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10. Kapitel.
Der Überfall

Über dem Marktplatz von Hameln lag heller Sonnenschein. In nicht zu ferner Zeit nahte das Osterfest und die Durchzüge von Kaufleuten, welche von Stadt zu Stadt gingen, um ihre Waren zum Sommer zu verkaufen, hatten begonnen. Auf dem Markte lag das ehrwürdige, mit hohen Giebeln versehene Rathaus. In dem großen Saal desselben hatte sich der Rat versammelt, der von den durchreisenden Kaufleuten angegangen wurde, ihnen eine Anzahl Stadtknechte zu gewähren, welche, gut belohnt und beköstigt, sie sicher über die Straße, welche an der Weser entlang führt, geleiten sollte. Der Bürgermeister eröffnete den Fremden, daß der hohe Rat gegen eine entsprechende Entschädigung und zu den vereinbarten Bedingungen zehn Troßknechte, unter dem Befehl des sehr streitbaren Herrn Cornelius, welcher sonst Schreiberdienste im Rathaus versah, ihnen zum Schutz mitgäbe, daß aber das Geld für den Rat sofort zu erlegen sei, da man über die Ehrlichkeit fremder Kaufleute in der letzten Zeit eine nicht allzu hohe Meinung gewonnen hätte. Die fremden Handelsherren, breitschultrige, kräftige Gestalten mit bärtigem Kinn, verbeugten sich vor dem Bürgermeister, und legten auf der Bank, die ihnen eingeräumt war so lange die Beratung des Rats im Nebenzimmer währte, den Betrag zusammen, der ihnen die Stadthilfe gewährleistete.

Währenddessen wurden draußen die Karren, welche auf zwei Rädern gehend, mit einem Plan überspannt waren, zusammengeschoben und ein jeder mit zwei Pferden bespannt. Die Hufe der Pferde klapperten auf dem steinigen Wege, die Fuhrleute schrieen und die Herren der Ladungen untersuchten ängstlich, ob ihre Güter gegen Regen gut verwahrt und gegen Diebstahl wohl versichert wären. Das gab ein Rufen, ein Pferdegetrappel, ein Wagengerassel vor dem Rathause, schier zum Ohrenzerreißen, und als sich der Zug endlich in Bewegung setzte, und einige Tiere, des Wartens ungeduldig, nun mit ihren Wagen aus der langen Reihe hervorbrachen, so ertönte neues Geschrei und laute Verwünschungen von Seiten der Wagenführer, die von den dahinrollenden Fuhrwerken beinahe zermalmt worden wären. Zuletzt jedoch kam Ordnung in den langen Zug. Herr Cornelius mit fünf wohl gepanzerten und bewaffneten Knechten bildete die Spitze des Zuges, und hinter ihnen folgte Karren auf Karren, ein jeder seinen Fuhrmann zur Seite, der sein Pferd mit lautem »Hoho« zum langsamen Trab anspornte. Zur Seite des Zuges ritten auf kräftigen Pferden die Herren der Güter, welche mächtige Lanzen und Schwerter als Waffen bei sich trugen, und zum Schluß bildeten wieder fünf Hamelner Stadtknechte den Nachtrab.

Der Frühling war ins Land gegangen und die Sonne und die Erde atmeten neues Leben. Die Bäume, das Gesträuch, welche bei der Ausfahrt des Mönchs und Heinrichs aus Hameln von Schnee und Eis bedeckt waren, trieben die niedlichsten Knöspchen und die am Boden sprossenden Gräser erglänzten im taufrischsten Grün. Aus dem Gehölz erscholl Vogelgezwitscher und Nachtigallengesang, und als erst der Wald die Karawane einschloß, die den gekrümmten Flußlauf ab und zu abschnitt, indem sie eine Straße, welche durch den Wald führte, aufnahm, ließen die Fuhrleute das Peitschenknallen und horchten nur dem Vogelgesange, der auch ihnen das Herz aufthat. Die Wagenräder hinterließen eine tiefe Spur in dem feuchten Waldboden, der so würzig berauschend duftete, daß auch die Pferde, welche nicht mehr angetrieben wurden, in eine ruhigere Gangart verfielen und bald die ganze Karawane träge dahinschlich.

Herr Cornelius ritt mit seinen Getreuen recht wacker vorauf. Sie saßen auf hohen Streitrossen und ihre Köpfe zierten glatte Stahlhelme; auf der Brust funkelten bläuliche Stahlpanzer. Herr Cornelius litt an einer Krankheit, die ihm schon manchen Spott eingetragen hatte. Er liebte den Wein, und seinem Äußern, das so behäbig breit erschien, daß nur das stärkste Pferd ihn tragen konnte, war es anzusehen, daß ihm Essen und Trinken mundete.

Die Märzsonne, welche vom Himmel funkelte, meinte es recht gut mit der durch die Wassersnot hart mitgenommenen Flur; überall keimte und sproßte es, und der grünliche Schein, welcher sich auf Baum und Strauch lagerte, deutete darauf hin, daß der schwere Winter glücklich überstanden. Die Wärme, welche die Sonnenstrahlen entsandten, war aber dem dicken Führer des Zuges lästig; Herr Cornelius schaute rechts und links, aber es fand sich kein Plätzchen, das zum Lagern einlud, und so trabte er und die ganze Karawane schläfrig über den durch die Frühjahrsflut noch aufgeweichten Boden dahin.

Nicht weit von der Lingenburg trat der Wald fast bis an die Weser heran und Herr Cornelius, als umsichtiger Kriegsmann, sandte einige Bewaffnete vorauf, um einem plötzlichen Überfall vorzubeugen, da die Bäume sich ihm in den Weg stellten und die freie Aussicht benahmen. Kaum jedoch hatte er diese Vorsichtsmaßregel angeordnet, als eine Schar Bewaffneter, vorauf etwa ein halbes Dutzend Reiter, in vollem Anlauf auf den Kaufmannszug aus den Bäumen hervorbrach und mit furchtbarem Geschrei sich auf die Wachen des Zuges warf. Mit eingelegter Lanze sprengte der Vorderste auf Herrn Cornelius zu, der sich jedoch, vom ersten Schrecken schnell erholt, mit seinen Bewaffneten auf die Wagen des Zuges zurückzog und seine Mannschaften zur Verteidigung der ihm anvertrauten Güter bereit hielt.

Die Angreifer warfen sich mit aller Macht auf die Städter, die, fest aneinander geschlossen, sich mit großer Tapferkeit wehrten. Die Wagen, welche eine lange Linie gebildet hatten, waren eng an einander gefahren; die Knechte spannten die Pferde aus und retteten sie hinter die Wagen, welche für die Tiere einen guten Schutz bildeten. Der Kampf tobte mit äußerster Erbitterung, ohne daß es auf einer Seite bedeutende Verluste abgab. Die Angreifer mochten wohl darauf gerechnet haben, daß die Städter im ersten Augenblick der Überraschung die Güter der Plünderung preisgeben würden; sie schienen auf den nachdrücklichen Widerstand, der ihrem unvermuteten Angriffe geleistet wurde, nicht vorbereitet zu sein. Das Fußvolk der Angreifer, welches die Reiter begleitete, suchte die Wagenburg zu erklettern, und einige der Galgenvögel führten Fackeln bei sich, die sie entflammten und in die mit Leinwandplänen bespannten Wagen zu werfen suchten. Ein Steinhagel jedoch trieb die Räuber von der Wagenburg, bis tief in den Wald hinein, und da die Knechte, welche den Ansturm auf diese Weise abgewehrt hatten, sich anschickten ihren Sieg zu verfolgen und mit ihren eisenbeschlagenen Piken aus der Verschanzung hervorbrachen, flohen diejenigen Schnapphähne, welche zu Fuß waren, in das Dickicht, indem sie ihre Waffen wegwarfen, und nur die Reiter verblieben noch im Gefecht mit den Städtern. Als aber der Anführer jener Schar die Flucht der Seinen bemerkte, wandte auch er sein Pferd, und die Strauchritter verschwanden im Walde, verfolgt von den Knechten, die den Flüchtigen einen Steinhagel nachsandten.

Der Überfall und die glückliche Abwehr desselben war ein Werk weniger Minuten. Langsam und ermüdet von dem Nachsetzen trafen die Knechte von der Verfolgung wieder ein, schirrten unter frohem Lachen und Gesang die Gespanne wieder an. Bald wand sich der lange Zug gleich einer Schlange wieder durch den Wald, der von Herrn Cornelius Reisigen mit größter Aufmerksamkeit abgesucht wurde, um einen zweiten Anfall vorweg zu vereiteln.

Keine Helmzier, noch irgend ein Farbenabzeichen hatte den Ritter verraten, welcher auf die reichen Güter des Zuges sein Auge geworfen, und als sich der ganze Troß in der Nähe der Lingenburg lagerte, um die Nacht gesichert abzuwarten, konnte dem Herrn Cornelius auch keiner von den Burgleuten irgend welche Auskunft über den Veranstalter des Überfalls erteilen.

»Ein fetter Bissen wären unsre Güter in der That gewesen,« meinte Herr Cornelius zu Hunold, »aber unsere Aufmerksamkeit und die Tapferkeit meiner Leute haben den bösen Anschlag vereitelt.«

Als Hunold und Heinrich allein waren und ihr Lager aufsuchten, gestanden sie sich gegenseitig, daß nur Peter von Ehrenfels diesen unglücklichen Versuch gemacht haben könne, und Heinrich schreckte zusammen als ihm Hunold berichtete, daß ein jeder Raubritter, welcher bei der That ergriffen würde, dem Henker verfiele. Denn so wäre es des Kaisers Wille, welcher in kurzer Zeit Deutschland von der Schweizergrenze ab bis zum mittleren Laufe des Rheins von der Plage des Raubritter-Unwesens gesäubert, und etliche Dutzend dieser Herren, welche fremdes Gut sich widerrechtlich aneigneten, zur Warnung für ihre Gesinnungsgenossen an dem Galgen aufhängen ließ.


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