Anatole France
Die Götter dürsten
Anatole France

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Neuntes Kapitel

Evarist Gamelin sollte am 14. September sein Amt antreten, nach der Reorganisation des Gerichts, das in Zukunft in vier Sektionen zu je fünfzehn Geschworenen zerfiel. Die Gefängnisse waren überfüllt; der Staatsanwalt arbeitete täglich achtzehn Stunden. Den Niederlagen der Heere, den Aufständen der Provinzen, den Verschwörungen, Komplotten und Verrätereien setzte der Konvent den Schrecken entgegen. Die Götter dürsten . . .

Das erste, was der neue Geschworene tat, war ein Antrittsbesuch beim Präsidenten Hermann, der ihn durch die Sanftmut seiner Sprache und seine liebenswürdigen Umgangsformen bezauberte. Als Landsmann und Freund Robespierres, dessen Anschauungen er teilte, besaß er ein gefühlvolles, tugendhaftes Herz. Er war tief durchdrungen von jenen Gefühlen der Menschlichkeit, die den Herzen der Richter so lange fremd waren, und die den ewigen Ruhm eines Dupaty und Beccaria bilden. Er freute sich über die milderen Sitten, die sich in der Justiz durch die Aufhebung der Folter und der schändenden oder grausamen Strafen äußerten. Er freute sich zu sehen, daß die Todesstrafe, mit der man früher so verschwenderisch umgegangen war, und die noch vor kurzem zur Bestrafung der geringsten Delikte diente, seltener wurde und nur noch bei großen Verbrechen in Anwendung kam. Er selbst hätte sie ebensogern abgeschafft wie Robespierre, außer bei Vergehen gegen die öffentliche Sicherheit. Aber er hätte es für Staatsverrat gehalten, wenn die Verbrechen gegen die Volkssouveränität nicht mit dem Tode gesühnt worden wären.

Alle seine Kollegen waren der gleichen Ansicht; die alte monarchische Vorstellung von der Staatsräson erfüllte das Revolutionstribunal. Achthundert Jahre des Absolutismus hatten die Beamten erzogen, und nach den Grundsätzen des Gottesgnadentums richtete man die Feinde der Freiheit. Evarist Gamelin machte noch am selben Tage seinen Besuch beim Staatsanwalt, dem Bürger Fouquier; dieser empfing ihn in seinem Kabinett, wo er mit seinem Schreiber arbeitete. Er war ein kräftiger Mann mit rauher Stimme und Katzenaugen. Sein breites, pockennarbiges Gesicht war fahl und verriet die Schädlichkeit der sitzenden Lebensweise und der Zimmerluft für einen kräftigen Mann, der für den Aufenthalt im Freien und für körperliche Anstrengung geschaffen war. Die Aktenstöße türmten sich ringsum wie die Mauern eines Grabes, und offenbar liebte er diese furchtbaren Papiermassen, die ihn zu ersticken drohten. Seine Worte waren die eines fleißigen, pflichttreuen Beamten, dessen Geist über den Kreis seiner Amtsgeschäfte nicht hinausreicht. Sein heißer Atem roch nach Branntwein, den er aber nur trank, um sich frisch zu halten, und der ihm anscheinend nicht zu Kopfe stieg, so klar waren seine durchaus beschränkten Reden.

Er lebte in einer kleinen Wohnung des Justizpalastes mit seiner jungen Frau, die ihm Zwillinge geboren hatte, sowie mit seiner Tante Henriette und der Magd Pélagie, gegen die er sanft und menschlich war. Kurz, er war ein ausgezeichneter Familienvater und ein guter Jurist, ohne viel Ideen und ohne die mindeste Einbildungskraft.

Gamelin bemerkte nicht ohne ein gewisses Mißbehagen, wie sehr diese Beamten der neuen Weltordnung in Geist und Benehmen denen der alten Zeit glichen. Der Grund war der: Hermann war General-Prokurator am Landgericht von Artois gewesen, und Fouquier war ein alter Staatsanwalt vom Châtelet. Sie hatten ihren Charakter behalten. Aber Evarist Gamelin glaubte an die Wiedergeburt durch die Revolution. Nach Verlassen des Büros ging er durch die Bogengänge des Justizpalastes und blieb vor den Verkaufsbuden stehen, wo allerlei Waren kunstvoll ausgelegt waren. Vor dem Buchladen der Bürgerin Ténot blätterte er in historischen, politischen und philosophischen Werken, wie: »Die Ketten der Sklaverei«, »Versuch über den Despotismus«, »Die Verbrechen der Königinnen«. Recht so, dachte er, das sind republikanische Schriften! Und er fragte die Buchhändlerin, ob sie viel gekauft würden. Sie schüttelte den Kopf.

»Man verlangt nur Gassenhauer und Romane.«

Sie zog einen kleinen Band aus einer Schublade und sagte: »Dies ist was Feines«

Evarist las den Titel: »Die Nonne im Hemde.«

Vor dem Nebenladen traf er Philipp Demahis. Er stand stolz und zärtlich zwischen den wohlriechenden Wassern, den Puderbüchsen und Sachets der Bürgerin Saint-Jorre und schwor der schönen Verkäuferin seine Liebe. Er versprach ihr, sie zu malen, und bat sie um ein kurzes Stelldichein am Abend im Tuileriengarten. Er war schön. Die Überredung sprudelte von seinen Lippen und sprühte aus seinen Blicken. Die Bürgerin Saint-Jorre hörte ihm stillschweigend zu und schlug halb überredet die Augen nieder.

Um das furchtbare Amt, das ihm anvertraut war, näher kennenzulernen, wollte der neue Geschworene sich unter das Volk mischen und einer Gerichtssitzung beiwohnen. Er stieg die Treppe hinauf, auf der eine Menge Menschen wie auf den Stufen eines Theaters saßen, und betrat den Saal des früheren Parlamentsgerichts von Paris.

Man drückte sich halbtot, um einen General zu sehen. Denn damals, wie der alte Brotteaux sagte, stellte der Konvent nach dem Vorbild Seiner Majestät des Königs von England die besiegten Generale vor Gericht, in Ermangelung der verräterischen Generale, die sich dem Urteil entzogen. »Ein besiegter General«, setzte Brotteaux hinzu, »braucht zwar nicht notwendig ein Verbrecher zu sein, denn einer muß schließlich in jeder Schlacht unterliegen. Aber nichts schwellt den andern so sehr den Mut, als ein Todesurteil über einen General . . .«

Schon waren mehrere auf die Anklagebank gekommen, lauter leichtsinnige, dickköpfige Soldaten mit Vogelhirnen in Ochsenschädeln. Der letzte wußte über die Schlachten und Belagerungen, die er befehligt hatte, nicht mehr als die Beamten, die ihn verhörten. Anklage und Verteidigung verloren sich in Einzelheiten von Truppenstärken, Kriegsmaterial, Märschen und Gegenmärschen. Und die Schar der Bürger, die diesen dunklen und endlosen Debatten folgte, sah hinter dem einfältigen Heerführer das dem Feind offenstehende, zerrissene Vaterland, das tausendfältigen Tod erlitt. Mit Blick und Stimme drängte man die ruhig auf ihrer Bank sitzenden Geschworenen, ihr Verdikt wie einen Keulenschlag auf die Feinde der Republik herabzuschmettern.

Evarist fühlte es brennend, was in diesem Elenden gestraft werden sollte; es waren die beiden Ungeheuer, welche die Republik zerrissen: Aufstand und Niederlage. Es galt wahrlich zu wissen, ob dieser General schuldig oder schuldlos war! Wenn die Vendée wieder Mut schöpfte, wenn Toulon sich dem Feinde auslieferte, wenn die Rheinarmee vor den Siegern von Mainz zurückwich, wenn ein Handstreich der Österreicher, der Engländer oder der Holländer, die im Besitz von Valenciennes waren, die im Feldlager stehende Nordarmee vernichten konnte, so mußten die Generale Befehl erhalten, zu siegen oder zu sterben. Und wie Gamelin diesen schwachen, verstörten Soldaten sah, der sich bei seinem Verhör in seinen Karten verirrte, wie er sich in den nordischen Ebenen verirrt hatte, verließ er schleunigst den Saal, um nicht in den Ruf: »Aufs Schafott!« einzustimmen.

In der Bezirksversammlung empfing der neue Geschworene die Glückwünsche des Präsidenten Olivier. Der ließ ihn am alten Hauptaltar der Barnabiten, dem jetzigen Altar des Vaterlandes, schwören, im heiligen Namen der Menschheit alle menschliche Schwäche abzutun.

Mit erhobener Schwurhand gelobte es Gamelin bei den hehren Manen Marats, des Märtyrers der Freiheit, dessen Büste an einem Pfeiler der früheren Kirche, gegenüber der Büste Le Peltiers, angebracht war.

Beifall erscholl, von Murren unterbrochen. Die Versammlung war erregt. Am Eingang des Kirchenschiffes lärmte ein Haufe pikentragender Bezirksmitglieder.

»Es ist antirepublikanisch«, erklärte der Präsident, »in einer Versammlung freier Männer Waffen zu tragen.«

Und er befahl, die Flinten und Piken sofort in die frühere Sakristei zu schaffen.

Ein Buckliger mit lebhaften Augen und wulstigen Lippen, der Bürger Beauvisage vom Überwachungsausschuß, bestieg die zur Tribüne verwandelte Kanzel, die mit einer roten Mütze geschmückt war.

»Die Generale verraten uns«, sagte er; »sie liefern unsere Heere dem Feinde aus. Die Österreicher schieben Kavallerie bis nach Péronne und Saint-Quentin vor. Toulon hat sich den Engländern ergeben, die dort vierzehntausend Mann ausschiffen. Selbst im Schoße des Konvents verschwören sich die Feinde der Republik. In Paris schmiedet man zahllose Komplotte zur Befreiung der Österreicherin. In diesem Augenblick läuft das Gerücht um, daß der Sohn Capets aus dem Temple entronnen sei und im Triumph nach Saint-Cloud geführt werde. Man will ihn auf den Thron des Tyrannen setzen. Die Teuerung der Lebensmittel, die Entwertung der Assignate sind die Frucht der Machenschaften, die die Agenten des Auslandes in unsern Häusern, vor unsern Augen anzetteln. Im Namen der öffentlichen Wohlfahrt fordere ich den Bürger Geschworenen auf, die Verschwörer und Verräter unbarmherzig zu richten.«

Während er von der Tribüne herabstieg, erschollen Stimmen in der Versammlung:

»Nieder mit dem Revolutionstribunal! Nieder mit den Gemäßigten!«

Ein dicker Mensch mit blühenden Farben, der Bürger Dupont der Ältere, Tischler von der Place de Thionville, bestieg die Tribüne. Er wollte, wie er sagte, eine Anfrage an den Geschworenen richten. Und er fragte Gamelin, welche Stellung er gegenüber den Brissotisten und der Witwe Capet einnähme?

Evarist war schüchtern und verstand nicht öffentlich zu reden. Aber die Entrüstung ergriff ihn. Er stand auf und sagte bleich und mit dumpfer Stimme:

»Ich bin Beamter. Mein Gewissen ist meine einzige Richtschnur. Jedes Versprechen, das ich hier ablegen würde, wäre pflichtwidrig. Ich soll vor Gericht reden, aber sonst überall schweigen. Ich kenne euch nicht mehr. Ich bin Richter; ich kenne weder Freunde noch Feinde.«

Die Versammlung war uneins, unsicher und schwankend, wie alle Versammlungen. Man klatschte Beifall. Doch der Bürger Dupont wiederholte seine Frage: er verzieh es Gamelin nicht, daß er jetzt ein Amt bekleidete, nach dem er selbst gestrebt hatte.

»Ich begreife«, fuhr er fort, »ja ich billige die Bedenken des Bürgers Geschworenen. Er gilt für patriotisch; möge er sich prüfen, ob sein Gewissen ihm erlaubt, in einem Gerichtshofe zu sitzen, der die Feinde der Republik vernichten soll, aber entschlossen ist, sie zu schonen. Es gibt Fälle von Mitschuld, denen ein guter Bürger sich entziehen muß. Ist es doch notorisch, daß mehrere Geschworene dieses Gerichtshofes sich von den Angeklagten bestechen ließen, ja daß der Präsident Montané eine Fälschung begangen hat, um den Kopf der Charlotte Corday zu retten!«

Bei diesen Worten hallte die Kirche von lautem Applaus wider. Der letzte Schall brach sich noch an den Wölbungen, als Fortuné Trubert die Tribüne bestieg. Er war in letzter Zeit sehr abgemagert. Sein Antlitz war bleich; die roten Backenknochen drangen spitz durch die Haut; seine Lider brannten, und die Augen waren verglast.

»Bürger!« rief er mit schwacher, keuchender und doch merkwürdig durchdringender Stimme, »man darf das Revolutionsgericht nicht verdächtigen, ohne zugleich den Konvent und den Wohlfahrtsausschuß, von dem es abhängt, anzuklagen. Der Bürger Beauvisage hat uns beunruhigt mit der Angabe, daß der Präsident Montané das Verfahren zugunsten einer Schuldigen beeinflußt hat. Warum fügte er zu unserer Beruhigung nicht hinzu, daß Montané auf Anzeige des Staatsanwalts abgesetzt und eingekerkert worden ist? . . . Kann man der öffentlichen Wohlfahrt nicht dienen, ohne überall Verdacht auszustreuen? . . . Gibt es keine Talente, keine Tugenden mehr im Konvent? Sind Robespierre, Couthon, Saint-Just keine Ehrenmänner? Es ist auffällig, daß die heftigsten Reden stets von solchen kommen, die nie für die Republik gekämpft haben! Wenn sie so reden, machen sie sie nur verächtlich . . . Bürger: weniger Lärm und mehr Arbeit! Mit Kanonen, nicht mit Geschrei retten wir Frankreich. Die Hälfte der Keller des Bezirks ist noch nicht ausgelaugt. Mehrere Bürger halten noch beträchtliche Mengen von Bronze zurück. Wir erinnern die Reichen, daß patriotische Gaben für sie die beste Sicherheit sind. Eurer Wohltätigkeit empfehle ich die Frauen und Töchter unserer Soldaten, die sich an der Grenze und an der Loire mit Ruhm bedecken. Einer von ihnen, der Husar Augustin Pommier, früher Kellner aus der Rue de Jérusalem, wurde am 10. letzten Monats vor Coudé, als er Pferde zur Tränke führte, von sechs österreichischen Reitern angefallen. Er tötete zwei und nahm die anderen gefangen. Ich beantrage, daß der Bezirk erklärt: Augustin Pommier hat seine Pflicht getan.«

Diese Rede fand Beifall, und die Bezirksmitglieder trennten sich mit dem Rufe: »Vive la République!«

Gamelin, der allein mit Trubert in der Kirche zurückblieb, drückte diesem die Hand:

»Ich danke dir! Wie geht's?«

»Mir? Ausgezeichnet! Ausgezeichnet!« antwortete Trubert, indem er, plötzlich aufhustend, Blut in sein Taschentuch spie. »Die Republik hat viele äußere und innere Feinde, und unser Bezirk allein hat recht viele. Aber die Staaten werden nicht mit Geschrei, sondern mit Eisen und mit Gesetzen gegründet . . . Guten Abend, Gamelin! Ich habe ein paar Briefe zu schreiben.«

Und er ging, mit dem Taschentuch vor den Lippen, in die ehemalige Sakristei.

Die Bürgerin Gamelin trug ihre Kokarde jetzt fester am Hute und hatte in kürzester Frist bürgerlichen Anstand und republikanischen Stolz angenommen. Sie benahm sich jetzt würdig, wie es der Mutter eines Geschworenen ziemt. Die Achtung vor der Justiz, in der sie aufgewachsen, die Ehrerbietung vor der Richterrobe, die sie von klein auf empfunden, der heilige Schrecken, der sie stets beim Anblick jener Männer ergriffen, denen Gott sein Recht über Leben und Tod hienieden anvertraut hat, alle diese Gefühle machten ihr ihren Sohn, den sie bis vor kurzem noch für ein halbes Kind hielt, ehrwürdig, hehr und heilig. In ihrem schlichten Sinne empfand sie die Fortdauer der Justiz in den Wirren der Revolution so lebhaft, wie die Gesetzgeber des Konvents die Kontinuität des Staates trotz des Wechsels der Regierungsform fühlten, und das Revolutionstribunal erschien ihr nicht minder majestätisch als alle früheren Gerichtshöfe, die sie zu verehren gelernt.

Der Bürger Brotteaux bezeigte dem jungen Geschworenen eine mit Überraschung gemischte Anteilnahme und eine erzwungene Ehrerbietung. Wie die Bürgerin Gamelin, sah auch er die Fortdauer der Justiz unter allen Regierungsformen; doch im Gegensatz zu der guten Frau verachtete er die Revolutionsgerichte genau so wie die Gerichtshöfe der alten Zeit. Diesen Gedanken wagte er zwar nicht offen auszudrücken, aber stillschweigen konnte er auch nicht; und so erging er sich denn in Paradoxien, von denen Gamelin nur so viel verstand, daß er ihn für gesinnungslos hielt.

»Das hohe Gericht, in dem Sie alsbald sitzen werden,« sagte er einmal zu ihm, »ist vom französischen Senat zur Wohlfahrt der Republik eingesetzt. Es war gewiß ein tugendhafter Gedanke unsrer Gesetzgeber, ihren Feinden Richter zu geben. Diesen Edelsinn begreife ich wohl, doch politisch scheint er mir nicht. Mir dünkt, es wäre geschickter gewesen, ihre unversöhnlichsten Gegensätze im stillen fortzuräumen und die übrigen durch Geschenke oder Versprechungen zu gewinnen. Gerichtsurteile werden langsam gefällt und rufen mehr Furcht als Schaden hervor; sie dienen vor allem zur Abschreckung. Ihr Nachteil besteht darin, daß sie alle, die dadurch erschreckt werden, zu Leidensgenossen machen; und so entsteht aus einem Haufen entgegengesetzter Interessen und Leidenschaften eine große Partei, die zu gemeinsamen und gefährlichen Taten schreiten kann. Sie säen Furcht aus; aber noch mehr als der Mut bringt die Furcht Helden hervor. Möge es Ihnen erspart bleiben, Bürger Gamelin, eines Tages Wunder an Furcht gegen sich ausbrechen zu sehen!«

Der Kupferstecher Demahis hatte sich in jener Woche in eine Dirne vom Palais Egalité vergafft, in die braune Flora, ein baumlanges Geschöpf. Trotzdem nahm er sich fünf Minuten Zeit, um seinen Gefährten zu beglückwünschen. Eine derartige Ernennung, so erklärte er, sei eine große Ehre für die Kunst.

Die zärtliche Elodie verabscheute zwar unbewußt alles Revolutionäre und sah im öffentlichen Dienste die gefährlichste Nebenbuhlerschaft, die ihr das Herz ihres Geliebten abspenstig machen konnte. Trotzdem unterlag auch sie dem Einfluß eines Beamten, der berufen war, Urteile in Kapitalverbrechen zu fällen. Im übrigen hatte seine Ernennung zum Geschworenen die angenehmsten Wirkungen, die seiner Empfindlichkeit schmeichelten. So erschien der Bürger Jean Blaise persönlich im Atelier an der Place de Thionville und umarmte den Geschworenen mit überschwänglicher männlicher Zärtlichkeit.

Wie alle Gegenrevolutionäre, bezeigte er den republikanischen Machthabern Hochachtung, und seit er als Armeelieferant wegen Unterschleifs angezeigt war, flößte ihm das Revolutionsgericht eine heilige Scheu ein. Er stand zu sehr im Vordergrund und war an zu vielen Geschäften beteiligt, um sich ganz sicher zu fühlen, und so erschien ihm der Bürger Gamelin als einer, mit dem man behutsam umgehen mußte. Und schließlich war er doch ein guter Bürger und ein Freund des Gesetzes . . .

Er reichte dem Maler und Geschworenen die Hand, war vertraulich und patriotisch, zeigte sich als Gönner der Kunst und als Freiheitsfreund. Hochherzig drückte Gamelin seine breit dargebotene Hand.

»Bürger Evarist Gamelin,« sagte Jean Blaise »ich erhebe Anspruch auf Ihre Freundschaft und auf Ihr Talent. Ich lade Sie für morgen zu einem zweitägigen Ausflug ein; Sie sollen zeichnen, und wir werden uns unterhalten.«

Der Kunsthändler machte alljährlich mehrere Landpartien in Gesellschaft von Malern, die nach seinen Angaben Landschaften und Ruinen malten. Er verstand sich auf das, was dem Publikum gefiel, und brachte von diesen Ausflügen Skizzen heim, die im Atelier ausgeführt und dann geistreich gestochen, als Rötelzeichnungen oder farbige Radierungen viel Geld einbrachten. Nach diesen Skizzen ließ er auch Sopraporten und Spiegelumrahmungen malen, die sich ebensogut und noch besser verkauften als die Dekorationsstücke von Hubert Robert.

Diesmal wollte er den Bürger Gamelin mitnehmen, um Ruinen nach der Natur zu zeichnen; so sehr war der Geschworene in seiner Achtung als Maler gestiegen. Zwei andere Künstler waren mit eingeladen: der Kupferstecher Demahis und der unbekannte Philipp Dubois, der im Genre von Robert sehr tüchtig arbeitete. Nach alter Gewohnheit nahm die Bürgerin Elodie mit ihrer Freundin, Fräulein Hazard, an der Landpartie teil. Und Jean Blaise, der über seinen Geschäften sein Vergnügen nicht vergaß, hatte auch die Bürgerin Thévenin aufgefordert, eine Schauspielerin vom Baudeville, die für seine Freundin galt.


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