er stolz an der Spitze, und das Volk jauchzte seinem Liebling zu. Bald überstrahlte seines Ruhmes Glanz selbst den des Königs. Leichtbewegt ist die Menge, und Saul, der Volkes Gunst und Mißgunst nach ihrem schwankenden Wert und Gewicht richtig schätzte, konnte doch nicht dulden, daß die Welle David höher hob, als es mit seiner eigenen Würde sich vertrug. Die schwatzenden Weiber, übertreibend und kurzsinnig, wie Frauen sind, sprachen und sangen: »Saul hat tausend geschlagen, aber David zehntausend.« Hinter solchem gedankenlosen Gackern hörte Saul das unheimlich surrende Echo von anderen Stimmen, die vordem schon seinen Geist bestürmten. Das Lob Davids klang allenthalben, auch aus den Reden der Männer. Er war der Klügste, der Frömmste, der Tapferste, und obwohl er selbst sich klüglich zurückhielt, so sickerten doch allerlei heimliche Gerüchte über ihn durch. Der Besuch Samuels in Bethlehem wurde ruchbar. Geschäftige Zungen waren ausschmückend am Werk. Wenn der Hohepriester selbst den Abkömmling des alten Judäerfürsten, als halben Knaben noch, ausgezeichnet hatte, so mußte dies Besonderes bedeuten. Hatte er nicht den ersten König schon erkannt und gesalbt, bevor das göttliche Los ihn bezeichnete? (Nach Sauls Thronbesteigung war seine Eselsuche und das Zusammentreffen mit Samuel nicht geheim geblieben.) Konnte nicht ein gleicher Vorgang sich wiederholen? Der fromme Judäer war nach Herkunft, Gottesgnade, Einsicht und Taten doch mindestens so wert, ein König zu werden, wie der gotteslaue Mann aus dem unansehnlichen Benjamin. Und manche Leute, die das Gras lauter wachsen hörten, trugen noch mehr Steinchen zu dem Sockel von Davids Ruhmessäule herbei und behaupteten, sie wüßten es ganz genau und hätten es aus allererster Quelle, Samuel habe David nicht nur durch Gespräch und Belehrung geehrt – er habe ihn geradezu mit heiligem Öle gesalbt und so als künftigen König bezeichnet.

An Saul selbst gelangten diese Wundermärchen nicht geradezu. Aber sein instinktives Einfühlen in die Seele des Volkes, dem er entstammte und mit dem er eins war auf Saft und Rinde, erschloß ihm die sich kreuzenden Regungen. Er ahnte, daß, wenn heute der Vergleich der Weiber David zehntausend- und ihm nur tausendfachen Sieg zusprach, morgen schon die künstlich genährte und gesteigerte Unruhe der Männer aus dem jungen General einen Anwärter auf die Krone machen und die Fahne des Aufruhrs vor ihm entrollen könnte. Das bedeutete den Bürgerkrieg, bedrohte die kaum geschaffene Einheit des Staates, mußte den hitzigen Süden gegen den ruhigeren und nüchterneren Norden entflammen und vielleicht vom Reiche losreißen. Nicht nur das Haus der Sauliden, das Thronfolgerecht seines Stammes war gefährdet – was viel ernster war: das Werk des Königs und das Vaterland.

So sammelte sich allmählich Verdacht und dann Feindseligkeit gegen David in Saul, die bis zum Haß sich steigerte und in dem ohnehin schon überreizten Mann zuweilen bis zu sinnlosen Zornesausbrüchen anschwoll. Er sah dann in David den Träger aller Umsturzideen, den Menschen, der bewußt darauf ausging, alles was er aufgebaut, zu unterwühlen und zu zerstören. Er spürte geheime Verschwörung und innigen Zusammenhang mit der in der Stille und im Dunkel wirkenden Priesterpartei. Was ihn aber am meisten aufbrachte, war, daß er nirgend zupacken konnte, daß es keine Beweise gab, daß, wo er hinsah, nur Schattenspiele sich bewegten. Seine Seele, krank geworden durch Argwohn und Mißtrauen und Menschenverachtung, litt doch noch mehr unter dem schlimmsten Giftgedanken, der diese große und ehrenhafte Natur zersetzen konnte: unter dem Gewissenszweifel, ob er nicht vielleicht aus persönlicher, gekränkter Eigenliebe dem Sohne Isais unrecht tat.

Denn David war allezeit der gleiche. Dienstbeflissen, fröhlich, harmlos beinahe und sehr ergeben. Die Launen seines königlichen Herrn schien er als selbstverständlich hinzunehmen. Nie vergaß er sich, nie zeigte er, daß anderes ihn bewegte als der Gedanke, die ihm übertragenen Pflichten bestens zu erfüllen. Er floß über von Loyalität und Liebe zur Person des Königs. Und wenn Saul sich seiner Sache ganz sicher fühlte, wenn er schon entschlossen war, kurzer Hand mit dem aus dem Felde Zurückkehrenden abzurechnen und seinen heimlichen Hochverrat zu bestrafen, so entwaffnete ihn David schnell wieder. Scheinbar unberührt vom Danke und der Huldigung des Volkes, wie ein einfacher, schlichter Hofbediensteter kam er in den Thronsaal, ohne Rüstung und ohne Abzeichen des Heerführers. Die kleine Harfe mit den zehn quergespannten Saiten, die er mit dem Plektrum geschickt anzuschwirren verstand, hielt er im Arm, ließ sich vor dem Thron nieder, präludierte und begann ein heiteres Lied. Nichts lag ihm im Sinn, als mit seiner Kunst seinen König zu erfreuen. Und der im Auf und Ab seiner widerstrebenden Gefühle zerrüttete und verwirrte Saul dachte dann: Es kann ja nicht sein. Es ist unmöglich. Soviel Verstellungsgabe ist niemandem beschieden. Ich tue ihm unrecht. Das ist kein Pläne schmiedender Verschwörer, kein Unruhstifter, kein Ehrgeiziger. Ich bin leidend, ich sehe Dämonen. Ich muß ihm dankbar sein, daß er mit dem Wohllaut seines Instruments sie verjagt und mich heilt. Nein – David ist keiner schlechten Tat fähig, David denkt nicht an Blut und Verrat und Grausamkeit. David ist nicht des Reiches und mein und meines Hauses Feind. Schlaf ein – Argwohn. Beruhige dich – undankbares Mißtrauen. Entflieh, marternder Wahn – David meistert euch. David singt und lullt euch ein. David schlägt die Harfe.

Selbst als in jäh ausbrechender Wut eines Tages der König seinen Speer nach dem Sänger schleuderte, um mit einem Wurf alles, was im Dunkel schlich, zu treffen und zu durchbohren, zugleich mit Davids lockigem Haupte – gelang es ihm nicht, einen Schrei der Empörung, ein Überraschungswort, das seine wahren innersten Gedanken verriet, dem Angefallenen zu entreißen. Gewandt – so gewandt, als ob er derartiges vorhergesehen und achtsam auf seiner Hut gewesen, wich er aus. Keine Anklage, kein Vorwurf entschlüpfte ihm. Ehrerbietig, unterwürfig wie stets neigte er sich und ging rückwärts schreitend hinaus. Der König hatte ihn töten wollen? Der König mochte seine Gründe haben. Was der König will und tut, ist richtig.

Saul aber blieb noch mehr in sich zerquält und unsicher zurück. Denn nun erhitzte ihn auch noch die Scham über seine mangelnde Selbstbeherrschung, über die Feigheit des plötzlichen Angriffs auf einen Wehrlosen. Er verlieh David eine höhere militärische Stellung und den Fürstentitel, den sein Geschlecht früher schon getragen. David änderte sein Benehmen auch jetzt nicht. Nie konnten die Späher etwas berichten, was den Schatten einer Inkorrektheit ergab. Wo er auch weilte, was er auch tat – er verhielt sich klüglich.

Aber die Liebe des Volkes zu ihm nahm zu, und sie glitt ab von Saul, dessen Verhalten ungerecht, kleinlich und unbegreiflich schien. Ohnmächtig fühlte der König, wie er, ohne daß David irgend etwas beging, von ihm überwunden wurde. Und nun wurde er ihm unheimlich und bedrohlich. Er verfiel jetzt aufs entgegengesetzte. Es schien ihm richtig, lieber mit allen Mitteln David sich zu verbinden, als ihn weiter zu befehden. Das noch uneingelöste Versprechen, das er dem Goliathsieger einst gegeben hatte, konnte die beste Brücke schlagen. Er ließ David wissen, daß er sein Wort halten, ihn zu seinem Eidam nehmen wolle. David konnte, obwohl er ja einen Anspruch auf diese Ehre hatte, sich gar nicht genug in demütigem Dank erschöpfen über die hohe Gnade, die ihm, dem geringen und unwürdigen Untertan zuteil werden sollte. Er äußerte auch kein Mißfallen, als die ihm zunächst bestimmte älteste Tochter Merab dann plötzlich anderweit vermählt wurde. Beleidigung, die der König zufügt, ist kein Schimpf. Der König mochte seine Gründe haben. Was der König will und tut, ist richtig. Nachdem auch hier David sich bewährt hatte, mußte aber Saul Ernst machen, wollte er nicht auch die getreuesten seiner Getreuen gegen sich aufbringen und gänzlich irre machen. David sollte die jüngere Tochter, Michal, Sauls Lieblingskind zur Gattin erhalten. Das Köstlichste, was der König besaß. Erst nach heftigen inneren Kämpfen entschloß er sich. Er allein wußte, welche Herrlichkeit in diesem edel rankenden Geschöpf sich barg. Ein jeder hatte auf den Knien zu danken, die Hände anbetend zum Sonnengott zu heben, weil eine Michal über diese Erde schritt. Gab er sie David zum Weibe, so war dies ein mehr als königlicher Lohn. Dies mußte das Ende des heimlichen Krieges zwischen ihnen herbeiführen. Aber trotzdem er dies wünschte, denn er war müde geworden, hätte er sich doch noch nicht überwinden können, wenn nicht noch eins hinzugekommen wäre: Michal hatte David lieb.

Sie sollte glücklich werden. Nur eine Probe noch – eine letzte, ein Gottesurteil zugleich. Für die königliche Frau gebührte eine königliche Tat. Der Mann, der Goliath mit einer List besiegte, seine Schlachten durch seine Soldaten schlagen ließ und doch im Munde des Volkes ein Held und ein Wunder persönlicher Tapferkeit war, sollte einmal seinen Mut erweisen. Hundert Philister sollte er erschlagen, hundert Vorhäute – das Zeichen der Erbfeindschaft mit diesem Volke, das die Sitte der Beschneidung auf das heftigste verwarf – sollte er als Werbesold für Michal bringen. Überstand er diesen Kampf – so hatte das Schicksal zu seinen Gunsten gesprochen. Fiel er–… Dies war Sauls geheime Hoffnung.

Aber auch diesmal hielt sich David klüglich. Nicht allein, wie es der Sinn der gestellten Aufgabe war, zog er aus, sondern er nahm seine Waffenfreunde mit. Nicht hundert nur, zweihundert Philister erschlugen sie. Aus einem Hinterhalt. Und die klare Sternennacht, die dem Überfall folgte, sah David bei emsigem Tun. Seine Krieger ruhten aus, pflegten ihre Wunden, dachten der Gefallenen und schlummerten schließlich ein.

Ihr Führer aber, der des Königs Eidam werden wollte durch ihre tapfere Hilfe – und den noch andere Ziele lockten, von denen sie nichts ahnten, der ein Wort in sich hörte bei Tag und Nacht, das da lautete: David, König von Juda und Israel! – Ihr Führer hatte noch keine Zeit zu rasten, der hatte noch viel zu erledigen.

Über das Schlachtfeld glitt Schritt für Schritt eine Gestalt, bückte sich zu den Leichen der Gefallenen, arbeitete und zählte.

David sammelte Vorhäute.

Das Beilager mit Michal fand statt. Bald aber stieg in Saul aufs neue der Grimm. Kleine Geplänkel, bei denen David zugegen war, wurden aufgebauscht zu großen Ereignissen. Es gewann den Anschein, als ob David alle Kämpfe allein bestehe. Sein Name war in aller Munde, jeder Erfolg wurde ihm zugeschrieben. Der König, Abner, Jonathan, die tapferen Gefährten Sauls wurden gar nicht mehr beachtet und erwähnt. Die Erinnerung an ihre Taten war ausgelöscht. Dazu kam das Gefühl der persönlichen Beleidigung. Denn bald nach der Hochzeit wurde Saul hinterbracht, auf welche Weise David die Brautgabe für Michal erworben hatte. Seine Gefährten rühmten sich unverhohlen, daß sie ihn begleitet, daß sie mit Übermacht die Feinde überwältigt und so die erforderliche Anzahl zur Strecke gebracht hatten. Alles hatte David auf das beste geordnet. Klüglich, wie immer. Sein Kopf hatte gekämpft – was brauchte er noch Leib und Leben zu gefährden? Dafür waren ja die andern, die Dümmeren da.

Saul ertrug es nicht länger, einer von ihnen beiden mußte weichen; er mußte sich von dem krebsenden Unheil, das sein Leben verzehrte, unter allen Umständen befreien.

Er rief seinen Rat gegen David auf, legte die greifbare Anklage, die Umgehung des königlichen Befehls vor und verlangte den Kopf des Lehnsmannes durch Urteilsspruch. Aber niemand verstand ihn. Was wollte der König eigentlich? Ob David mit eigenem Schwert oder mit den Waffen seiner Tausendschaft die Gegner vernichtet hatte, war doch ganz gleichgültig. Zweihundert Vorhäute toter Philister sind in jedem Falle ein angenehmes Hochzeitsgeschenk. Der König sollte nun doch endlich aufhören mit diesem fortwährenden Nörgeln und Herumzerren an dem geschickten jungen Manne. Jahves Gunst war offenbar mit ihm – so sagten auch die Priester. – Wirklich, der König wurde immer unbegreiflicher – man könnte – man müßte – das war ja angsterregend – solche Launen und Ungerechtigkeiten konnten sich schließlich wie heute gegen David so morgen gegen einen andern richten – ja gegen mich selbst–… (Gott behüte, Gott behüte, Gott behüte–…)

Mit einem furchtbaren Blick sah Saul sie an. Ah, er kannte sie, er schmeckte ihre feige Angst, ihres Herzens Beben, die feile Liebedienerei, die neidische Sorge um den eigenen Platz, um die eingebildete Würde. Er sah sie vor sich kriechen um seine Gunst und gleichzeitig emsig suchen und schielen nach etwa neu aufglänzenden Sternen. Wie hatte er einen Augenblick glauben können, hier Hilfe oder auch nur Verständnis zu finden. Jäh stand er auf, sein Zorn schlug in Verachtung um. Schwer lastete auf ihm der Fluch des Königtums: die eisige Einsamkeit des Thrones. Jonathan berief er zu sich. Der mußte ihn begreifen, mußte die Schmach, die dem Vater und der Schwester und ihm selbst angetan war, empfinden wie er selbst. Hier konnte der Sohn ihn nicht im Stiche lassen. Davids Tücke war stärker als jeder Treueschwur. Und er mußte einsehen, daß dieser hinterlistige, streberische, verschlagene Mann aus Juda hinter seiner niedrigen Stirn, unter seinen roten Haaren Pläne wälzte gegen das Leben aller aus Sauls Geschlecht. Es ging nicht nur um die Rache für die verletzte Ehre, es ging um Macht und Krone. Auch um Jonathan selbst. Um seine Zukunft und sein Erbe.

Des Prinzen unverrückbar rechtlicher Natur gefiel Davids Schlauheit in Liebessachen gar nicht. Aber wenig bekümmerte ihn die eigene Gefährdung. Tief durchdrungen von der Bedeutung des königlichen Amtes und in der Bescheidenheit seiner vornehmen Seele empfand er die Möglichkeit, daß David einmal an seiner Stelle König werden könnte, nicht so niederschmetternd und aufwühlend, wie Saul geglaubt hatte. König sein – das hieß der Tapferste, der Lauterste, der Tüchtigste und Gewissenhafteste des ganzen Volkes sein. Der Zufall der Zeugung bedeutet nichts, Eignung und Gesinnung alles. Wie Saul als Bester auserwählt und durch die Gottheit bezeichnet war, so mochte es auch bei seinem Nachfolger vor sich gehen. David war klüger, frömmer, im Kriege erfolgreicher als er selbst. Sollte das Volk einst ihn zum Könige wählen, so würde er, Jonathan, neidlos und ohne Bitterkeit als erster ihm huldigen und dienen. Das waren Fragen der Zukunft. Jetzt aber drohte dem Blutsbruder Gefahr. Da gab es kein Überlegen und Abwägen. Da hieß es, ihm zur Seite stehen. Gegen jedermann, selbst gegen den König und eigenen Vater.

Er warnte David, riet ihm, sich zu verbergen, bis es gelungen, den Zorn Sauls zu besänftigen. Und David folgte dem guten Rat schleunigst. Noch einmal vermochte Jonathan den Vater umzustimmen, er erinnerte an alles Gute, was David getan: an Goliath, an die Philisterkämpfe. Noch einmal machte er den König innerlich schwankend und rang ihm das Versprechen ab, den Freund zu schonen. Dann erst ließ er ihn kommen und war glücklich, die beiden Männer, die er zärtlich liebte und die seinem Herzen am nächsten standen, zu versöhnen. Es traf sich auch gut, daß gerade wieder ein Einfall der Philister gemeldet wurde. David mußte mit den Truppen ins Feld. Als er aber heimkehrte, wurde es schlimmer als je. Nun hinterbrachte man Saul, daß er schon offen dem Volk schmeichelte und um seine Gunst buhlte. Die Frömmigkeit, die er bei jeder Gelegenheit zur Schau trug und im Munde führte, rühmten die Priester allenthalben, und sie gewann ihm die Herzen der Frauen. Sauls Haß brach unzähmbar aus. Wieder schleuderte er den Wurfspeer, aber wieder gelang es David, der stets auf seiner Hut war und auf jede Bewegung des Königs merkte, schnell auszuweichen und aus dem Palast zu flüchten. Aber jetzt stand Sauls Entschluß fest: David mußte sterben. Er hoffte schnell mit ihm fertig zu werden, noch in derselben Nacht sollte er sich selbst töten oder umgebracht werden; doch entkam er dank Michals, seines Weibes, Hilfe. Dies traf Saul besonders schwer, denn auf seiner Tochter Anhänglichkeit hatte er am höchsten gebaut. Nun hatte David auch das letzte ihm genommen; Michal wurde verbannt und der König setzte die Verfolger auf die Spur des Geflohenen. Es war nicht schwierig, sie zu finden. Nun, da David durch Verstellung und stilles Abwarten nichts mehr zu erhoffen hatte und der Zwiespalt mit Saul nicht mehr zu verkleistern war, bekannte er seine Farbe. Er begab sich sofort nach Rama, zu Samuel, mit ihm Rats zu pflegen.

Die Sache stand nicht zum besten. Der Bruch war zu früh gekommen. Das Ansehen des Königs war noch nicht genügend untergraben; darüber ließen die Geheimberichte der Priester keinen Zweifel. Ein offener Aufstand versprach keine Erfolge. Neue Kriegsvorbereitungen der Philister waren gemeldet und die Angst des Volkes vor dem Erbfeind war zu groß, als daß man wagen konnte, jetzt den Bürgerkrieg zu entfesseln. Selbst im Süden war der Gedanke der Reichseinheit, besonders bei den einfachen Leuten, bis in den niederen Klerus hinein, noch zu fest verwurzelt. In Rama durfte David nicht verbleiben, das war für alle zu gefährlich. Die beste Karte im Spiel war die unverbrüchliche Treue Jonathans. Vielleicht gelang es auf diesem Wege, noch einmal zu einem Waffenstillstand mit Saul zu gelangen; wo nicht, mußte dies Unterpfand einer guten künftigen Entwicklung wenigstens sorglich bewahrt werden. Die geheime Verbindung der beiden Schwäger wurde schnell herbeigeführt. Sie trafen sich, und Jonathan beruhigte David, der vorgab, er befürchte den Verlust auch seiner Freundschaft. Er erneuerte Blutschwur und Treugelübde und versprach, noch einen Versuch zu machen, den Vater zu besänftigen. David sollte in genau verabredeter Weise Botschaft erhalten.

Der Plan mißglückte. Jonathan vermeldete Saul, David habe sich zu einem Stammesopfer nach Bethlehem begeben. So hatte David es ihm aufgetragen. Dies schonte Samuel und mußte gleichzeitig klären, ob der König noch einmal zu beruhigen war oder nicht. Saul erzürnte auf das heftigste. War die Angabe richtig, so war es für ihn ein weiterer Beweis, daß David das Schlimmste plane und seine Heimatstadt und ganz Juda zum Aufruhr entfachen wollte. Sprach Jonathan die Unwahrheit, so war er mit David im Bunde und womöglich seiner bösen Absichten teilhaftig. Er wandte sich mit wilden Worten gegen den Sohn und wurde, als dieser sich und David zu verteidigen suchte, beinahe tätlich gegen ihn. Nur eiliger Aufbruch Jonathans verhinderte das Äußerste.

Betrübt gab er David nach seinem Versteck das verabredete Zeichen. Auf eine mildere Stimmung des Königs war also nicht mehr zu rechnen. Nun blieb nichts mehr als weitere Flucht. Noch einmal trafen sie zusammen. Der Abschied war sehr schmerzlich. Und zum ersten und letzten Male kam es über David, ob er nicht falsche Wege eingeschlagen. War das, was dieser großherzige und edelsinnige Mann ihm gewährt hatte und noch schenkte, nicht mehr wert als der Glanz einer Krone? Hätte er sich nicht genügen lassen sollen, einst an seiner Seite zu wirken, in brüderlicher Vertrautheit, in gemeinsamer Arbeit zum Wohle des Vaterlandes? Waren Ehrgeiz und Priesterrat nicht schlechte Führer gewesen? In Not und Ungewißheit, ins gehetzte Elendleben und vielleicht in den Tod trieben sie ihn. Er weinte bitterlich, voll Mitleid mit sich selbst, und erwiderte ehrlich die Küsse und Beteuerungen des Bruders. Ein wenig tröstete seinen Schmerz, daß der Prinz für jetzt und für alle Zukunft für sich und seine Nachkommen das heilige, unverletzbare Gelübde wiederholte. Denn Jonathan hatte David lieb wie seine Seele. Was Gutes in David war, erhob sich zur Reinheit in dieser Stunde; schlackenfrei und Jonathan gegenüber der edelsten Vorsätze voll, riß er sich endlich von ihm los.

Zunächst mußte er Zehrung und Waffen sich besorgen und mit den Parteifreunden im Lande Fühlung nehmen. Der Mittelpunkt der judäischen Priesterschaften war die Stadt Nobe. Dort befand sich ein großes Heiligtum Jahves mit eigener Orakelei und das Priesterseminar. David eilte hin und fand bei dem Vorsteher der Schule, dem Priester Ahimelech, beste Aufnahme. Er gab ihm Brot aus den heiligen Vorräten des Tempels und die dort aufbewahrten Waffen des Goliath. Für den Fall, daß Saul von dieser Unterstützung erfuhr, wurde eine Ausflucht ersonnen. Ahimelech sollte sagen, David habe sich als im Eildienste des Königs befindlich ausgegeben, er habe von dem Zerwürfnis nichts gewußt und dem General und Schwiegersohn des Herrschers Glauben geschenkt. Diese Vorsicht war weise, nutzte aber nichts. Saul erhielt in der Tat von dem Besuche Davids in Nobe sofort Kenntnis. Der tüchtigste seiner Polizeibeamten, Doëg, ein edomitischer Detektiv, hatte richtig gemutmaßt, wohin David sich wenden würde, war schon in Nobe, als er eintraf, und beobachtete alle Vorgänge. Den Fürsten zu verhaften, wagte er nicht angesichts der Macht der Priester, von denen die Stadt lebte. Er kehrte vielmehr nach Gibea zurück und erbat weitere Verhaltungsmaßregeln. Saul war verstimmt, daß David entronnen war, aber wenigstens hatte er nun den erwünschten Beweis seines Komplottes mit den Priestern. Vielleicht konnte ein gewaltiges Strafgericht die aufflackernde Empörung noch ersticken, wo nicht, war offene Feindschaft besser als das schleichende Übel. Jetzt glaubten auch seine Untergebenen endlich an die geheime Verschwörung der Reaktion. Sorge ergriff die Gemüter. Vom Sohne Isais hatten sie keine Ämter und Titel und Ehrengaben zu erwarten. Der König lud Ahimelech zur verantwortlichen Vernehmung, hörte sein Entschuldigungsmärchen an, wies es als unglaubhaft zurück und verurteilte ihn und seine Genossen zum Tode. Da die Hebräer die Hinrichtung der Priester vorzunehmen scheuten, befahl er sie dem Doëg an, der sie auf dem Hügel von Gibea unter einem Baum enthauptete, fünfundachtzig an der Zahl. Ehe der Schrecken über dieses Blutbad noch Zeit fand Abwehr zu sammeln, fiel Sauls Garde über Nobe her, tötete die Einwohner, vernichtete ihre Habe und zerstörte bis auf die Grundmauern das jüdische Priesternest, das Saul als eine der schlimmsten Quellen der Volksverhetzung haßte. Nur dem Sohn des Ahimelech, dem Priester Abjathar, gelang es, zu entkommen und auch noch den Orakelapparat zu bergen. Er flüchtete selbstverständlich zu David.

Dieser hatte sich zunächst in die kleine Bergfeste Adullam geworfen. Hier, inmitten des schwer zugänglichen jüdisch-kanaanitischen Randgebirges, fühlte er sich am ehesten in Sicherheit. Seine Sippen stießen eilends zu ihm, da sie befürchteten, in ihrer offenen Stadt Bethlehem von Sauls Leuten ausgehoben und bestenfalls als Geiseln gehalten zu werden. Die betagten Eltern geleitete David über den Salzsee zum König der Moabiter, von dem er für sie Asyl erbat und erhielt. Für Frauen und Greise waren in Adullam keine Bequemlichkeit und kein Platz. Dafür aber stellten sich die judäischen Desperados zahlreich ein. Männer, denen der Schuldbüttel auf den Fersen saß oder die sonst Anlaß hatten, die Gerichtsstätten zu meiden, auch Abenteuerlustige – verwegene Gesellen, die nichts mehr zu verlieren hatten und, selbst vogelfrei, von der Gemeinschaft mit den Verbannten nur Vorteil erlangen konnten. Es war nicht gerade das Ideal einer Gefolgschaft. Aber David hatte keine Auswahl. Nachdem sich vierhundert versammelt hatten und Adullam zu eng geworden war, wagte er es, in die judäische Ebene zu ziehen und im großen Walde von Herath sein Lager aufzuschlagen. Dort stieß Abjathar zu ihm und wenigstens half sein Eintreffen, die unruhige Bande zu zügeln. Nun lag Priesterweihe und göttliche Hilfe über ihnen, und der Massenmörder Saul, der in geweihtem Blut gerast hatte, mußte der Strafe des Höchsten anheimfallen. Wenn aber seine Galgenvögel allzu aufsässig wurden, dann zähmte David ihre abergläubischen Sinne mit einem probaten Mittel. Abjathar ließ den Orakelkasten klappern, verkündete, was der Führer für geboten hielt, und versetzte sie in Furcht und Schrecken. Auf diese Weise überwand er auch den Widerstand gegen den Befehl, der von den Philistern bedrohten Stadt Kegila zu Hilfe zu kommen. David hielt es für wünschenswert, weil ihm das Geldmittel und weitern Anhang in Judäa verschaffen konnte. Auf die Dauer konnte er sich auf die minderwertigen Elemente, die sich zunächst eingefunden hatten, nicht verlassen. Diese fühlten sich wiederum nur in ihren Wäldern einigermaßen sicher. Das Orakel sprach aber gegen sie, der Zug wurde unternommen, glückte auch, Kegila wurde befreit. Aber Davids Schildknappen hatten mit ihren Besorgnissen doch nicht ganz unrecht. Kaum hatte Saul erfahren, daß David sich aus seiner unzugänglichen Wildnis herausgewagt hatte, als er sofort Mannschaft entbot, um ihn in Kegila zu überfallen und zu fangen. David, rechtzeitig gewarnt, trug sich einen Augenblick mit dem Gedanken, den Kampf aufzunehmen. Gestützt auf seine Anhängerschar, die durch weiteren Zuzug sich auf sechshundert Mann erhöht hatte, konnte er sich in der Stadt verschanzen und durch Ausfälle der Truppe Sauls Schaden tun. Vielleicht würde das den lang ersehnten Losbruch des Südens beschleunigen. Aber er ließ den Plan doch fallen. Die Kegilesen waren nicht zuverlässig genug, es bestand die Gefahr, daß sie ihn auslieferten, um Frieden mit dem König zu haben. So wandte er sich von der Stadt ab, und da der Rückweg nach dem Waldgebiet durch Sauls Heer verlegt war, schlug er sich notgedrungen in die kulturferne, große, streckenweise sandverwüstete Heide Siph.

Dort am Hügel Hachila, seinem Hauptquartier, traf er noch einmal mit Jonathan zusammen. Nichts hatte der ernste und gerade Mann unterlassen, das Schicksal des Freundes zu wenden. Aber Saul ließ sich nicht erweichen. So konnte er nur mit eigener Lebensgefahr ihn noch einmal aufsuchen, um ihn über das schwere Unglück, das ihn betroffen, zu trösten. Er brachte ihm die Kunde, daß Saul trotz der Verkommenheit, in die er ihn gejagt, ihn fürchtete und im Innersten überzeugt war, daß schließlich David triumphieren würde. Das hob dessen Mut und den seiner Anhänger erheblich, und dies war nötig, denn es ging ihnen zur Zeit sehr schlecht. Wäre David einer Regung der Scham fähig gewesen, so hätte er sie angesichts dieser fast einfältigen Charaktergröße empfinden müssen. So hoch und heilig war für Jonathan der Begriff der Freundschaft, daß er sein eigenes Schicksal und seinen eigenen Aufstieg ausschaltete, um des Freundes willen. David stand vor einem ihm unlösbaren Rätsel; diese Welt war nicht die seine. Jonathans Güte war aber auch gegenüber einer niedrigen Natur überwältigend, sonst hätte David bei sich über den verstiegenen Phantasten und Ideologen, diesen Fanatiker der Menschenliebe und Mannestreue nur gelächelt. Statt dessen empfand er eine gewisse Rührung, wenn auch der waghalsige Besuch des Schwagers ihm keinen unmittelbaren Nutzen brachte. Er nahm die erneuten Gelübde willig entgegen und verabschiedete sich herzlich von ihm. Es war der Abschied fürs Leben. Jonathan und David sahen sich nie mehr wieder.

Waffen, Geld, Männer oder ein wenig Verrat an Saul, dem Vater und König, wären allerdings noch schöner gewesen als die erhabene Gesinnung. Die Not war groß. Die faulen Hunde in Judäa rührten sich nicht, wollten absolut vom Reiche nicht abfallen. Die Versprechungen der Priester waren leeres Stroh gewesen; ihre Gebete und Prophezeiungen hatten nichts geholfen, seine Burschen murrten und das friedliche Heidevolk, die Siphiten, empörten sich darüber, daß sie von ihrer Armseligkeit auch noch die eingedrungene und durchaus nicht anspruchslose Schmarotzerschar ernähren sollten. Sie wurden widerborstig und feindselig und verrieten Davids Aufenthalt und Schlupfwinkel an Saul.

Freudig und dankbar nahm der König ihre Boten auf, befahl ihnen, weiter alles aufs genaueste zu erforschen, und machte sich in aller Stille selbst mit seinen Vertrautesten und zuverlässigsten Trabanten auf. David bekam aber doch Wind, entzog sich rechtzeitig der drohenden Umzingelung und entkam in das Hügelland der Wüste Maon, in die die Heide von Siph auslief. Aber auch hierhin folgte ihm die Jagd. Rasch teilte Saul seine Truppen, umging die Berge und schnitt dadurch David von weiterem Ausweg ab. Enger und enger schob sich die tödliche Schlinge zusammen. Die Davidsbündler saßen, ohne Aussicht zu entkommen, ohne Nahrung, und was das furchtbarste war, ohne sich Wasser beschaffen zu können, fest in der Falle. Und kein Orakel zeigte einen Ausweg.

In diesem Augenblick erreichte Saul die Botschaft, daß die Philister mit nicht unbeträchtlichen Kräften losmarschierten. Da gab es kein Besinnen; der Erbfeind war die höchste Gefahr. Saul ließ die Verfolgung abblasen, vereinte seine Truppen und zog im Eilmarsch zurück, den Philistern entgegen. David war wie durch ein Wunder noch einmal davongekommen. Schleunigst zog er aus Maon fort in den unwegsamsten Teil des Landes, das Gebirge von Engedi. Dies Karstgebiet mit seinen weiten unheimlichen Höhlen, tief eingerissenen Schluchten, seinen Kletterfelsen und dem unbarmherzig in der Sonne dörrenden Schotter, Zufluchtsort wilder Bestien und Raubvögel, von Menschen gescheut und gemieden, schien dem Gehetzten ein Obdach zu bieten. Aber selbst dahin wandte sich des Königs zäher und verbitterter Wille zur Vernichtung. Er begnügte sich, die Philister schnell zu verscheuchen, verschob die weitere Auseinandersetzung mit ihnen auf ein andermal und kehrte auf Davids Spur zurück, gieriger und unerbittlicher Jäger auf der Menschenhatz. Nur junge und berggeübte Mannschaft nahm er mit. Diesmal sollte es unter allen Umständen zu Ende kommen; die Übermacht war eine fünffache. Ein ernster Widerstand war von den verhungerten, schlecht gerüsteten, durch die fortgesetzte Flucht demoralisierten und entmutigten Parteigängern Davids nicht zu erwarten. Man konnte ihn zudecken und totschlagen wie einen tollen Wolf in der Grube. Unermüdlich folgten sie, durch das Felsgewirr, über Gemssteige kriechend, Türme, Zinnen, Kamine durchkletternd, auf schmalen Bändern, Geröllhalden, verwitterndem Gestein sich langsam vorwärtsschiebend. Keine Spalte, keine Klüfte blieben unbesichtigt. Es war das schönste Vergnügen, beseligende Lust – der Mensch jagt den Menschen. Der höchste Eifer hatte alle ergriffen, diesen Mann, den sie vor kurzem noch als ihr Ideal gefeiert und verhimmelt hatten, zu fassen, in die Tiefen zu schmettern, in den salzigen Tod des Verdurstens zu treiben – das Sportfieber brannte in ihrem Blut. Es sang sein fröhliches und herzerfrischendes Horrido!

Mittag glutete auf dem Stein; David mußte ganz in der Nähe sein; das verrieten deutlich die Spuren. Er konnte nicht mehr entrinnen und es hatte wohl Zeit, sein Schicksal zu vollenden. Die Hitze war gar zu unbarmherzig. Saul wollte sich und seiner Umgebung Rast und Kühlung gönnen. Man lagerte sich in einer der tiefen Höhlen, ziemlich vorn am Eingang, um auf jeden Alarmruf der ausgestellten Wache munter und bereit zu sein. Ein Überfall war ausgeschlossen, das konnte David mit seinen erschöpften Leuten nicht wagen, aber der Krieg fordert Wachsamkeit.

Die Höhle war hoch gewölbt, leer von Raubzeug, wie die flüchtige Durchspähung zeigte. Skorpione und Schlangen vertrieb der Lärm der Eindringenden und schnell über den Boden gefegter Fackelbrand. Saul und seine Begleiter, darunter der Generalfeldmarschall Abner, verfielen alsbald in den tiefen mittäglichen Schlaf der Erschöpfung.

Was sie aber nicht entdeckt hatten, war, daß die Höhle hinten, wo eine Felswand sie völlig abzuschließen schien, sich noch fortsetzte und verzweigte. Ein dem Ortsunkundigen kaum erkennbarer schmaler Riß erweiterte sich bald zu einem Gewölbe. Und in dieser Nebenhöhle saßen David und seine Getreuesten.

Sie hatten die Ankömmlinge beobachtet, verhielten sich still, solange die vorn tätig waren, jetzt aber, da die Atemzüge der Eingeschlummerten es gestatteten, erhob sich ein emsiges Flüstern. Davids gehetzte und verzweifelte Leute, vor allem seine Vettern Abisai und Joab, drängten ihn, er solle den König im Schlafe töten. Vielleicht erschreckte dies seine Krieger so, daß sie, ohne allzuviel zu forschen, abzogen. Wenn nicht, wenn sie den weiteren Zugang entdeckten – nun so war das Ende gekommen, das ja ohnehin unvermeidlich war.

David rang lange mit sich. Nie hatte er in so schwierigem Zwiespalt gestanden. Die Ermordung Sauls befreite ihn von dem Todfeind, und wenn er selbst dann zugrunde ging, so starb er wenigstens nicht ungerächt. Auch bestand die schwache Möglichkeit, daß er die des Führers beraubten Soldaten Sauls, von denen wohl mancher einst unter seinem Kommando gestanden hatte, auf seine Seite bringen konnte. Aber was später? Die Tat setzte ihn der unversöhnlichen Blutrache der Sauliden, ja des ganzen Stammes Benjamin aus. Selbst Jonathan mußte den Mord des Vaters an ihm zu sühnen suchen, so gebot es die älteste, ehrwürdig festgehaltene Sitte. Daß er von den Nordstämmen zum König gewählt würde, war ausgeschlossen, wenn er durch die Tötung des Vornehmsten in Israel sie herausforderte. Und selbst in Juda konnte solche Tat eine sehr unerwünschte Wirkung haben. Man konnte sich daran stoßen, daß David an dem Gesalbten des Herrn, also an der, nach der tief religiösen Vorstellung der Judäer vom Gottesgnadentum, unverletzlichen Majestät sich vergriffen hatte. Daß es nicht in offenem Kampf geschehen, sondern im Frieden des Schlafes, mußte ihm zudem die Sympathien auch solcher Leute rauben, die, ohne sich viel um Politik zu kümmern, doch auf tapfere und anständige Gesinnung oder den geruhigen Schlummer des Bürgers Wert legen.

Nein, alles in allem überwogen die Nachteile die Befriedigung der Rachsucht. Den Luxus unkluger Leidenschaft durfte ein Saul sich vielleicht gestatten. Nicht ein David. Er lehnte alle Aufforderungen seiner hitzigen Freunde ob, unterdrückte die eigene Begierde und sann darauf, wie er aus der verzwickten Lage Vorteil ziehen könne.

Dies schien ihm schließlich das ratsamste. Er kroch in die vordere Höhle, schnitt dem schlafenden Saul einen Zipfel des Mantels ab, womit er symbolisch dartat, daß er die Gewalt über die Person des Herrschers in der Hand gehabt hatte, und schlich sich ganz leise zurück. (Späterhin behaupteten ausschmückende Verherrlicher Davids, daß er auch Sauls Speer und Wasserschale an sich genommen habe. Byzantinische Hofpoeterei kann sich eben nie genug tun in schmeichlerischer Übertreibung. Der strenge Geschichtschreiber empfindet nur Ekel vor solcher Speichelleckerei und verwirft die Färbung der Ereignisse zur höheren Ehre von Fürsten durchaus. Ihn reizt kein Orden – auch bekommen ihn ja doch immer nur die andern – genug, es war nur der Zipfel des Mantels und nicht mehr!) Dann gebot er den Seinen, sich weiter ruhig zu verhalten, und wenn sie auch sein Vorhaben nicht verstanden noch billigten, so war doch das Vertrauen in seine Klugheit auch jetzt noch so stark, daß sie blindlings gehorchten.

Erfrischt sprang Saul in der Abendkühle auf und verließ mit dem Gefolge die Höhle. Man hörte, wie sie sich entfernten, folgte ihnen vorsichtig und beobachtete, wie sie in die tiefe Schlucht hinab und den gegenseitigen Abhang hinaufkletterten.

Nachdem die Entfernung sich hinreichend vergrößert hatte, trat David vor die Höhle und rief Saul an. Die Gefahr schien größer als sie war. Ein Speerwurf oder Bogenschuß konnte ihn nicht treffen, dazu waren sie zu weit auseinander; auch brach die Dunkelheit schnell herein. Seinen Aufenthalt durfte er verraten. Lange konnte er doch nicht mehr verborgen bleiben, und schlug das kühne Unternehmen fehl, so blieb ihm noch die Nacht zur weiteren Flucht.

Und er konnte alles gewinnen. Denn wenn die geübte Schonung Sauls Herz nicht rührte, so durfte David doch des vollen Eindrucks auf seine Gefährten sicher sein, besonders auf die Vornehmsten, die mit in der Höhle gewesen waren und mit in Todesgefahr geschwebt hatten.

Auch diesmal handelte David in allem klüglich. Er warf sich auf den Boden nieder, zeigte Saul den Fetzen seines Mantels und sagte an, was er getan und daß er dem Rate, ihn zu erwürgen, nicht gefolgt war. Und er jammerte herzzerreißend und fragte kläglich, warum Saul ihn denn hasse und verfolge. »Wer bin ich? Ein Nichts – hilflos, ungefährlich, unwürdig deiner Beachtung, kein Gegenstand für den Zorn des Herrschers. Wem ziehst du nach, König von Israel? Einem toten Hunde? – einem Floh?« Es war ein erbarmungswürdiges Schauspiel. Aber auch sehr erbaulich für alle Gutgesinnten und braven Vertreter hoher Bürgertugend. So muß Hochmut zu Fall kommen. Da lag der Mann vor ihnen im Staube, der in trunkenem Schwunge sich erhoben hatte über sie alle, der, reich, jung, schön, geliebt, geehrt, gefürstet auf dem Gipfel der Macht und des Glücks gestanden hatte, jetzt zerlumpt, von der Wüstensonne verbrannt, von den kalten Winden der Nacht durchfrostet, abgemagert durch Entbehrung und die Hetze, mit struppigem, ungepflegtem Haupthaar, kaum erkennbar in dem wilden Bart, der ihm gewachsen war – ein Nichts, ein Niemand; wirklich ein toter Hund, der keinen mehr beißen kann. Ein Ungeziefer, das man mit einem Fingerdruck, mit einem Fußtritt verächtlich zerquetscht. – Es war sehr traurig, aber auch höchst moralisch; erhebend für alle Gerechten, die nicht auf bösen Wegen wandeln, wie dieser dreiste Jude, dem das Schicksal es ordentlich eingetränkt hatte. Es war direkt rührend. Und alle weinten.

Selbst Saul – wohl zum ersten Male in seinem Leben. Die ganze Sinnlosigkeit und Zwecklosigkeit aller menschlichen Anstrengungen, allen irdischen Strebens ging ihm auf angesichts der Demut und Selbsterniedrigung, die David vor ihm in die Knie zwangen. Daß er ihm jetzt nichts antun konnte, war ihm sofort außer Zweifel. Der Mann, der den Feind verschont hatte, blieb für diesmal unverletzlich. Hätte David, hätte irgendwer den König beschämen und an Großmut übertreffen sollen? Mochte auch nicht Edelsinn, sondern kluge Berechnung David zu seinem Tun und Lassen bewogen haben – die Tat sprach, nicht das Motiv. Saul hob sofort die Verfolgung auf und verkündete David, er könne frei gehen, wohin er wolle. Er selbst kehrte nach Gibea zurück, schwermütiger als vordem. Wenn er auch nicht an Vorzeichen glaubte, so bedrückte ihn doch, daß er so nahe dem Ziel umkehren mußte. Und nicht aus äußerem Zwang, sondern aus innerem. Sie waren Gegner gewesen, hatten miteinander gerungen, jeder auf seine Art, jeder mit seinen Waffen, offen und geradezu er selbst, mit allen heimlichen Kniffen und verdeckt der andere. Und doch hatte er ihn nicht fällen dürfen. Waren sein Leben, seine Weltanschauung, seine Überzeugung falsch? Lagen die Begriffe gut und böse nicht so einfach, wie er angenommen? Oder konnte es sein, daß die Gottheit, daß das Glück sich für das Schlechte entschied? War nicht in Wirklichkeit er der Verfolgte, Gejagte, der im Staate und in seinem Hause immer einsamer wurde? David hatte, als er in der Felsenwüste vor ihm sich beugte, sich gerade dadurch über ihn erhoben. War nicht der Sieger, sondern der Besiegte der Stärkere? Nicht der Mächtige, sondern der Geringe? – Über Saul war der schlimmste aller Dämonen gekommen, der aushöhlende und auflösende, der Zweifel. Und dies war der Abschied, der von David zu ihm herüberstrahlte. Denn im Höhlengebiet von Engedi war es das letztemal, daß Saul, der Mann, der jäh mit dem Speer warf und fehlte, und David, der Mann, der bedachtsam mit der Schleuder zielte und traf, einander Auge in Auge blickten.

Aber der Zweifel hinderte Saul nicht, das weiterhin zu tun, was er für seine Königspflicht erachtete. Hatte er auch am Körper Davids Gnade geübt, so gab es keine Milde für die Idee, die er vertrat. Das Vaterland über der Partei, die Reichseinheit über allem. Unerbittlich ging er gegen die bedrohlichen Strömungen vor, bekämpfte die Reaktion mit allen Mitteln, machte ihre Anhänger heimatlos, löste die Priestervereinigungen als volksgefährlich auf und verbot alle volksverdummenden Auswüchse der Religion, besonders das Wahrsagen und Zeichendeuten bei Todesstrafe. Den Hauptschlag aber zu führen, den Jahvekult auszurotten und das Hohepriesteramt abzuschaffen, ersparte ihm Samuels Tod. Unversöhnlich und unversöhnt ging er dahin. Bis zuletzt hatten die Gegner des Königs an ihm und in seiner Stadt Rama Zuflucht und Stütze gefunden. Hier blieb der Mittelpunkt aller Umtriebe der sogenannten Patrioten. Sein Heimgang war der schwerste Schlag für sie. An die Wahl eines Nachfolgers wagte niemand zu denken. Das hätte Saul nie zugelassen. Die Sache der jüdischen Separatisten und Anhänger der Wiedererrichtung eines Priesterstaates schien gänzlich verloren, sie war ihrer Führer beraubt. Samuel? – Zu den Vätern versammelt. David? – Niemand wußte genau, wo er weilte. Nobe zerstört, die dortigen Priester tot, andere in alle Winde zerstreut, ohne Zusammenhang, mißachtet, vergessen wie die heilige Bundeslade, die Saul in betonter Geringschätzung in irgendeinem Winkel Judas verfaulen ließ, nachdem die Philister sie freiwillig zurückgeschickt hatten. Wo ist deine Macht, Jahve-Jehova? Wo ist die Kraft deiner rächenden Hand, Zebaoth? Wie lange willst du zuschauen, daß es deinen Dienern im kurzen Rock und allen Anbetern des wahren Gottes auf Erden so herzlich schlecht geht? David, du Hoffnung aller Orthodoxen und wahrhaft Frommen, Säule des Glaubens, der du die Knechte des Herrn wieder einsetzen solltest in ihre Gerechtsame, Pfründen und Gülten, der du den oberen Zehntausend wieder soziales Ansehen und Sicherung ihres Besitzes und die Bevorzugung in Ämtern und Würden verschaffen solltest – auf die sie nach ihrer Behauptung und dank der Beschränktheit der niederen Masse einen unverjährbaren Rechtsanspruch haben – David, o David, was treibst du? Wo bist du?

Nach dem Zusammentreffen mit Saul verhielt er sich ganz still. Er durfte das Mißtrauen des Königs nicht von neuem wecken; sein Fähnlein war zersprengt, abgerissen – und es fehlte völlig an Geld. Er sammelte die Seinen notdürftig und überlegte in Erwartung besserer Gelegenheit, wie er sich Mittel verschaffen, seine Leute beschäftigen könnte. Auch wollte er sie nicht ganz aus der Übung des Kriegshandwerks kommen lassen. Sein findiger Geist fand bald das einzig Richtige. Er wurde Räuberhauptmann. Bisher hatte er zwar gelegentlich auch schon mit Gewalt ein wenig nachgeholfen, wenn man ihm nicht freiwillig gab, was er begehrte. Jetzt aber brachte er das edle Gewerbe in ein wohlgeordnetes System.

Das Gebiet von Maon, wo er schon einmal geweilt hatte, schien ihm am geeignetsten. Hier liefen die alten Karawanenstraßen durch, von Südosten aus der Wüste Pharon und südwestlich von Ägypten her durch die Wüste Sur. Reiche Beute konnten rasche, entschlossene Männer den ermüdeten Wanderern abzwingen. Zogen sie es nicht vor, Tribut für Bedeckung gegen andere Horden und für Durchzug und Geleit zu gewähren, so durften sie sich nicht beklagen, wenn das Recht der Stärkeren ihnen wirksam eingeprägt wurde. Immerhin waren diese Einnahmequellen zufällig und schwankend. Den regelmäßigen Bedarf mußten die Viehzüchter in den kleinen Flecken am Rande der Wüste decken. Man übernahm den Schutz ihrer Herden und Hirten gegen Überfälle. Und wenn auch die meisten meinten, die einzig drohende Gefahr sei die Räuberbande Davids selbst, so zahlten sie doch die verlangte Versicherungsprämie mit guter Miene, um kein böses Spiel zu erleben.

Eine Ausnahme versuchte nur der begütertste zu machen, ein Besitzer stattlicher Viehmengen, zugehörig dem den Hebräern noch nicht ganz assimilierten kanaanitischen Stamme Kaleb. Ein aufgeblasener, auf seinen Reichtum und die große Zahl seiner Sklaven pochender und vertrauender Mann. Alle benannten ihn nur mit seinem Spitznamen, Nabal, »der überaus Törichte«. Die Berechtigung dazu zeigte sich auch in seinem Verhalten zu David. Als dieser zum Fest der Schafschur Boten sandte und mit dem Hinweis, daß er das ganze Jahr hindurch seinen Hirten sich freundlich erwiesen und von seinem Vieh nichts gestohlen hatte, eine Abgabe erbat, vermochte Nabal das Berechtigte des Verlangens und die große Anständigkeit Davids nicht zu erkennen. Sein schwerfälliger Geist begriff es nicht, daß er dafür bezahlen sollte, daß man ihn nicht geplündert und gebrandschatzt hatte, und er wies die Gesandtschaft des Scheichs reichlich unhöflich ab. Das durfte natürlich nicht geduldet werden. Solche Ablehnung einer freundschaftlichen und bescheidenen Forderung konnte böses Beispiel geben. Alle sechshundert Mann mußten antreten; der dritte Teil blieb zur Bewachung des Lagers zurück – denn es gab noch anderes Raubgesindel in der Nähe, der Rest sollte Karmel, den Wohnort des Nabal, überfallen und diesem dickschädligen Bauern Respekt vor David und seinen Trabanten beibringen. Ging hierbei der Dickschädel in Stücke, so hatte er sich solch bedauerlichen Unfall selbst zuzuschreiben. Aber es kam nicht so weit; denn der dumme Hans hatte glücklicherweise eine kluge Liese zur Frau. Diese, Abigail mit Namen, übersah das Unheil, das ihr Mann angerichtet hatte, fragte den von Festereien ohnehin schwer Bezechten nicht viel, packte an Nahrungsmitteln zusammen, was sich in der Eile nur fand, eilte auf einem Esel vor das Dorf und traf David und seine im Abenddunkel anrückenden Schnapphähne noch zur rechten Zeit. Das reiche Geschenk und die bittenden Augen der schönen Abigail verfehlten ihren Eindruck nicht. Die Heldenschar murrte zwar; sie hatte sich schon sehr auf ein hübsches Freudenfeuer in Karmel gefreut. Aber Davids Befehl zwang sie nach einem Austausch sehr höflicher Reden zwischen ihm und Abigail zur Umkehr. Was die beiden sonst noch miteinander verhandelten, weiß niemand. Jedenfalls aber lohnte der göttliche Segen die klügliche Milde Davids aufs beste. Schon zehn Tage später berief der Herr Nabal, den reinen Toren, zu sich. Er war ein schwerer, zum Schlagfluß neigender Mann. Nichts Auffälliges also an so jähem Tode; keine Spuren, kein Verdacht auf etwaige heilsame Tränklein, die ihm den Wein gewürzt haben möchten. Daß sofort nach seinem Tode David Brautwerber sandte und Abigail ihm bereitwillig als sein Weib in die Wüste folgte, kann auch nicht verwundern. Welche Frau vermöchte dem romantischen Doppelzauber eines Mannes zu widerstehen, der Räuberhauptmann ist und obendrein Tenor?

Abigail schenkte David mit Zerstreuungen süßer Liebeständelei Ersatz für seine Gattin, die herbe Michal, die Saul ihm zur Kränkung anderweit verehelicht hatte. Die Heirat verschaffte ihm daneben auch Reichtum und neue Beziehungen. David blieb auch hier nicht auf halbem Wege stehen. Er legte sich noch einige andere Frauen zu, wobei er Töchter aus den vornehmen Familien der kanaanitischen Nachbarschaft von Juda auswählte. So verband er das Nützliche mit dem Angenehmen. Denn man mußte doch immer der Zukunft gedenken und sehen, wie sich die breite Lücke, die der Tod Samuels bedeutete, auf andere Weise schließen ließ.

Das Wiederaufblühen Davids, die allmähliche Zunahme an Ansehen und Vermögen, die Verbindung mit den Randstaaten blieben Saul nicht verborgen. Und David wiederum erfuhr, daß der Zorn des Königs von neuem erwache. Verdächtige Vorfälle verrieten ihm, daß sein Leben gefährdet war. Was dreitausend ehrenwerte Krieger des Königs in wochenlanger Verfolgung nicht erreicht hatten, das konnte ein gedungener Bravo, womöglich ein feiler Halunke aus der eigenen Mannschaft, in einer Minute oder mit wacker wirkendem Gift in wenigen Tagen vollbringen. Man mußte auch – sollten die Sechshundert für die Stunde der Tat frisch und zuverlässig bleiben – mehr tun, als sie zur räuberischen Landplage erziehen. Nicht nur außerhalb des Gesetzes, außerhalb des Vaterlandes mußte man sie stellen. So tief die Kluft zwischen sie und Israel reißen, daß kein Verrat sie überbrücken konnte. Zudem war das Land ausgesogen, den eigenen Besitz wollte der sorgliche Hausvater nicht gern schmälern. Es galt also wieder einmal den Schauplatz zu wechseln und diesmal so, daß er sich Sauls Macht entzog, die Seinen beisammenhielt, ihnen den Weg zur Rückkehr in die Heimat und in geordnete Verhältnisse abschnitt, sie unlöslich mit seinem eigenen Gedeih und Verderb verband und gleichzeitig eine Atempause erhielt, bis Saul, der wie ein Würgengel gegen die Parteigänger der Priesterschaft und Samuels raste, ausgetobt hatte.

Nach reiflichster Erwägung sagte sich David, daß das Unerwartete und Unwahrscheinliche häufig das klügste ist. Er überschritt die Grenze im Westen und der Philisterschreck und judäische Heros nahm Zuflucht bei dem derzeit die Vormacht der fünf philistäischen Fürsten führenden König Achis von Gath.

Zunächst versuchte er es inkognito. Daß kriegsgewandte Beduinenstämme sich freiwillig zur Landsknechtschaft anboten, war nichts Ungewöhnliches. Aber man erkannte ihn und aus der Todesgefahr rettete ihn nur eine schnelle List. Es gelang ihm, das Mißtrauen des Achis zu besiegen. In der Tat mußte ja der Übertritt gerade zu den Philistern nach menschlichem Ermessen David auf immer von den Hebräern scheiden. Von den inneren Gegensätzen und Zusammenhängen im Reiche der Feinde wußten die Philister nicht genug. Auch war feines diplomatisches Spiel, wie es den Semiten geläufig war, ihrer Geistesart fremd. Achis wies David und seinen Sechshundert den Wohnbezirk von Ziklag an und verpflichtete sie zur Lehns- und Heeresfolge. Man konnte jeden waffenfähigen Mann gebrauchen. Denn die immer noch aufgeschobene große Auseinandersetzung mit den Hebräern stand nahe bevor.

Die göttliche Fügung bewahrte David davor, auf seiten des Erbfeindes gegen die eigenen Stammesgenossen kämpfen zu müssen. Er konnte den Ausgang der kommenden Kämpfe fern vom Kriegsschauplatz abwarten und statt dessen mit den Amalekitern abrechnen, die während einer vorübergehenden Abwesenheit Ziklag überfallen und alles, sogar seine Frauen, als gute Prise mitgenommen hatten. Er jagte ihnen ihren Raub wieder ab, machte große Beute dazu und bekam seinen stattlichen Harem, wenigstens äußerlich unversehrt, wieder. Und während er mit seinen mehr oder weniger angenehmen Privatangelegenheiten vollauf beschäftigt war, vollzog sich das Schicksal seines Volkes. Denn diesmal ging es ums Ganze. Die Heeresmacht der Philister war stärker und besser gerüstet als je. Der Vormarsch von ihrem Versammlungsort Aphek, wo einst Israel vernichtend geschlagen worden war, vollzog sich so überraschend, daß die Ebene Jesreel besetzt und damit ein Keil mitten ins Nordland getrieben wurde, ehe die Mobilisation der Hebräer abgeschlossen war. Trotzdem war ihre Lage nicht verzweifelt, denn es gelang noch rechtzeitig, den Kamm des die Ebene abschließenden Gebirgszuges Gilboa zu besetzen. Der Durchbruch war vereitelt, aber die Stellung war schon wegen der Verpflegungsschwierigkeiten nicht lange haltbar. Saul mußte sich zu einem entscheidenden Stoß in die Vorberge entschließen.

Die Stimmung bei den Hebräern war keine gute. Sie hatten schon in größeren Schwierigkeiten sich befunden, den Mut nicht verloren, waren voll Zuversicht gegen die Übermacht in den Kampf gezogen, hatten durchgehalten und sich mit Ehren aus der Affäre gezogen. Aber da besaßen sie einen Führer, dem sie blind vertrauten. Daran aber fehlte es diesmal. Die Unbegreiflichkeiten Sauls, besonders in seinem Streit mit David, hatten ihm viele Herzen entfremdet, auch schlichte Männer irre gemacht. Die Priesterverfolgungen, die unverhüllte Abneigung gegen den Süden hatten Mißmut erweckt und nur widerwillig, kritisch, nörgelnd und langsam hatten die judäischen Truppenteile sich eingefunden. Sie verdarben die Stimmung und den Kampfesmut auch der anderen. Das ärgste aber war – Saul selbst fehlte der eiserne Wille zum Siege. Seine Anordnungen waren unklar, fahrig, zögernd, einander widersprechend. Und schweren Herzens erkannten Abner, Jonathan und die andern Unterführer, daß der Mann, der einst voller Tatkraft, in einseitiger Geschlossenheit und in unbeugsamer Energie sie zum Siege geführt hatte, jetzt in der Stunde der höchsten Gefahr schwankte, unsicher und dilettantisch und fast ein geistesabwesender Träumer war.

Daß er vor Beginn des Treffens Orakel einholte, war noch begreiflich; das geschah mit Rücksicht auf das Heer; das Unterlassen des alten Brauches hätte einen großen Teil eingeschüchtert. Klug war es trotzdem nicht. Denn daß die plötzlich von ihm heranbefohlenen Priester gar nichts oder nichts Gutes weissagen würden, war zu erwarten und traf auch pünktlich ein. Den Truppen teilte man dies natürlich nicht mit, gab ausweichende Auskunft. Was aber die Umgebung Sauls befremdete und bestürzte, war, daß der König selbst von dem unerfreulichen Ergebnis beeinflußt schien. Dies war in der Tat der Fall. So freigeistig Saul Zeit seines Lebens gewesen war, die letzten Vorfälle hatten ihn verwirrt und mystischen Vorstellungen zugänglich gemacht. In der Nacht vor dem angesetzten Schlachttag fragte er plötzlich, ob nicht ein Wahrsager in der Nähe weile, und begab sich mit nur wenigen Vertrauten nach dem nahegelegenen Flecken Endor, wo eine zauberkundige Frau hauste.

Sie entsprach, von den aufmerksam beobachtenden Lagerpriestern schnell verständigt und über alles Notwendige und Wissenswerte genau unterrichtet, den besten Erwartungen. Mit einem wilden Aufschrei bezeichnete sie den verkleideten und vermummten König mit seinem Namen, ließ sich Straffreiheit zuschwören, da ja auf Wahrsagerei der Tod stand, und begann dann in ihrer unheimlich ausstaffierten Höhle eine feierliche Beschwörung. Samuel hatte der König zu sehen verlangt; wenn schon ein Toter bemüht wurde, so war der alte Gegner doch der ehrlichste unter seinesgleichen. Ihm wurde er zwar nicht sichtbar, so weit reichten die Kräfte der alten Zauberin offenbar nicht hin. Aber sie versicherte, sie selbst erblicke den Geist genau; es sei ein ganz alter Mann im Priestergewand, und er sei bereit, vor den Ohren des Königs sich verständlich zu machen. Eine tiefe und grausig verstärkte Stimme prophezeite alsbald vom dunklen Hintergrund her Tod, Verderben und Gotteszorn, daß man das Gruseln lernen konnte. Und sicherlich konnte es ebensogut Samuels Stimme sein wie die irgendeines andern. Angewidert durch das dumme Gaukelspiel, das er durchschaute, erhob sich Saul rasch und wollte ins Lager zurückkehren. Da er aber in den Vorbereitungen zur Schlacht den Tag über nicht zum Essen gekommen war und nun auch des Schlafes entbehrte, befiel ihn eine Schwäche. Er mußte sich auf dem Bette des Weibes ausruhen und trotz Widerstrebens einen Bissen zu sich nehmen. Der Anfall des Königs beunruhigte seine Begleitung sehr. Einige deuteten ihn so, als ob er die Prophezeiungen der widerlichen alten Hexe irgendwie ernst nahm. Das war nicht der Fall. Aber Ekel und Verachtung vor menschlicher Torheit und Verworfenheit hatten sich in Saul noch gesteigert. Er sah von seinem Zelte aus hinab in das Land, das noch friedlich im Schein der erblassenden Sterne dem nahenden Morgen entgegenruhte. Stand die Sonne über dem Horizont, dann würde das Angriffssignal ertönen und wieder, wie so oft schon, entfesselten sich hüben und drüben der Blutrausch und die Mordgier. Vielleicht wurde zufällig Wahrheit, was das Gespenst von Endor verkündet hatte; vielleicht ging es diesmal auch an sein und seiner Söhne Leben. Und wenn heute nicht, so morgen oder eines andern Tages. Denn wann und wie sollte das Gemetzel je enden?

Drüben stand der Feind – unerbittlich und unaufhaltsam mußte der Krieg mit ihm geführt werden, bis eines der Völker ausgerottet war. Mußte? – Ja, es war der Erbfeind, mit dem es keine Verständigung, keinen Frieden gab. So war es von jeher gewesen, so war es Bestimmung, menschliches und göttliches Gebot. So würde es bleiben in allen Zeiten.

Aber warum eigentlich? War das Land nicht groß genug, ernährte es alle seine Söhne nicht reichlich? Hätte man sich über den Zugang zum Meere nicht ruhig auseinandersetzen können? Die Verschiedenheit der Sprachen, der Religionen, der Sitten ließ sich bei gutem Willen beiderseits überwinden. Vieles hatten die Hebräer den Philistern zu verdanken, sie waren ein feinsinniges, geistesrasches, an Kultur vielfach überlegenes Volk, tapfer und klug. Aber sie verlangten nach der Vormachtstellung in Palästina, begehrten die Herrschaft über das Hinterland, wie die Stämme Israels und Juda nach der Küste. Dies allein machte sie zu haßerfüllten Gegnern – und doch waren beide Völker Eindringlinge im Lande, die die Urbewohner unterjocht und verjagt hatten. Beide waren von fernen, sagenhaften Stätten gekommen. Und daß sie aufeinandertrafen, in der entgegengesetzten Richtung ihrer nach unerforschten unklaren Gesetzen in grauer Urzeit begonnenen Wanderschaft – das allein schuf den Begriff: der Erbfeind.

Sinnlos war das alles – aber unabänderlich. Wirklich? – Hätte man nicht durch wachsende Erkenntnis, Verhandlungen, gegenseitige Verständigung zum Ausgleich der oft gar nicht so erheblichen Gegensätze und zu friedlichem Beieinander gelangen können? – Was hinderte daran? Sauls grüblerischer Sinn vergaß der Umgebung, kehrte in sich selbst ein, betrachtete sein eigenes Werden und Tun. Hatte er dem richtigen Ziele zugestrebt, hatte er Frieden seinem eigenen unglücklichen, verheerten und kampfesmüden Volke gebracht, Frieden auch denen da unten, deren Mütter, Gattinnen und Bräute genau so bangten und klagten über ihre Söhne, Männer und Verlobten wie die Frauen der Hebräer? Auch die Philister seufzten unter der Last und Gefahr der fortwährenden Kämpfe, die die Fürsten anordneten, ebenso wie seine eigenen Untertanen. Alle, hüben und drüben, hatten nur den einen Wunsch, ruhig und in stiller geschützter Arbeit ihre Tage zu verbringen. Aber die Ehre des Volkes? Das Ansehen der Könige? Dies verlangte doch die Vernichtung des Feindes. – Was aber ist die Ehre eines Volkes? Nichts anderes doch als die Höchstentwicklung seiner edlen Eigenschaften zum eigenen Wohle und dem der übrigen Nationen. Kann sie anders erhalten und erwiesen werden als in der Achtung, die ein Volk sich vor sich selbst erwirbt und vor den anderen? Können Mord, Raub, Schändung, Hinterlist, Lüge, Verrat – Gewalt und Gemeinheit in jeder Form die richtige Betätigung sein zum Ruhme eines Volkes, eines Königs oder gar zu Ehren Gottes? Gab es für den Fürsten eine höhere Aufgabe, als die Seinen zu erziehen und sie zu lehren, den Krieg als abscheulich und verächtlich zu betrachten? Hatte er diese Aufgabe erfüllt, hatte er sie auch nur erkannt? –

Und warum nicht? Womit hatte er, der höchste Gipfel anstrebte, seine Regierung ausgefüllt? Wie kam es, daß er statt der erhofften Einheit und Einigkeit seines Volkes, die er geglaubt hatte mit dem Blute der Philister, des Erbfeindes, nähren zu können, jetzt überall Gegensätze, Widerstände, Zerrissenheit fand? David war flüchtig, Samuel tot, ihre Anhänger zerstreut, und doch fühlte er bis in seine nächste Umgebung Zweifel und Verdrossenheit, ahnte Argwohn und Verrat. Das umkroch und umschlang ihn mit tausendfachen, polypenschleimigen Armen, wand sich um sein Leben und das des Volkes, saugte Kraft und Lebenslust aus und erstickte alle Daseinsfreude.

Er wußte es nun – nicht die Philister da unten, von denen so viele, viele heute ihren letzten Schlummer schliefen vor dem ewigen, waren der Erbfeind. Sie waren im Grunde genommen die gleichen harmlosen, nur von dunklem Drange beseelten und von Ehrgeiz oder Eigennutz der regierenden Klasse gegen die Hebräer in den Krieg getriebenen Menschen, wie umgekehrt diese.

Der Erbfeind wohnt im Volke selbst. Im eigenen Volk, im fremden – und in jedem. Die Gier, das tierische Gelüst, zu raffen und zu rauben, die Mißgunst und der Neid, sie erzeugen den Krieg. Jedermann der Feind von jedermann; im Leben der Völker untereinander; und was das grauenhafteste ist, auch in dem der Volksgenossen.

Der Norden gegen den Süden. Die Frommen gegen die Gotteslosen. Die Reichen gegen die Armen. Die Mächtigen gegen die Schwachen. Jeder Herrschsüchtige rühmt sich, er allein besitze das wahre Geheimnis des Glückes aller und zum Wohl der Gesamtheit. Er allein sei deshalb berufen, die rechten Gleise zu ziehen und allen zu gebieten. Wer andere Wege weist und geht, ist ein Vaterlandsfeind und Verbrecher. Die Unduldsamkeit gegen Andersdenkende, die Parteiverbissenheit und Verbohrtheit – das unheilige unheilvolle Ich statt des heiligen heilbringenden Du – das ist die Erbsünde und die wahre Todsünde des einzelnen. Das auch ist der einzige Erbfeind eines Volkes.

Vielleicht war es mehr ein unklares Empfinden als ein scharf umgrenztes Denken, was Saul an diesem Morgen überkam. Für seine Tage waren diese Ideen jedenfalls neu und ungewöhnlich. Aber es war ja auch noch Morgendämmerung in der Geschichte der Menschheit. Humanere, gebildetere und mit vielen technischen Fortschritten gegen die Unbill des Daseinskampfes und der Natur ausgerüstete Geschlechter betreten nachdem die Erde. Sie vermögen alles tiefer und gründlicher zu erkennen und sicherlich diese ganz einfachen Wahrheiten und Weisheiten spielend in die Tat umzusetzen. Bald, sehr bald.

Ob Saul selbst noch daran gegangen wäre, kann man nicht wissen. Denn mitten in seine Überlegungen hinein ging die Sonne auf. Sie riß ihn los aus den unfruchtbaren Träumereien einer durchwachten Nacht und gemahnte ihn an seine Feldherrnpflicht. Dort stand der Feind, der Erbfeind. Es regte sich in seinem Lager. Man muß ihm zuvorkommen, ihn überraschen, tüchtig dreschen, womöglich noch im Schlafe meucheln. Frisch auf und drauf und dran! Und König Saul gab das Zeichen zum Angriff.

Die Schlacht entwickelte sich von Anfang an unglücklich. Die Philister hatten die Zugänge ins Gebirge erkundet, sie überrannten die Vorhuten, stürmten die Höhen, die Hebräer konnten die Kampffront nicht entwickeln, zusammengepreßt, halb schon umfaßt, wehrten sie sich verzweifelt, aber bald war es klar, daß sie der Übermacht erliegen mußten. Der allgemeine Rückzug war wegen der Schwierigkeit des Terrains und weil die Gefahr völliger Umzingelung drohte, kaum durchführbar. Und Saul wollte ihn auch nicht. Er war müde, es war ja doch alles vergebens und verloren. Besser ein Ende und Ruhe, nur endlich Ruhe!

Am Spätnachmittag war alles entschieden. Und nun suchten die Geschlagenen sich doch noch durch die Flucht zu retten. Gelang es ihnen, in die Schluchten zu entkommen und bis zur Dunkelheit sich zu halten, so konnte die bergende Nacht ihnen Hilfe gewähren. Wider Willen wurde Saul mitgerissen. Kämpfend zog seine Garde, in der Mitte den König führend und mit ihren Leibern schützend, sich gegen den Abhang des Bergplateaus. Die Gruppe wurde aber bald von den Feinden gesichtet, und die philistäischen Bogenschützen, die mit neuen Erfindungen ihrer Handwaffen sich wesentlich den Hebräern überlegen gezeigt und damit vor allem den Ausgang des Treffens herbeigeführt hatten, richteten ihren Pfeilhagel auf sie. Die Söhne Sauls fielen, Abinadab, Malchisua und zuletzt der hochherzige Jonathan. Einen langen Abschiedsblick warf der König auf ihn. Dies war der edelste seines Geschlechtes, auf ihm hatte die Hoffnung der Dynastie geruht, er hatte gelebt als ein echter Königssproß, rein, vorbildlich, enthaltsam, daheim und im Felde bescheiden und pflichtbewußt. Er starb in der Stunde, da sein Volk erlag, als Mann und Held. Vorbei – vorüber –.

Der König selbst blutete aus mehreren Wunden, er stand einsam, alles um ihn war tot. Die Abziehenden leitete Abner, überlegt und besonnen wie immer, ihnen konnte Saul nichts mehr geben. Der Krieg war verloren, das Reich ging zugrunde. Bis zum Schluß hatte er ausgehalten, obwohl er den unglücklichen Ausgang voraussah. Er atmete tief auf – jetzt war er frei, endlich, jetzt endlich durfte er an sich selbst denken.

Er hielt. Aufrecht stand er, den andrängenden Feinden das kühne Gesicht, ihre Furcht in hundert Schlachten, entgegengewandt. Aufrecht hatte er gelebt, aufrecht wollte er sterben. Nur ein einziger noch, sein treuer Waffenträger, stand bei ihm, die anderen hatte Tod oder Flucht hinweggerissen. Der Gefährte bestürmte ihn, sich zu sichern, zu bergen, zeigte einen geschützten Pfad. Er war orts- und wegekundig. Saul konnte entkommen, seine Wunden waren ungefährlich. Er konnte außer Landes gehen. Und wenn er auch Thron und Krone verlor, so rettete er doch sein gesalbtes Haupt, sein kostbares Leben.

Aber Saul winkte ungeduldig, fast furchterweckend ab. Das war die Sprache von Feiglingen und Sklaven. Ein König ist nur seines Volkes Planet. Das Volk ist die Sonne; erlischt ihr Licht, so ist auch der Herrscher finster und erkaltet. Er hat kein eigenes Daseinsrecht, keine eigene Daseinsmöglichkeit. Aus dem Volke gekommen, für das Volk gelebt, mit dem Volke gestorben – das ist des Königs Gesetz. Das verleiht ihm Würde und Ehre. Unseliger Fürst, der in der Stunde des Zusammenbruchs nicht den Mut zum Heroismus findet, der an sich, an seine Rettung denkt, wenn das Unglück über sein Volk sich ergießt. Der Untergang hätte ihm Mitgefühl, der Tod Ehrfurcht erweckt. Die Flucht aber befleckt seinen Namen für alles Gedenken der Menschen und für alle Zeiten.

Anders Saul. Er gebot dem Begleiter, nahe zu treten und ihn zu erstechen, denn er wollte nicht fliehen, doch auch nicht lebend in die Hände des Feindes geraten. Aber der treue Gefolgsmann weigerte sich, Hand an seinen Herrn zu legen. Da zog Saul sein Schwert zum letzten Dienste; mit fester Hand stützte er den Griff auf den Boden, kehrte die Spitze gegen sein tapferes Herz und seine Brust glitt langsam in die schneidende Schärfe.

Im Fallen, im Ausbluten aber war es ihm, als höre er einen fernen Klang, süß und doch aufregend, besänftigend und doch verräterisch. Was war das gleich – woher kannte er diesen Ton? Sein versagendes Hirn suchte, faßte noch einmal alle Bilder der Vergangenheit zusammen, sammelte die losen Fäden der Erinnerung.

Das Denkmal der Philister auf dem Hügel zu Gibea – Jonathan – die Eselinnen – Samuel – die Salbung – der erste Sieg – das geeinte Reich – sein Weib Ahinoam – Michal – David–… das war es. Wie ein schwermütiges Lächeln legte es sich um den schon erblassenden Mund – David – nun war er befreit von ihm, nun mochte er versuchen, ob es ihm besser gelang. Er gönnte es ihm, alles, Ruhm und Thron und den Kampf gegen den Erbfeind – alles. Er selbst durfte ausruhen, endlich, endlich.

Der Atem versagte, er fiel zu Boden, in seinem Ohr rauschte es – war das der Triumphgesang des Feindes? Der Jammer von Israel? Sein eigenes Blut? Nein – etwas anderes – was doch gleich? Gesang – Musik – ja dies – das – David – David ––… David schlägt die Harfe.

Und die Augen Sauls, die großen gebietenden Augen hoben sich noch einmal gegen die sinkende Sonne – und brachen. Der König, der erste, der wahre König von Juda und Israel war tot. Gefallen auf dem Felde der Ehre.

Ein schluchzender Schrei seines Waffenträgers, ein wildes Klagen um die verlorene Herrlichkeit und seine Treue folgte seinem Herrn in das Nichts und in die Vernichtung.

Erst am nächsten Tage fanden die Philister, müde von der Jagd, auf der Nachsuche des Schlachtfeldes den Leichnam. Als herrlichstes Siegeszeichen führte triumphierend der Erbfeind den Körper in sein Land.

David erhielt die Nachricht, als er von der Verfolgung der Amalekiter nach Ziklag zurückkehrte. Er versäumte sich nicht einen Tag. Saul war tot, ebenso seine Söhne, das Volk ohne Haupt, ohne Führer. Der Norden hatte versagt, Gottes Zorn war ersichtlich geworden; die Stunde des Südens, die lang erwartete, begann zu schlagen.

Sofort brach er mit seinen Truppen auf, überschritt die Grenze von Juda, zog vor die alte Fürstenstadt Hebron. Sie öffnete ihm bereitwillig die Tore. Der Philisterwürger, der fromme Bezwinger Goliaths, war wieder auferstanden und er brachte tapfere Männer mit. Das gab den Geängsteten Mut und Hoffnung. Schnell fiel der ganze Süden ihm zu, erkannte ihn als Herrscher über Juda an, das sich zur selbständigen Monarchie erklärte. Der erste Schritt war getan, die erste Etappe erreicht. Saul ging dahin – die Pforte ist offen. Schreite hindurch, schreite weiter, Sohn Isais! Auf Hebron folgt Jerusalem. Nach Judäa – das ganze Reich, Juda und Israel. Schon mischen die Priester das Salböl. Der Sohn des Volkes ist nicht mehr – Platz da für den Sohn des Ehrgeizes und der Ichsucht. König Saul ist tot. Es lebe David, König von Gottes und der Gottesdiener Wahl und Gnaden!


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