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Wie die Bürgerin Gamelin es mit einer sehr alten Redensart ausgedrückt hatte: »Vom vielen Kastanienessen werden wir schließlich selbst zu Kastanien«, so hatte sie heute, am 13. Juli, mit ihrem Sohne eine Kastanienbrühe zu Mittag verspeist. Kaum war diese kärgliche Mahlzeit beendet, als eine Dame eintrat, die das Atelier alsbald mit ihrem Glanz und mit dem Duft ihres Parfüms erfüllte, Evarist erkannte die Bürgerin Rochemaure. In dem Glauben, sie hätte sich in der Tür geirrt und suchte den Bürger Brotteaux, ihren einstigen Freund, wollte er ihr schon die Dachkammer des früheren Aristokraten zeigen oder Brotteaux rufen, um der eleganten Dame das Hinaufklettern auf die rohe Holzleiter zu ersparen. Doch ihr Besuch schien zunächst dem Bürger Evarist Gamelin zu gelten; denn sie drückte ihre Freude aus, ihn zu treffen und ihm ihre Aufwartung zu machen.
Sie waren einander nicht ganz unbekannt. Sie hatten sich mehrfach im Atelier von David, auf einer Tribüne der Nationalversammlung, bei den Jakobinern und bei dem Restaurator Venua getroffen, und er war ihr durch seine Schönheit, seine Jugend und sein anziehendes Aussehen aufgefallen.
Ihr Hut war mit Bändern geschmückt, wie eine Lockenfrisur aus der alten Zeit, und mit einer Feder versehen, wie der Hut eines Abgeordneten. Sie trug eine Perücke, war geschminkt, parfümiert und hatte Schönheitspflästerchen auf der durch so viele Kunstmittel noch frisch erscheinenden Haut. Diese starken Toilettenkünste verrieten die fiebernde Lebenshast jener schrecklichen Tage mit ihrem ungewissen Morgen. Ihre blutrote Taille mit großen Aufschlägen und weiten Stößen blitzte von riesigen Stahlknöpfen. Ihre ganze Erscheinung war halb aristokratisch, halb jakobinisch, und man wußte nicht recht, ob sie die Farben der Opfer oder die der Henker trug. Ein junger Soldat, ein Dragoner, begleitete sie: Einen hohen Stock mit Perlmuttergriff in der Hand, stattlich, schön und umfangreich, mit hochherzig geschwellter Brust, schritt sie rund um das ganze Atelier, hielt sich das goldene Doppellorgnon vor die grauen Augen und betrachtete alle Bilder des Malers. Sie lächelte, tat Ausrufe, von der Schönheit des Künstlers bezaubert, und schmeichelte, um Schmeicheleien zu hören.
»Was ist das für ein edles und rührendes Bild?« fragte die Bürgerin Rochemaure. »Eine schöne, sanfte Frau am Bett eines kranken Jünglings?«
Gamelin erwiderte, das sei Elektra, die ihren Bruder Orest pflegte. Hätte er das Bild vollenden können, so wäre es vielleicht nicht sein schlechtestes geworden.
»Der Gegenstand«, erklärte er, »stammt aus dem ›Orest‹ des Euripides. In einer alten Übersetzung dieser Tragödie las ich eine Szene, die mich packte und mit Bewunderung erfüllte. Die junge Elektra richtet ihren Bruder auf seinem Schmerzenslager empor, wischt ihm den Schaum vom Munde, streicht ihm die Haare, die seine Augen verdunkeln, aus der Stirn und bittet den geliebten Bruder, auf ihre Worte zu hören, solange die Furien schweigen . . . Immer wieder las ich diese Übersetzung. Mir war, als verhüllte ein Nebel mir die griechischen Formen, und ich konnte ihn nicht verscheuchen. Den Urtext hielt ich für nerviger und von anderem Rhythmus. Ich wollte durchaus eine genaue Vorstellung davon haben und bat Herrn Gail, der damals (es war 91) am Collège de France Griechisch lehrte, mir die Szene Wort für Wort zu übersetzen. Er tat es, und da merkte ich, daß die alten Texte viel einfacher und familiärer sind, als man denkt. So sagt Elektra zu Orest: ›Teurer Bruder, wie froh bin ich, daß du Schlaf fandest. Soll ich dich aufrichten helfen?‹ Und Orest: ›Ja, hilf mir, richte mich empor und wische mir die Reste von Schaum fort, die mir an Augen und Mund kleben. Drücke deinen Busen gegen meine Brust und streiche mir das wirre Haar aus dem Gesicht, denn es verdunkelt mir den Blick‹ . . . Erfüllt von dieser jugendfrischen Poesie, diesen starken, naiven Ausdrücken, entwarf ich das Bild, das Sie vor sich sehen, Bürgerin.«
Der Maler, der von seinen Werken sonst mit großer Zurückhaltung sprach, redete unerschöpflich von diesem. Die Bürgerin Rochemaure erhob ihr Stielglas und winkte ihm fortzufahren. Er sagte:
»Hennequin hat die Raserei des Orest meisterlich dargestellt. Aber Orest rührt uns noch mehr in seiner Trübsal als in seiner Raserei. Welch ein Schicksal! Aus kindlicher Liebe, aus Gehorsam gegen geheiligte Satzungen beging er ein Verbrechen, das die Götter ihm verzeihen müssen, das aber die Menschen nie vergeben werden. Um die verletzte Gerechtigkeit zu sühnen verleugnete er die Natur, wurde er zum Unmenschen und riß sich das Herz aus dem Busen. Stolz trägt er die Last seines furchtbaren, tugendhaften Verbrechens . . . Das wollte ich in dieser Szene zwischen Bruder und Schwester darstellen.«
Er trat näher an das Bild heran und betrachtete es wohlgefällig.
»Manches«, sagte er, »ist so gut wie fertig, so der Kopf und der Arm des Orest.«
»Ein prachtvolles Stück! Und Orest sieht Ihnen ähnlich, Bürger Gamelin.«
»Finden Sie?« sagte der Maler mit ernstem Lächeln.
Sie setzte sich auf den Stuhl, den Gamelin ihr anbot. Der junge Krieger stellte sich neben sie und stützte den Arm auf die Lehne. Daran konnte man schon den Sieg der Revolution erkennen, denn in der alten Zeit hätte ein Herr in Gesellschaft nie gewagt, den Stuhl einer Dame auch nur zu berühren. Die Höflichkeit erzog damals zum Zwang, ja zur Steifheit; dafür aber gab die öffentliche Zurückhaltung den geheimen Vertraulichkeiten erhöhten Reiz, und um den Respekt zu verlieren, mußte man welchen besitzen.
Louise Maché de Rochemaure, die Tochter eines königlichen Hofjägermeisters und Witwe eines Staatsanwalts, war zwanzig Jahre lang die treue Freundin des Finanzmannes Brotteaux des Ilettes gewesen, aber den neuen Grundsätzen beigetreten. Im Juli 1790 hatte sie auf dem Marsfelde die symbolischen Spatenstiche getan. Sie stellte sich stets resolut auf Seiten der Machthaber und war von den Feuillants unbedenklich zu den Girondisten und von diesen zum »Berg« übergegangen, obgleich eine Lust am Versöhnen, ein Anschmiegungsdrang und eine gewisse Neigung zur Intrige sie noch immer mit den Aristokraten und den Gegnern der Revolution verband. Sie ließ sich überall sehen, in Wirtshäusern und Theatern, in den Moderestaurants und Spielsälen, in Salons und Zeitungsredaktionen, wie in den Vorzimmern der Ausschüsse. Die Revolution brachte ihr stets etwas Neues, Zerstreuung, Freuden und Leiden, Geschäfte und erfolgreiche Unternehmungen. Sie spann politische Ränke und Liebeshändel an, spielte die Harfe, malte Landschaften, sang Lieder, tanzte in griechischen Tänzen, gab Soupers, lud hübsche Damen zu Gaste, wie die Gräfin Beaufort und die Schauspielerin Descoings, saß die ganze Nacht am Spieltisch beim Trente-et-un und Biribiri oder ließ die Roulettekugel rollen und fand dabei noch Zeit, ihren Freunden hilfreich zu sein. Neugierig, tätig, strudelköpfig, frivol, wie sie war, kannte sie die Menschen und ignorierte die große Masse. Die Meinungen, die sie teilte, waren ihr so fremd wie die, welche sie verurteilen mußte, und allem, was in Frankreich vorging, stand sie ahnungslos gegenüber. So war sie unternehmend, keck, ja verwegen aus Unkenntnis der Gefahr und infolge ihres schrankenlosen Vertrauens auf die Macht ihrer Reize. Der Soldat, der sie begleitete, stand in der Blüte der Jugend. Sein bildhübsches Gesicht war von einem mit Pantherfell verbrämten Messinghelme beschattet, dessen ponceauroter Helmbusch in Form eines Roßschweifes sich in langen, dräuenden Haaren über seinen Rücken ergoß. Sein roter, enganliegender Waffenrock reichte knapp bis an die Hüften und ließ deren eleganten Schwung deutlich hervortreten. Am Koppel hing ein riesiger Säbel, dessen Griff ein blitzender Adlerschnabel zierte. Seine zartblaue Latzhose ließ seine elegante Beinmuskulatur erkennen; dunkelblaue Schuijtaschs mit reichen Arabesken bedeckten die Schenkel. Er sah aus wie ein Kostümtänzer in irgendeiner galanten Kriegerrolle, im »Achill auf Skyros« oder in der »Hochzeit Alexanders« von einem Schüler Davids, der knappe Formen liebte.
Es kam Gamelin vor, als hätte er ihn schon irgendwo erblickt. In der Tat war es derselbe junge Reitersmann, den er vor vierzehn Tagen gesehen hatte, als er von der Galerie des Nationaltheaters herab eine Rede an das Volk hielt. Die Bürgerin Rochemaure stellte ihn vor.
»Bürger Henri vom Revolutionsausschuß der Menschenrechte.«
Er folgte ihr wie ihr Schatten, als Spiegel der Liebe und lebendige Verkörperung des Bürgersinnes.
Die Bürgerin beglückwünschte Gamelin zu seinem Talent und fragte ihn, ob er nicht gewillt sei, eine Zeichnung für eine Modistin zu machen, für die sie sich interessierte.
Er sollte einen passenden Gegenstand darstellen, eine Dame, die sich vorm Spiegel einen Schal anprobiert, oder ein Laufmädchen mit einem Hutkarton im Arme.
Zur Anfertigung eines solchen Modebildchens hätte man ihr den Sohn Fragonard, den jungen Ducis und auch einen gewissen Prudhomme empfohlen, aber sie wandte sich lieber an den Bürger Evarist Gamelin. Immerhin kam es zu keiner festen Bestellung, und man merkte wohl, daß sie diese nur vorgeschützt hatte, um einen Gesprächsstoff zu haben. In Wahrheit kam sie aus einem ganz andern Grunde; sie wollte den Bürger Gamelin um einen Dienst bitten. Da sie wußte, daß er bei Marat verkehrte, so sollte er sie bei dem Volksfreunde einführen, denn sie wünschte mit ihm zu reden.
Gamelin erklärte, er stelle zu wenig vor, um sie bei Marat einzuführen; außerdem bedürfe es da keiner Einführung, denn Marat, obwohl mit Geschäften überbürdet, wäre durchaus nicht so unzugänglich, wie behauptet würde.
Und Gamelin setzte hinzu:
»Er wird Sie empfangen, Bürgerin, wenn Sie unglücklich sind, denn sein großes Herz steht dem Unglück offen und erbarmt sich aller Leiden. Er wird Sie empfangen, wenn Sie ihm eine wichtige Enthüllung in Dingen der öffentlichen Wohlfahrt zu machen haben: sein Dasein ist der Entlarvung der Verräter geweiht.«
Die Bürgerin Rochemaure erwiderte, sie schätze sich glücklich, in Marat einen berühmten Bürger zu begrüßen, der dem Vaterlande große Dienste geleistet hätte und ihm noch größere leisten könnte. Sie wünschte Beziehungen zwischen diesem Gesetzgeber und einigen Wohlgesinnten anzuknüpfen, begüterten Menschenfreunden, die imstande wären, ihm neue Mittel zur Befriedigung seiner glühenden Menschenliebe zu liefern.
»Es ist wünschenswert,« setzte sie hinzu, »daß die Reichen an der öffentlichen Wohlfahrt mitwirken.«
In der Tat hatte die Bürgerin dem Bankier Morhardt versprochen, daß er mit Marat speisen sollte. Morhardt, ein Schweizer, wie der Volksfreund, hatte mit mehreren Konventsmitgliedern, mit Julien (Toulouse), Delaunay (Angers) und dem früheren Kapuziner Chabot, sich zum Spekulieren in den Aktien der Ostindischen Kompanie zusammengetan. Die Sache war sehr einfach. Erst mußte der Kurs durch schlimme Gerüchte auf 650 Livres herabgedrückt werden, dann wurden möglichst viele dieser Aktien aufgekauft und der Kurs durch beruhigende Gerüchte auf 4000–5000 Livres heraufgetrieben. Jedoch Chabot, Julien und Delaunay waren verdächtig. Auch Lacroix, Fabre d'Eglantine, ja selbst Danton standen mit Recht oder Unrecht im gleichen Verdacht. Der Agent der Spekulanten, Baron Batz, suchte neue Helfershelfer im Konvent und riet dem Bankier Morhardt, sich an Marat heranzumachen.
Dieser Einzelfall der Spekulanten der Gegenrevolution war nicht so sonderbar, wie es zunächst schien. Diese Leute suchten stets Fühlung mit den Mächten des Tages; und Marat war durch seine Popularität, seine Feder, seinen Charakter eine furchtbare Macht, ja die einzige, die noch feststand. Die Girondisten waren gescheitert, die Anhänger Dantons kämpften mit den Wogen und herrschten nicht mehr. Robespierre, der Abgott des Volkes, war von unbestechlicher Ehrlichkeit, mißtrauisch und unzugänglich. Man mußte also Marat umgarnen und sich sein Wohlwollen sichern, für den Tag, wo er Diktator wurde, und alles deutete darauf hin: seine Popularität, sein Ehrgeiz, seine Vorliebe für große Mittel. Und vielleicht gelang es ihm auch, die Ordnung, die Finanzen, den Wohlstand wiederherzustellen. Mehrfach war er gegen die Heißsporne aufgetreten, die ihn im Patriotismus überboten, und seit einiger Zeit denunzierte er die »Demagogen« fast ebenso wie die Gemäßigten. Nachdem er das Volk aufgestachelt hatte, die Kornwucherer in ihren geplünderten Läden aufzuknüpfen, ermahnte er die Bürger zur Ruhe und Besonnenheit; er wurde zum Herrscher.
Trotz mancher Gerüchte, die über ihn wie über andre Revolutionsmänner ausgesprengt wurden, hielten die Börsenjobber ihn für unbestechlich; aber sie kannten ihn auch als eitel und leichtgläubig. Sie hofften, ihn durch Schmeichelei und vor allem durch herablassende Vertraulichkeit zu gewinnen, die sie ihrerseits für die bestechendste Schmeichelei hielten. Durch seine Vermittlung gedachten sie alle Werte, die sie kaufen und verkaufen wollten, steigen und fallen zu lassen, und während er ihren Interessen diente, sollte er wähnen, nur im Dienste der öffentlichen Wohlfahrt zu handeln. Die Bürgerin Rochemaure, eine große Intrigantin, wiewohl noch im liebesfähigen Alter, hatte die Anknüpfung von Beziehungen zwischen dem Bankier und dem gesetzgebenden Journalisten übernommen, und in ihrer überhitzten Einbildungskraft malte sie sich bereits den Mann aus dem Keller, dessen Hände vom Blute der Septembermorde noch rot waren, als Werkzeug der Finanzclique aus, deren Agentin sie war. Im Geiste sah sie, wie er just durch seine Empfindlichkeit und Lauterkeit in die Welt des Agio verstrickt ward, jene ihr so liebe Welt von Kornwucherern, Armeelieferanten, geheimen Agenten des Auslandes, Spielhaltern und galanten Damen.
Sie ließ nicht nach, den Bürger Gamelin zu bitten, sie bei dem Volksfreunde einzuführen. Dieser wohnte in nächster Nähe, in der Rue des Cordeliers dicht bei der Kirche. Nach einigem Widerstreben gab der Maler dem Wunsche der Bürgerin nach.
Der Dragoner Henri wurde aufgefordert, mitzukommen, lehnte dieses aber mit der Begründung ab, daß er seine Freiheit selbst einem Marat gegenüber wahren wollte. Der hätte der Republik zwar Dienste geleistet, flaute jetzt aber schon ab: hätte er dem Volke von Paris doch in seiner Zeitung Resignation empfohlen!
Und mit melodischer Stimme und langen Seufzern beklagte der junge Krieger das Los der Republik, die von denen verraten würde, auf die sie gebaut hätte. Danton widersetzte sich einer Besteuerung der Reichen; Robespierre erklärte sich gegen die Permanenz der Bezirksversammlungen und Marat brach durch mattherzige Ratschläge den patriotischen Schwung. »Oh!« rief er, »wie schwach erscheinen diese Männer neben Leclerc und Jacques Roux! . . . Roux! Leclerc! Ihr seid die wahren Volksfreunde!«
Gamelin hörte diese Reden, die ihn empört hätten, nicht: er war ins Nebenzimmer gegangen, um seinen blauen Rock anzuziehen.
»Sie können stolz sein auf Ihren Sohn«, sagte die Bürgerin Rochemaure zu Gamelins Mutter. »Er ist groß an Talent wie an Charakter.«
Die Bürgerin Gamelin stellte ihrem Sohn ein gutes Zeugnis aus, ohne jedoch vor dieser vornehmen Dame mit ihm zu prahlen, denn sie hatte als Kind gelernt, daß die erste Pflicht der kleinen Leute die Bescheidenheit gegen die Großen ist. Doch sie klagte gern ihr Leid; an Anlaß fehlte es nicht, und das Klagen erleichterte ihr das Herz. Glaubte sie von einem Menschen, daß er ihr Unglück lindern könnte, so erging sie sich lang und breit darüber, und Frau von Rochemaure schien ihr zu jenen Leuten zu gehören. So benützte sie denn den günstigen Augenblick und erzählte in einem Atem, wie schlecht es ihnen beiden ging und wie sie fast verhungerten. Kein Mensch kaufte mehr Bilder, die Revolution hatte Handel und Wandel vernichtet. Die Lebensmittel waren rar und unerschwinglich . . .
Alle diese Klagen sprudelte die gute Frau mit ihren weichlichen Lippen und ihrer dicken Zunge hervor, um nur ja fertig zu sein, bevor ihr Sohn wiederkam, dessen Stolz dieses Jammern gemißbilligt hätte. In kürzester Frist suchte sie diese Dame, die offenbar reich war und gute Beziehungen hatte, zu rühren und am Geschick ihres Sohnes zu interessieren. Und Evarists Schönheit, das merkte sie wohl, half ihr, eine so vornehme Dame zu rühren.
In der Tat zeigte die Bürgerin Rochemaure Mitgefühl; der Gedanke an Evarists und der Mutter Entbehrungen bewegte sie, und sie sann nach, wie sie sie lindern könnte. Sie wollte reiche Freunde bestimmen, Bilder von ihm zu kaufen. – »Denn«, wie sie lächelnd sagte, »es gibt noch Geld in Frankreich. Es kommt nur nicht zum Vorschein.«
Oder noch besser: da die Kunst doch tot war, so wollte sie Evarist eine Stellung bei Morhardt oder bei den Gebrüdern Perregaux verschaffen, oder einen Posten als Schreiber bei einem Armeelieferanten.
Dann wieder schien ihr das nicht das Rechte für einen Mann von seinem Charakter, und nach kurzem Besinnen machte sie eine Gebärde, daß sie es gefunden hätte.
»Es sind noch mehrere Geschworene am Revolutionstribunal zu ernennen«, erklärte sie. »Ihr Sohn muß Geschworener, Beamter werden. Ich habe Beziehungen zu den Mitgliedern des Wohlfahrtsausschusses, ich kenne den älteren Robespierre; sein Bruder ißt häufig bei mir zu Abend. Ich werde mit ihnen reden. Sie sollen mit Montané, Fouquier, Dumas sprechen.«
Die Bürgerin Gamelin war bewegt und dankerfüllt. Sie legte den Finger auf den Mund: Evarist trat eben ins Atelier. Er geleitete die Bürgerin Rochemaure die dunkle Stiege hinab, deren getäfelte Holzstufen von einer dicken Schmutzschicht bedeckt waren.
Die Sonne stand schon tief, als sie über den Pont-Neuf schritten, und der Sockel des früheren Bronzepferdes, der jetzt mit den Nationalfarben bewimpelt war, warf lange Schatten. Ein großer Volkshaufe, zu kleinen Gruppen gesondert, lauschte einigen leise sprechenden Bürgern. Die verblüffte Menge schwieg still; nur manchmal wurden Stöhnen und Zornesrufe laut. Ein Haufe eilte nach der Rue de Thionville (vormals Rue Dauphine). Als Gamelin sich einer der Gruppen näherte, erfuhr er, daß Marat ermordet sei.
Die Nachricht wurde bestätigt und allmählich vervollständigt. Er war im Bade ermordet worden, von einer Frau, die zu diesem Verbrechen eigens aus Caen gekommen war. Einige glaubten, die Mörderin sei entflohen, die meisten jedoch behaupteten, sie sei gefangengenommen. Alle standen sie da wie eine Herde ohne Hirten und dachten:
Marat, der gefühlvolle, menschliche, wohltätige Marat ist nicht mehr da, uns zu leiten, er, der Unbeirrbare, der alles erriet, der den Mut hatte, alles aufzudecken! . . . Was tun? Was soll nun werden? Wir haben unsern Ratgeber verloren, unsern Freund, unsern Beschützer!
Sie wußten, woher der Schlag kam, und wer den Arm dieses Weibes geführt hatte.
»Marat«, so seufzten sie, »fiel unter den Händen der Verbrecher, die uns vernichten wollten. Sein Tod ist das Zeichen zur Abschlachtung aller Patrioten.«
Die näheren Umstände dieses tragischen Mordes und die letzten Worte des Ermordeten wurden verschieden berichtet. Man erkundigte sich nach der Mörderin, von der man nur wußte, daß es ein junges Weib war, ein Werkzeug der föderalistischen Verräter. Die Bürgerinnen krallten die Nägel und bleckten die Zähne; sie fanden die Guillotine zu mild für dies Scheusal und verlangten Auspeitschung, Rad und Vierteilung, ja sie ersannen neue Martern.
Nationalgarden zerrten einen Mann von entschlossener Miene zum Bezirkshause. Sein Anzug war zerrissen, Blutfäden rannen über sein bleiches Gesicht. Man hatte ihn bei den Worten ertappt, daß Marat sein Schicksal verdient hätte, da er immerfort zu Mord und Plünderung aufgereizt hätte. Nur mit großer Mühe hatten ihn die Garden der Volkswut entrissen. Man wies mit dem Finger auf ihn, als sei er ein Mitschuldiger der Mörderin, und wo er vorbeikam, wurden Todesdrohungen laut.
Gamelin stand niedergeschmettert. Ein paar kleine Tränen versiegten in seinen Augen. In seinen persönlichen Schmerz mischten sich patriotische Sorgen und das Mitleid des Volkskindes, sein ganzes Wesen aufwühlend.
Er dachte:
Erst Le Peltier, dann Bourdon, und nun Marat! . . . Ich erkenne das Schicksal der Patrioten; auf dem Marsfeld, in Nancy, überall werden sie ermordet. Und er dachte an den Verräter Wimpfen, der erst kürzlich an der Spitze einer Horde von sechzigtausend Royalisten auf Paris marschiert war. Wären ihm in Vernon die braven Patrioten nicht entgegengetreten, so hätte er die geächtete Stadt der Helden mit Feuer und Schwert verwüstet.
Und wie viele Gefahren drohten noch, wie viele verbrecherische Anschläge und Verrätereien, die allein Marats Wachsamkeit und Weisheit durchschauen und vereiteln konnte! Wer würde nun Custine anklagen, der müßig im Feldlager stand und Valenciennes nicht entsetzen wollte, oder Biron, der in der unteren Vendée tatenlos zusah, wie Saumur genommen und Nantes belagert wurde, oder Dillon, der in den Argonnen das Vaterland verriet? . . .
Inzwischen erscholl ringsum immer lauter der schicksalsvolle Ruf:
»Marat ist tot! Die Aristokraten haben ihn ermordet!«
Das Herz von Schmerz, Haß und Liebe geschwellt, machte er sich auf, um dem Märtyrer der Freiheit die letzte Ehre zu erweisen, als eine alte Bäuerin in einer Limousinhaube auf ihn zutrat und ihn fragte, ob der ermordete Herr Marat etwa der Herr Pfarrer Mara aus Saint-Pierre-de Queyroix wäre?