Anatole France
Die Götter dürsten
Anatole France

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Einundzwanzigstes Kapitel

Tag für Tag ging Julie Gamelin in ihrem flaschengrünen Carrick in den Luxembourg-Garten, setzte sich auf eine Bank am Ende einer Allee, und wartete dort auf den Augenblick, wo ihr Geliebter zu einer Dachluke des Palais hinausschaute. Sie machten sich Zeichen und tauschten ihre Gedanken in einer stummen Sprache aus, die sie sich ausgedacht hatten. Auf diese Weise erfuhr sie, daß der Gefangene in einer leidlichen Zelle wohnte, in angenehmer Gesellschaft war, eine Decke und einen Kochkessel brauchte und sein Mädchen zärtlich liebte.

Sie war nicht die einzige, die vor diesem zum Kerker verwandelten Palais nach einem geliebten Antlitz ausspähte. Eine junge Mutter neben ihr heftete ihre Blicke auf ein geschlossenes Fenster, und sobald sie es aufgehen sah, hob sie ihr Kind, das sie im Arm trug, hoch über ihren Kopf. Eine alte Dame im Spitzenschleier saß stundenlang unbeweglich auf einem Klappstuhl und hoffte umsonst auf einen Augenblick, wo ihr Sohn sich zeigte. Der aber spielte, um nicht von Rührung überwältigt zu werden, im Gefängnishof mit der Wurfscheibe, bis der Garten geschlossen ward . . .

Julie hauste in einer Dachstube in der Rue du Cherche-Midi, wo sie sich für einen Arbeit suchenden Tuchmachergehilfen ausgab. Die Bürgerin Gamelin, die jetzt endlich einsah, daß ihre Tochter nirgends gefährdeter sei als in ihrer Nähe, hatte sie von der Place de Thionville und aus dem Bezirk Pont-Neuf fortgeschickt und ließ ihr Lebensmittel und Wäsche zukommen, so gut sie vermochte. Julie kochte etwas, ging in den Luxembourg-Garten, um ihren Heißgeliebten zu sehen, und kehrte dann in ihr elendes Loch zurück. Die Eintönigkeit dieses Lebens lullte ihren Kummer ein, und da sie jung und kräftig war, so schlief sie des Nachts tief und fest. Von keckem Charakter, an Abenteuer gewöhnt und wohl auch durch die Kleidung, die sie trug, kühn gemacht, ging sie nachts bisweilen zu einem Limonadenverkäufer in der Rue du Four, »Zum roten Kreuz«, wo Leute aller Art und galante Frauen verkehrten. Dort las sie Zeitungen und spielte Tricktrack mit irgendeinem Ladenschwengel oder einem Soldaten, der ihr mit seiner Pfeife ins Gesicht qualmte. Dort wurde getrunken, gespielt, geliebt, und nicht selten kam es zu Schlägereien. Eines Abends hörte ein Zecher Hufschall auf dem Pflaster der Straßenkreuzung. Er hob den Vorhang und erkannte den Kommandanten der Nationalgarde, den Bürger Hanriot, der mit seinem Stabe vorbeigaloppierte. »Das ist Robespierres Eselsgarde«, brummte er zwischen den Zähnen.

Julie platzte bei dieser Bemerkung heraus. Doch ein schnurrbärtiger Patriot gab ihm kräftig Bescheid: »Wer so redet, ist ein Hundsfott von Aristokraten. Den soll der Scharfrichter sich langen. General Hanriot, das merkt euch, ist ein guter Patriot; der wird Paris und den Konvent, wenn es not tut, schon beschützen. Das gerade können ihm die Royalisten nicht vergeben.«

Da Julie noch immer lachte, so blickte der schnurrbärtige Patriot sie herausfordernd an:

»Du Grünschnabel, sieh dich vor, daß ich dir nicht 'nen Tritt in den Hintern gebe, damit du Respekt vor den Patrioten lernst.«

Doch schon schrie alles durcheinander: »Hanriot ist ein Trunkenbold und ein Schafskopf!«

»Hanriot ist ein guter Jakobiner! Hanriot lebe hoch!«

Sofort bildeten sich zwei Parteien. Man wurde handgemein. Die Fäuste sausten auf die eingeschlagenen Hüte herab, die Tische stürzten um, die Gläser schlugen in Scherben, die Lampen erloschen, und die Frauen kreischten auf. Julie wurde von mehreren Patrioten angegriffen. Sie schwang einen Schemel, wurde zu Boden geworfen, kratzte und biß die Angreifer. Aus ihrem aufgegangenen Carrick und ihrem zerrissenen Jabot quoll ihr wogender Busen hervor. Eine Patrouille eilte auf den Lärm herbei, und die junge Aristokratin entschlüpfte zwischen den Beinen der Gendarmen.

Tag für Tag waren die Henkerkarren voll Verurteilter.

»Ich kann meinen Geliebten aber doch nicht sterben lassen!« sagte Julie zu ihrer Mutter.

Sie entschloß sich zu Bittgängen und allen möglichen Schritten, lief in die Ausschüsse, in die Büros, zu den Volksvertretern und Richtern, überallhin, wo es nötig war. Da sie keine Frauenkleider besaß, so lieh ihre Mutter sich einen gestreiften Rock, ein Busentuch und ein Spitzenhäubchen von der Bürgerin Blaise, und so ging Julie, als Frau und Patriotin gekleidet, zum Richter Renaudin, in ein düsteres, feuchtes Haus in der Rue Mazarine.

Zitternd stieg sie die mit Steinfliesen belegte Holztreppe empor. Der Richter empfing sie in seinem elenden Arbeitszimmer, in dem nur ein Tisch aus Fichtenholz und zwei Rohrstühle standen. Die Tapeten hingen in Fetzen von den Wänden. Renaudin, ein Mann mit schwarzen, anliegenden Haaren, finsteren Blicken, wulstigen Lippen und vorspringendem Kinn, winkte ihr zu reden und hörte sie stillschweigend an.

Sie gab sich als Schwester des Bürgers Chassagne aus, der im Luxembourg-Gefängnis gefangen saß, erklärte ihm so geschickt wie möglich die Umstände, unter denen er verhaftet war, stellte ihn als unschuldig und unglücklich hin und wurde zudringlich. Er blieb hart und fühllos.

Sie warf sich ihm zu Füßen und weinte.

Sobald er Tränen sah, veränderte sich seine Miene. Seine schwarzroten Pupillen flammten auf, und er bewegte seine mächtigen, schwarzbärtigen Kinnbacken als wollte er schlucken.

»Bürgerin, das Nötige soll geschehen. Seien Sie unbesorgt.«

Er öffnete eine Tür und schob die Bittgängerin in einen kleinen rosa Salon mit bemalten Wandspiegeln, Figuren aus Biskuit, einer Stutzuhr und vergoldeten Kandelabern, gepolsterten Lehnstühlen und einem Kanapee mit gewebtem Bezug, der eine Schäferszene von Boucher darstellte. Julie war zu allem bereit, um ihren Liebsten zu retten. Renaudin war brutal und machte kurzen Prozeß. Als sie sich erhob und das schöne Kleid der Bürgerin wieder ordnete, begegnete sie dem grausamen, höhnischen Blick des Mannes; sie fühlte sofort, daß ihr Opfer vergebens gewesen war. »Sie haben mir die Freiheit meines Bruders versprochen«, sagte sie.

Er lachte höhnisch.

»Ich sagte dir, Bürgerin, daß das Nötige geschehen wird. Das heißt, daß das Gesetz zur Anwendung kommt, nicht mehr und nicht weniger. Ich sagte dir, du solltest unbesorgt sein, und warum auch Sorge? Das Revolutionstribunal ist stets gerecht.«

Sie hatte Lust, sich auf ihn zu stürzen, ihn zu beißen, ihm die Augen auszukratzen. Aber sie fühlte, daß sie damit Fortunés Schicksal nur beschleunigen würde. Sie stürzte hinaus und lief in ihre Dachstube, um Elodies beflecktes Kleid abzulegen. Dort erst, wo sie allein war, heulte sie die ganze Nacht vor Wut und Schmerz.


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