Anatole France
Die Götter dürsten
Anatole France

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Neunzehntes Kapitel

Während der Pater Longuemare und die Dirne Athenais im Bezirkshause verhört wurden, führte man Brotteaux zwischen zwei Gendarmen ins Luxembourg-Gefängnis, dessen Pförtner ihn aus Platzmangel abwies. Der alte Zöllner wurde nun in die Conciergerie gebracht und ins Bureau geführt, einen kleinen Raum, der durch eine Zwischenwand mit Glasfenstern geteilt war. Während der Schreiber ihn ins Register eintrug, sah Brotteaux durch die Scheiben zwei Männer, die wie tot auf schlechten Matratzen lagen und vor sich hinstarrten, als ob sie nichts sähen. Der Boden ringsum war mit Tellern, Flaschen, Brot- und Fleischresten bedeckt. Es waren Verurteilte, die auf den Henkerkarren warteten . . .

Der frühere Des Ilettes wurde in eine Kerkerzelle geführt, wo er beim Schein einer Laterne zwei liegende Gestalten erblickte, die eine wild, entstellt, abstoßend, die andre anmutig und sanft. Die beiden Gefangenen räumten ihm ein Plätzchen auf ihrem faulen, von Ungeziefer wimmelnden Stroh ein, damit er nicht auf dem mit Unrat beschmutzten Fußboden zu liegen brauchte. Brotteaux ließ sich in der stinkenden Dunkelheit auf eine Bank sinken und blieb, den Kopf gegen die Wand gelehnt, stumm und regungslos sitzen. Sein Schmerz war so heftig, daß er mit dem Kopf gegen die Wände gerannt wäre, wenn er die Kraft dazu gehabt hätte. Der Atem versagte ihm; seine Augen umflorten sich, ein langes Brausen, ruhig wie die Stille, erfüllte seine Ohren; sein ganzes Wesen versank in ein köstliches Nichts. Eine unvergleichliche Sekunde lang war für ihn alles Harmonie, heitere Klarheit, Duft und Süße. Dann schwand sein Bewußtsein.

Als er wieder zu sich kam, war der erste Gedanke, der seinen Geist ergriff, ein Zurücksehnen der Bewußtlosigkeit. Dann bedachte er als Philosoph, der er bis in die dumpfe Verzweiflung hinein blieb, daß er, bevor er guillotiniert wurde, in ein Kerkerloch hatte hinabsteigen müssen, um das lebhafteste Glück zu empfinden, das seine Sinne ihm je beschert hatten. Er versuchte von neuem jedes Gefühl zu verlieren, doch es gelang ihm nicht; im Gegenteil, er fühlte mehr und mehr, wie die Pestluft dieses Kerkers, die seine Lungen erfüllte, ihm mit der Lebenswärme das Bewußtsein seines unerträglichen Elends brachte.

Am Morgen brachte der Gefängniswärter ihm seine Suppe und versprach ihm, wenn er zahlte, eine bessere Zelle mit eigener Beköstigung, sobald Platz wäre, was nicht lange dauern könnte. In der Tat holte er den alten Finanzmann schon am zweiten Tage aus seinem Kerker. Bei jeder Stufe, die er emporstieg, fühlte Brotteaux seine Lebenskraft zurückkehren, und als er auf den roten Steinfliesen einer Zelle ein Gurtbett mit einer üblen Wolldecke stehen sah, weinte er Freudentränen. Das vergoldete Bett mit den schnäbelnden Tauben, das er einst für die schönste Tänzerin der Oper hatte anfertigen lassen, war ihm nicht so köstlich erschienen und hatte ihm nicht solche Wonne verheißen.

Dieses Gurtbett stand in einem großen, ziemlich reinlichen Saal neben siebzehn andern, die durch hohe Bretterwände abgetrennt waren. Die Leute, die hier wohnten, frühere Adlige, Kaufleute, Bankiers und Handwerker, gefielen dem alten Zollpächter, der sich mit Menschen jedes Schlages zu stellen wußte. Er bemerkte, daß diese Menschen, die gleich ihm jeder Freude beraubt waren, und die von Henkers Hand sterben sollten, lustig und sehr zu Neckereien aufgelegt waren. Da er die Menschen gering schätzte, so hielt er die gute Laune seiner Mitgefangenen für Leichtsinn und glaubte, daß sie sich von ihrer Lage keinen rechten Begriff machten. In dieser Ansicht bestärkte ihn die Wahrnehmung, daß die Klügsten unter ihnen tief traurig waren. Bald bemerkte er jedoch, daß die Lustigkeit der meisten von Wein- und Schnapsgenuß kam, wodurch sie etwas Heftiges, ja bisweilen Tolles erhielt. Nicht alle waren mutig, aber alle taten so. Dies überraschte Brotteaux nicht. Er wußte, daß die Menschen gern ihre Grausamkeit, ihren Zorn, ja selbst ihren Geiz zugeben, aber nie ihre Feigheit, denn dieses Geständnis würde sie bei den Wilden, ja selbst unter zivilisierten Menschen in Lebensgefahr bringen. Deshalb, dachte er, sind alle Völker so tapfer, und alle Heere bestehen nur aus Helden. Doch mehr noch als durch Wein und Branntwein wurden die Gefangenen durch das Klirren der Waffen und Schlüssel, das Knarren der Schlösser und den Ruf der Wachen, den Schall der Schritte vor der Tür des Gerichtssaales berauscht und in Schwermut, in Taumel oder Raserei versetzt. Es kam vor, daß sich einer mit einem Rasiermesser die Kehle durchschnitt oder sich zum Fenster hinausstürzte.

Brotteaux war seit drei Tagen in Selbstbeköstigung, als er durch den Schließer hörte, daß der Pater Longuemare auf dem faulen, von Ungeziefer wimmelnden Stroh bei den Dieben und Mördern elend verkam. Er sorgte dafür, daß er in sein Zimmer heraufgebracht wurde, wo ein Bett freigeworden war. Doch da der alte Zollpächter, der sich verpflichtet hatte, für den Mönch zu zahlen, selbst keine großen Schätze besaß, so kam er auf den Einfall, Porträts für einen Taler zu malen. Durch einen Gefängniswärter verschaffte er sich kleine schwarze Rahmen, in die er ziemlich geschickt gemachte Arbeiten aus Haaren einsetzte. Solche Arbeiten wurden sehr gesucht in einem Kreise von Menschen, die gern ein Andenken hinterlassen wollten.

Der Pater Longuemare blieb stark an Herz wie an Geist. In Erwartung seiner Vorladung vor das Revolutionstribunal bereitete er seine Verteidigung vor. Er trennte seine Sache nicht von der der Kirche und hatte sich vorgenommen, seinen Richtern die Mißstände und Ärgernisse vorzuhalten, welche die bürgerliche Gesetzgebung der Braut Christi bereitete. Er wollte ihnen darstellen, wie die älteste Tochter der Kirche einen gotteslästerlichen Krieg mit dem Papste führte, wie der französische Klerus ausgeplündert, vergewaltigt, dem Laienregiment schnöde unterworfen, wie die Ordensgeistlichen, die wahren Gottesstreiter, beraubt und auseinandergesprengt wurden. Er zitierte Gregor den Großen und den heiligen Irenäus, führte zahlreiche Artikel des kanonischen Rechts und lange Paragraphen der Dekretalien an.

Den ganzen Tag über saß er am Fuße seines Bettes und kritzelte auf seinen Knien, tauchte Federkiele, die bis an die Feder abgenutzt waren, in Tinte, Ruß, Kaffeesatz und bedeckte Fidibusse, Packpapiere, Zeitungen, Bücherhüllen, alte Briefe, Rechnungen und Spielkarten mit unlesbarer Schrift; ja, er dachte schon daran, auf sein Hemd zu schreiben, nachdem er es hatte stärken lassen. Er häufte Blatt auf Blatt, und auf dieses unlesbare Geschreibsel weisend, sagte er: »Wenn ich vor meine Richter trete, werde ich sie mit Licht überfluten.«

Eines Tages warf er einen befriedigten Blick auf seine immer mehr anschwellende Verteidigungsschrift und rief im Gedanken an die Richter, die es ihn zu überzeugen drängte: »Ich möchte nicht an ihrer Stelle sein . . .«

Die Gefangenen, welche das Schicksal in diesem Kerker vereinigt hatte, waren teils Royalisten, teils Föderalisten; ja sogar ein Jakobiner war darunter. Über die Art, wie die Staatsgeschäfte zu führen seien, gingen ihre Meinungen auseinander, aber keiner hatte mehr einen Hauch von Christentum. Die Feuillants, die Konstitutionellen und die Girondisten fanden wie Brotteaux den lieben Gott zwar sehr schlecht für sich selbst, aber ausgezeichnet fürs Volk. Die Jakobiner setzten an Stelle Jehovas einen Jakobinergott, um die Autorität des Jakobinertums zu erhöhen. Da aber keiner von ihnen, welcher Partei er auch angehörte, es faßte, daß ein Mensch so widersinnig sein könnte, an eine Offenbarungsreligion zu glauben, so hielten sie den Pater Longuemare für einen Schelm, zumal sie merkten, daß es ihm nicht an Geist fehlte. Ohne Zweifel, um sich auf sein Martyrium vorzubereiten, bekannte er bei jeder Gelegenheit seinen Glauben, und je ehrlicher er es meinte, um so mehr erschien er als Betrüger.

Umsonst verbürgte sich Brotteaux für die Ehrlichkeit des Mönches. Auch von ihm nahm man an, daß er nur einen Teil von dem glaubte, was er sagte. Seine Ideen waren zu absonderlich, um nicht für gekünstelt zu gelten, und sie befriedigten keinen vollständig. Von Rousseau sprach er wie von einem seichten Schwindler; dagegen versetzte er Voltaire unter die göttergleichen Menschen, ohne ihn jedoch dem liebenswürdigen Helvetius, Diderot oder dem Baron Holbach gleichzustellen. Nach seiner Meinung war Boulanger das größte Genie seiner Zeit. Auch den Astronomen Lalande sowie Dupois, den Verfasser einer »Denkschrift über die Entstehung der Gestirne«, schätzte er sehr. Die Witzbolde des Kreises suchten den armen Barnabiten auf alle Weise zu foppen, doch er merkte es nie; sein schlichter Sinn entging allen Fallen, die man ihm stellte.

Um die nagende Sorge zu verscheuchen und den Qualen des Müßigganges zu entgehen, spielten die Gefangenen Dame, Karten und Tricktrack, Musikinstrumente waren verboten. Nach dem Abendbrot sang man und sagte Verse auf. Voltaires »Pucelle« erfreute die Herzen dieser Unglücklichen etwas, und sie wurden nicht müde, die Kraftstellen anzuhören. Da sie aber den furchtbaren Gedanken, der ihnen tief im Herzen wurzelte, nicht loszuwerden vermochten, so versuchten sie ihn bisweilen ins Lächerliche zu ziehen und führten in ihrem Zimmer mit den achtzehn Betten, bevor sie einschliefen, das Revolutionstribunal auf. Die Rollen wurden je nach Geschmack und Fähigkeiten verteilt. Die einen spielten den Ankläger und die Richter, andre die Angeklagten oder die Zeugen. Diese Prozesse endeten jedesmal mit der Hinrichtung der Verurteilten, die auf ein Bett gelegt wurden mit dem Kopf unter ein Brett. Dann schloß sich die Höllenszene an. Die Behendesten der Truppe hüllten sich in Bett-Tücher und spielten Gespenster. Und ein kleiner Advokat aus Bordeaux, namens Dubosc, klein, schwarzhaarig, bucklig, einäugig und krummbeinig, der hinkende Teufel in Person, zog, mit Hörnern geschmückt, den Pater Longuemare an den Füßen aus seinem Bett und eröffnete ihm, daß er unwiderruflich zur ewigen Höllenpein verdammt sei, weil er den Weltenschöpfer zu einem neidischen, bösen und dummen Wesen gemacht hätte, zu einem Feinde der Liebe und Freude.

»Ah! Ah! Ah!« schrie der Teufel mit fürchterlicher Stimme, »du hast gelehrt, daß Gott es gern sieht, wenn seine Geschöpfe in Buße dahinsiechen und seinen holdesten Gaben entsagen . . . Betrüger, Heuchler, Scheinheiliger, setze dich auf Nägel und friß in alle Ewigkeit Eierschalen.«

Der Pater Longuemare begnügte sich mit der Antwort, daß in dieser Rede der Philosoph unter dem Teufel zum Vorschein käme, und daß der geringste Teufel in der Hölle weniger Unsinn geredet hätte und nicht so unwissend sei wie ein Enzyklopädist.

Wenn ihn aber der girondistische Advokat einen Kapuziner nannte, so wurde er zornrot und erklärte, daß ein Mensch, der Barnabiten nicht von einem Franziskaner zu unterscheiden vermöchte, auch keine Fliege in der Milch sehen könnte. – Das Revolutionstribunal sorgte für Leerung der Gefängnisse, welche die Ausschüsse unermüdlich wieder füllten. In drei Monaten hatte das Zimmer der Achtzehn die Hälfte seiner Insassen gewechselt. Der Pater Longuemare verlor seinen Teufel. Der Advokat Dubosc war vor dem Revolutionstribunal erschienen und als Föderalist und Verschwörer gegen die Einheit der Republik zum Tode verdammt worden. Nach seiner Verurteilung kehrte er, wie alle andern, durch einen Korridor zurück, der quer durch das Gefängnis lief und zu dem Zimmer führte, das er ein Vierteljahr lang mit seinem Frohsinn erfüllt hatte. Er sagte seinen Gefährten Lebewohl und bewahrte dabei den gewohnten, leichten Ton und seine lustige Miene.

»Verzeihen Sie mir, mein Herr«, sagte er zum Pater Longuemare, »daß ich Sie an den Füßen aus Ihrem Bett gezogen habe. Ich komme nicht mehr wieder.«

Dann wandte er sich zu dem alten Brotteaux:

»Adieu, ich gehe Ihnen voran ins Nichts. Ich gebe der Natur gern die Elemente zurück, aus denen ich bestehe, und wünsche, daß sie künftig einen besseren Gebrauch davon macht, denn man muß gestehen, daß ich ihr mißlungen bin.«

Dann ging er hinab ins Bureau und ließ Brotteaux betrübt zurück, indes der Pater Longuemare, grün wie ein Blatt und mehr tot als lebendig, für den Gottlosen zitterte, der am Rande des Abgrundes noch lachte.

Als im Monat Germinal die hellen Tage wiederkehrten, ging Brotteaux, der ein zärtliches Herz hatte, täglich mehrmals in den Hof hinab, der an den des Frauengefängnisses stieß. Dort wuschen die weiblichen Gefangenen des Morgens am Brunnen ihre Wäsche. Ein Gitter trennte beide Bezirke, doch die Stangen waren nicht so dicht, daß die Hände nicht hindurchgreifen und die Lippen sich nicht berühren konnten. Im nachsichtigen Dunkel der Nacht drängten sich die Pärchen gegen das Gitter. Dann zog Brotteaux sich diskret auf die Treppe zurück, setzte sich auf eine Stufe, zog seinen kleinen Lukrez aus der Tasche seines flohbraunen Rockes und las bei Laternenschein ein paar der herben Trostworte des Dichters: »Sic ubi non erimus . . . Wenn wir nicht mehr leben, so kann uns nichts mehr bewegen, nicht Himmel, noch Erde, noch das Meer, deren Trümmer in eins verschmelzen . . .« Aber im Genuß dieser hohen Weisheit beneidete Brotteaux doch den Barnabiten um seine Torheit, die ihm die Welt verhüllte.

Die Schreckenszeit wurde von Monat zu Monat furchtbarer. Allnächtlich zogen betrunkene Gefängniswärter mit ihren Wachthunden von Kerker zu Kerker und riefen die Anklageschriften aus; sie schrien verstümmelte Namen, weckten die Gefangenen auf, und für zwanzig Opfer, die sie abholten, versetzten sie zweihundert in Schrecken. Auf den finsteren Korridoren, in denen blutige Schatten umgingen, wurden täglich, ohne einen Laut der Klage, zwanzig, dreißig, fünfzig Verurteilte abgeführt, Greise, Frauen, Jünglinge, so verschieden an Stand, Charakter und Empfinden, daß man sich fragte, ob sie nicht nach dem Lose bestimmt waren.

Und man spielte Karten, trank Burgunder, machte Pläne, hatte nächtliche Stelldicheins an dem Gitter. Die Insassen, fast völlig erneuert, waren jetzt größtenteils »Maßlose« oder »Radikale«. Immerhin bildete das Zimmer mit den achtzehn Betten noch immer die Heimstätte der Eleganz und des guten Tons. Außer zwei Gefangenen, die kürzlich vom Luxembourg-Gefängnis nach der Conciergerie überführt worden waren, den Bürgern Navette und Bellier, die man für »Schnüffler«, d. h. für Spione hielt, bestand die ganze Gesellschaft nur aus Ehrenmännern, die sich gegenseitiges Vertrauen erwiesen. Man feierte mit dem Glas in der Hand den Sieg der Republik. Mehrere unter ihnen waren Poeten, wie in jeder Gesellschaft von Müßiggängern. Die Geschicktesten verfaßten Oden auf die Siege der Rheinarmee und sagten sie mit Begeisterung auf. Man spendete ihnen lärmenden Beifall. Nur Brotteaux war lau im Lob der Sieger und ihrer Barden.

»Es ist seit Homer eine seltsame Narrheit der Dichter«, sagte er eines Tages, »daß sie die Krieger feiern. Der Krieg ist keine Kunst; und der Zufall allein entscheidet das Los der Schlachten. Wenn sich zwei gleich dumme Generale gegenüberstehen, so muß der eine notgedrungen siegen. Eines Tages wird einer dieser Säbelraßler, den sie in den Himmel erheben, sie allesamt verschlucken, wie der Kranich in der Fabel die Frösche. Dann wird er ein wahrer Gott sein! Denn die Götter erkennt man an ihrem Hunger.«

Der Waffenruhm hatte Brotteaux nie Eindruck gemacht, und die Siege der Republik, die er vorausgesehen, begeisterten ihn gar nicht. Das neue Regime, das durch diese Siege befestigt wurde, war ihm zuwider. Er war unzufrieden. Man konnte es auch ohnedies sein.

Eines Morgens wurde den Gefangenen mitgeteilt, daß die Kommissare vom Allgemeinen Sicherheitsausschuß Durchsuchungen bei ihnen vornehmen und Assignate, Wertgegenstände, Messer und Scheren konfiszieren würden. Solche Visitationen hatten bereits im Luxembourg-Gefängnis stattgefunden, und man hatte dort Briefe, Papiere und Bücher beschlagnahmt.

Jeder dachte sofort an ein Versteck für das, was ihm das Teuerste war. Der Pater Longuemare schleppte seine Verteidigungsschrift stoßweise in eine Dachrinne. Brotteaux versteckte seinen Lukrez in der Asche des Kamins.

Als die Kommissare mit der Trikolore auf der Brust zur Beschlagnahme erschienen, fanden sie nichts als das, was man ihnen preiszugeben für gut befand. Kaum waren sie fort, so eilte der Pater Longuemare nach seiner Dachrinne und holte sich wieder, was Wind und Wasser von seiner Verteidigungsschrift übriggelassen hatten; und Brotteaux zog seinen Lukrez aus dem Kamin hervor.

Genießen wir den Augenblick, dachte er, denn an gewissen Anzeichen erkenne ich, daß die Zeit uns künftig nur sehr knapp bemessen sein wird.

In einer milden Nacht des Monats Prairial, als das Silberhorn des Mondes am bleichen Himmel über dem Gefängnishof aufging, saß Brotteaux wie gewöhnlich auf einer der steinernen Treppenstufen und las in seinem Lukrez, als er seinen Namen rufen hörte. Es war eine Frauenstimme, die er nicht wiedererkannte. Er ging in den Hof hinab und erblickte hinter dem Gitter eine Gestalt, die er ebensowenig erkannte, und die ihn mit ihren unbestimmten, reizenden Formen an alle Frauen gemahnte, die er geliebt hatte. Der Mond tauchte sie in bläulichen Silberschein. Mit einem Male erkannte Brotteaux die hübsche Schauspielerin aus der Rue Feydeau, Rose Thévenin. »Sie hier, Kind! Ich bin verzweifelt und doch glücklich, Sie zu sehen! Seit wann und warum sind Sie hier?«

»Seit gestern.«

Und flüsternd setzte sie hinzu:

»Ich bin als Royalistin denunziert worden. Man beschuldigt mich eines Komplotts zur Befreiung der Königin. Da ich wußte, daß Sie hier sind, so habe ich sofort versucht, Sie zu sehen. Hören Sie mich an, mein Freund . . . Denn diesen Namen darf ich Ihnen doch geben? . . . Ich kenne Leute von Einfluß. Ich weiß, selbst im Wohlfahrtsausschuß besitze ich Sympathien. Ich will meine Freunde in Bewegung setzen: Sie werden mich befreien, und ich werde Sie befreien.«

Da sagte Brotteaux mit eindringlicher Stimme:

»Bei allem, was Ihnen lieb und teuer ist, Kind, tun Sie nichts! Schreiben Sie nicht, bitten Sie um nichts. Verlangen Sie von keinem Menschen etwas; ich beschwöre Sie, lassen Sie sich vergessen.«

Und da sie von seinem Rat wenig überzeugt schien, so bat er noch eindringlicher:

»Schweigen Sie still, Rose, lassen Sie sich vergessen: da liegt das Heil! Alle Rettungsversuche Ihrer Freunde würden Ihren Untergang nur beschleunigen. Gewinnen Sie Zeit. Es bedarf nur einer kleinen, wie ich hoffe, einer ganz kleinen Frist, um Sie zu retten . . . Vor allem versuchen Sie nicht, die Richter, die Geschworenen, Leute wie Gamelin zu rühren . . . Das sind keine Menschen, das sind Maschinen. Maschinen schüttet man sein Herz nicht aus. Lassen Sie sich vergessen. Wenn Sie meinen Rat befolgen, liebe Freundin, so sterbe ich glücklich, daß ich Ihnen das Leben gerettet habe.«

Sie antwortete:

»Ich will Ihnen gehorchen . . . Reden Sie nicht vom Sterben.« Er zuckte die Achseln:

«Mein Leben ist verwirkt, Kind. Leben Sie und seien Sie glücklich.«

Sie ergriff seine Hände und drückte sie an ihren Busen.

»Hören Sie mich an, mein Freund. .. Ich sah Sie nur einmal, und doch sind Sie mir nicht gleichgültig. Und wenn das, was ich Ihnen sagen will, Sie wieder ans Leben ketten kann, so glauben Sie es mir: Ich will Ihnen alles sein . . . was Sie wollen.«

Und sie gaben sich durch das Gitter einen Kuß auf den Mund.


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