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Die Bürgerin Gamelin liebte den alten Brotteaux und hielt ihn für den liebenswürdigsten und zugleich für den bedeutendsten Menschen, den sie jemals kennengelernt hatte. Als man ihn abführte, hatte sie ihm nicht Lebewohl gesagt, aus Furcht, der Staatsgewalt Trotz zu bieten, und weil sie in ihrer niedrigen Stellung die Feigheit für eine Pflicht hielt. Aber sie hatte von ihm einen Blick empfangen, von dem sie sich nicht erholte.
Sie konnte nichts essen und klagte, daß sie den Appetit in dem Augenblick verloren hätte, wo sie endlich genug besaß, um ihn zu befriedigen. Ihren Sohn bewunderte sie noch; allein sie wagte nicht mehr, an das furchtbare Amt zu denken, das er verrichtete, und war froh, nur eine unwissende Frau zu sein, um ihn nicht verurteilen zu müssen.
In der Tiefe eines Koffers hatte die arme Mutter einen alten Rosenkranz gefunden. Sie wußte zwar nicht recht damit umzugehen, aber er beschäftigte doch ihre zitternden Finger. Nachdem sie sich bis in ihr Alter wenig um die Religion gekümmert hatte, wurde sie fromm und betete den ganzen Tag im Herdwinkel zu Gott, daß er ihren Sohn und den guten Brotteaux erretten möchte. Elodie kam oft zu ihr; sie wagten sich nicht in die Augen zu sehen und plauderten, beieinandersitzend, von gleichgültigen Dingen.
Eines Tages im Monat Pluviose, als ein dichtes Schneegestöber den Himmel verdüsterte und alle Geräusche der Stadt dämpfte, hörte die Bürgerin Gamelin, die allein in der Wohnung war, an die Tür pochen. Sie fuhr zusammen, seit Monaten versetzte sie das geringste Geräusch in Schrecken. Als sie die Tür öffnete, trat ein junger Mann von achtzehn bis zwanzig Jahren mit dem Hut auf dem Kopf ein. Er trug einen flaschengrünen Carrick, dessen drei Kragen seine Brust und Taille bedeckten, und englische Stulpstiefel. Sein kastanienbraunes Haar fiel in Locken auf seine Schultern herab. Er schritt bis in die Mitte des Ateliers, wie um möglichst in das Licht zu treten, das bei dem Schneetreiben noch durch die Scheiben fiel, und blieb eine Weile stumm und unbeweglich stehen.
Schließlich, als die Bürgerin Gamelin ihn sprachlos anblickte, sagte er:
»Erkennst du deine Tochter nicht?«
Die alte Frau schlug die Hände zusammen.
»Julie! . . . Du! . . . Gott, ist's möglich? . . .«
»Ja, gewiß, ich bin's! Umarme mich, Mutter.«
Die Witwe Gamelin schloß ihre Tochter in die Arme und ließ eine Träne auf ihren Mantelkragen fallen. Dann fuhr sie in bangem Tone fort:
»Du in Paris . . .«
»Ach, Mama, warum bin ich nicht allein gekommen! . . . Mich erkennt niemand in dieser Kleidung.«
Der Carrick verbarg ihre Formen in der Tat, und sie sah nicht anders aus als viele junge Leute, die wie sie langes, in der Mitte gescheiteltes Haar trugen. Ihre feinen und anmutigen Gesichtszüge, vom Wetter gebräunt, von Erschöpfung hohl, von Sorgen gehärtet, gaben ihr ein keckes, männliches Aussehen. Sie war schlank, hatte lange, gerade Beine und sichere Bewegungen; nur ihre helle Stimme konnte sie verraten.
Ihre Mutter fragte sie, ob sie Hunger hätte. Sie erwiderte, daß sie gern etwas äße, und als die Witwe ihr Brot, Wein und Schinken auftrug, langte sie zu, einen Ellbogen aufgestemmt, schön und heißhungrig, wie Ceres in der Hütte der alten Baubo.
»Mama«, fragte sie, das Glas noch an den Lippen, »weißt du, wann mein Bruder heimkehrt? Ich will mit ihm reden.«
Die gute Frau blickte ihre Tochter verlegen an und gab keine Antwort.
»Ich muß ihn sprechen«, wiederholte Julie. »Mein Gatte ist heute früh verhaftet und ins Gefängnis gebracht worden.«
Den sie als Gatten bezeichnete, war Fortuné von Chassagne, vormals Edelmann und Offizier im Regiment Bouillé. Er hatte eine Liebschaft mit ihr gehabt, als sie Modistin in der Rue des Lombards war. Als er nach dem 10. August auswanderte, hatte er sie entführt und mit nach England genommen. Er war ihr Liebhaber, doch sie fand es vor ihrer Mutter dezenter, ihn als Gatten zu bezeichnen. Auch sagte sie sich, daß das Unglück ihre Ehe besiegelt hätte, und daß das Elend ein Sakrament sei. Mehrmals hatten sie beide die Nacht auf einer Bank in den Londoner Parks verbracht und unter den Tischen der Schenken von Piccadilly die Brotreste aufgelesen.
Ihre Mutter gab keine Antwort und blickte sie trüb an.
»Verstehst du mich nicht, Mama? Die Zeit drängt, ich muß Evarist gleich sprechen. Er allein kann Fortuné retten.«
»Julie«, erwiderte die Mutter, »es ist besser, du sprichst mit deinem Bruder nicht.«
»Wie? Was sagst du, Mutter?«
»Ich sage, es ist besser, du sprichst mit deinem Bruder nicht über Herrn von Chassagne.«
»Mama, es muß doch sein!«
»Mein Kind, Evarist vergibt es Herrn von Chassagne nicht, daß er dich entführt hat. Du weißt, mit welchem Ingrimm er von ihm sprach, welche Namen er ihm gab.«
»Ja, er nannte ihn Verführer«, sagte Julie mit zischendem Lachen und zuckte die Achseln.
»Mein Kind, er ist tödlich beleidigt. Evarist hat geschworen, nie mehr von Herrn von Chassagne zu sprechen. Und seit zwei Jahren hat er von ihm wie von dir nicht ein Wort gesagt. Seine Gefühle haben sich nicht geändert. Du kennst ihn: er vergibt euch nicht.«
»Aber Mama, wenn doch Fortuné mich geheiratet hat . . . in London . . .«
Die arme Mutter erhob Augen und Arme gen Himmel.
»Es genügt, daß Fortuné ein Aristokrat, ein Emigrant ist, damit Evarist ihn als Feind behandelt.«
«Kurz und gut, antworte mir, Mama. Glaubst du, wenn ich ihn bitte, beim Staatsanwalt und beim Allgemeinen Sicherheitsausschuß die nötigen Schritte zu tun, um Fortuné zu retten, daß er mir es abschlägt? . . . Aber Mama, er wäre ja ein Ungeheuer, wenn er das täte!«
»Mein Kind, dein Bruder ist ein Ehrenmann und ein guter Sohn. Aber bitte ihn nicht, sich für Herrn von Chassagne zu verwenden . . . Hör' mich an, Julie. Er vertraut mir seine Gedanken nicht an, und ich wäre gewiß auch nicht imstande, sie zu begreifen . . . Aber er ist Geschworener, er hat Grundsätze, er handelt nach seinem Gewissen. Bitte ihn um nichts, Julie.«
»Ich sehe, du kennst ihn jetzt. Du weißt, er ist kalt, gefühllos, ein böser Mensch, voller Ehrgeiz und Eitelkeit. Und du hast ihn mir stets vorgezogen. Als wir noch alle drei zusammenlebten, stelltest du ihn mir als Muster hin. Sein steifleinenes Benehmen, seine feierliche Redeweise imponierte dir, du entdecktest an ihm alle Tugenden. Aber mich schaltest du stets, mir trautest du alle Laster zu, weil ich ehrlich war und auf die Bäume kletterte. Du hast mich nie leiden können. Du liebtest ihn allein. Ja, ich hasse deinen Evarist, ein Heuchler ist er.«
»Schweig, Julie; ich war eine gute Mutter, gegen dich wie gegen ihn. Ich ließ dich einen Beruf erlernen. Es lag nicht an mir, daß du kein anständiges Mädchen bliebst und nicht in deinem Stande heiratetest. Ich habe dich von Herzen geliebt und liebe dich noch. Ich vergebe dir und liebe dich. Aber schilt nicht auf Evarist. Er ist ein guter Sohn. Er hat sich stets meiner angenommen. Als du von mir fortgingst, mein Kind, als du deinen Beruf, deinen Laden verließest, um mit Herrn von Chassagne zu leben, was wäre da aus mir geworden ohne ihn? Ich wäre in Hunger und Elend gestorben.«
»Rede nicht so, Mama. Du weißt wohl, Fortuné und ich hätten für dich gesorgt, hätte Evarist dich nicht aufgestachelt, dich von uns abzuwenden. Geh mir mit deinem Evarist. Er ist keiner guten Tat fähig; wenn er so tat, als ob er für dich sorgte, so geschah das nur, um mich in deinen Augen verächtlich zu machen. Er dich lieben? . . . Ist er denn fähig, einen Menschen zu lieben? Er hat weder Herz noch Geist. Kein Talent, gar keins. Zum Malen gehört ein liebevolleres Gemüt als seines.«
Sie ließ ihre Blicke über die Bilder im Atelier schweifen; sie waren noch in dem gleichen Zustand, in dem sie sie verlassen hatte.
»Das ist seine Seele!« sagte sie. »Er hat sie auf diese Leinwand gemalt, kalt und finster. Sein Orest mit dem blöden Blick, dem bösen Mund und der Miene eines Gepfählten, das ist er ganz und gar . . . Kurzum, Mama, begreifst du's denn nicht? Ich kann Fortuné doch nicht im Kerker lassen. Du kennst sie ja, die Jakobiner, die Patrioten, Evarists ganze Sippe. Sie werden ihn köpfen. Mama, liebes Mamachen, ich will nicht, daß er getötet wird. Ich lieb' ihn! Ich lieb' ihn! Er ist so gut gegen mich, und wir haben zusammen so viel durchgemacht. Sieh, dieser Carrick ist von ihm. Ich hatte kein Hemd mehr auf dem Leibe. Ein Freund Fortunés lieh mir einen Kittel, und ich war Gehilfe bei einem Limonadenverkäufer in Dover, während er bei einem Friseur arbeitete. Wir wußten es wohl: nach Frankreich heimkehren, hieß unser Leben aufs Spiel setzen. Doch man fragte uns, ob wir nach Paris gehen und einen wichtigen Auftrag ausführen wollten . . . Wir haben ja gesagt; wir hätten einen Auftrag für den Teufel angenommen. Unsere Reise wurde uns bezahlt, und wir kriegten einen Wechselbrief auf einen Pariser Bankier. Wir fanden sein Büro geschlossen; er ist im Gefängnis und soll guillotiniert werden. Wir hatten keinen roten Heller. Alle unsere Bekannten, an die wir uns hätten wenden können, sind flüchtig oder im Kerker. Keine Tür, an die wir anklopfen konnten. Wir schliefen in einem Stall in der Rue de la Femme sans tête. Ein mitleidiger Stiefelputzer, der mit uns auf dem Stroh schlief, lieh meinem Liebsten einen seiner Kästen, eine Bürste und einen fast leeren Topf mit Wichse. Seit vierzehn Tagen verdient Fortuné sich seinen und meinen Unterhalt mit Stiefelputzen auf dem Grèveplatz. Doch am Montag ließ ein Mitglied vom Gemeinderat sich von ihm die Stiefel putzen. Es war ein alter Schlächter, dem Fortuné früher mal einen Fußtritt in den Hintern versetzt hatte, weil er falsch abwog. Als Fortuné aufblickte, um seine zwei Sous zu fordern, erkannte ihn der Schuft, nannte ihn einen Aristokraten und drohte, ihn verhaften zu lassen. Das Volk lief zusammen; es waren meist brave Leute, aber ein paar Lumpen schrien: ›Tod dem Emigranten!‹ und riefen die Gendarmen. In diesem Augenblick brachte ich Fortuné seine Suppe. Ich sah, wie er nach dem Bezirkshause geführt und in der Kirche Saint Jean eingesperrt wurde. Ich verbrachte die Nacht wie ein Hund auf der Kirchenschwelle . . . Heute morgen . . . führten sie ihn . . .«
Julie konnte nicht weiter; ihre Stimme erstickte in Schluchzen. Sie warf ihren Hut zu Boden und kniete vor ihrer Mutter nieder.
»Heute morgen führten sie ihn ins Luxembourg-Gefängnis. Mama, Mama, hilf mir ihn retten; hab' Erbarmen mit deiner Tochter!«
Sie weinte heftig, riß ihren Carrick auf und öffnete ihren Busen, um sich besser als liebendes Mädchen zu erkennen zu geben. Sie ergriff die Hände der Mutter und drückte sie auf ihre beiden wogenden Brüste.
»Mein liebes Kind, meine Julie! Meine Julie!« seufzte die Witwe Gamelin und preßte ihr tränenfeuchtes Gesicht an die Wangen des jungen Mädchens.
So blieben sie beide eine Weile stumm aneinandergeschmiegt. Die arme Mutter zergrübelte ihr Hirn, wie sie ihrer Tochter helfen könnte, und Julie spähte nach den Blicken ihrer tränenüberschwemmten Augen.
»Vielleicht«, dachte Evarists Mutter, »vielleicht läßt er sich erweichen, wenn ich mit ihm rede. Er ist gut und zartfühlend. Hätte die Politik ihn nicht verhärtet, wäre er nicht ins Fahrwasser der Jakobiner geraten, so zeigte er nicht diese erschreckende Schroffheit, die ich nicht begreife.«
Sie nahm Julies Kopf zwischen ihre Hände.
»Hör' mich an, Kind. Ich will mit Evarist reden. Ich will ihn darauf vorbereiten, dich zu sehen, mit dir zu sprechen. Dein Anblick könnte ihn reizen, und ich müßte seine erste Wallung fürchten . . . Und dann kenne ich ihn: dieser Anzug würde ihn verletzen; er ist streng in allem, was die Sitten und die Schicklichkeit angeht. Ich war selbst etwas überrascht, meine Julie, dich als Mann zu sehen.«
»Ach, Mama, die Emigration und die entsetzlichen Zustände im Königreich machen diese falschen Kleider ganz allgemein. Man verkleidet sich, um einen Beruf auszuüben, um nicht erkannt zu werden, um einen Paß oder eine Bescheinigung, die man sich geliehen hat, zu benutzen. In London sah ich den kleinen Girey in Frauenkleidern; er sah aus wie ein sehr hübsches Mädchen; und du wirst mir zugeben, Mama, solch eine Verkleidung ist anstößiger als meine.«
»Mein armes Kind, vor mir brauchst du dich nicht zu rechtfertigen, weder hierfür noch für sonst was. Ich bin deine Mutter, für mich wirst du stets unschuldig bleiben. Ich will mit Evarist reden, will ihm sagen . . .«
Sie hielt inne. Sie fühlte, was ihr Sohn war, fühlte es, aber wollte es nicht glauben noch wissen.
»Er ist gut. Er wird für mich . . . für dich tun, um was ich ihn bitte.«
Die beiden Frauen schwiegen tief erschöpft. Julie schlief ein, mit dem Kopfe auf dem Schoße der Mutter, auf dem sie als Kind geruht hatte, und diese hielt ihren Rosenkranz in der Hand und weinte voller Schmerz über das Unglück, das sie leise herannahen fühlte in der Stille dieses Schneetages, wo alles schwieg, die Schritte, die Wagenräder, der Himmel. Plötzlich hörte sie mit ihrem angstgeschärften Ohre die Schritte ihres Sohnes, der die Treppe heraufkam.
»Evarist!« rief sie, »verstecke dich!«
Und sie stieß ihre Tochter in ihr Schlafzimmer. –
»Wie geht's dir heute, liebe Mutter?« fragte Evarist, seinen Hut an den Kleiderriegel hängend. Dann zog er seinen blauen Rock aus, legte einen Arbeitskittel an und setzte sich vor seine Staffelei. Seit einigen Tagen skizzierte er mit Kohle eine Viktoria, die einen Kranz auf das Haupt eines gefallenen Vaterlandsverteidigers drückt. Diese Arbeit hätte er mit Begeisterung vollendet, doch das Gericht verschlang alle seine Tage, es nahm seine ganze Seele in Anspruch, und seine des Zeichnens entwöhnte Hand war schwer und träge.
Er summte das Ça ira vor sich hin.
»Du singst, mein Sohn«, sagte die Bürgerin Gamelin, »du bist fröhlich.«
»Wir haben allen Grund, uns zu freuen, Mutter. Wir haben gute Nachrichten bekommen. Die Vendée ist niedergeschlagen, die Österreicher besiegt, die Rheinarmee hat die Linien von Lautern und Weißenburg genommen; der Tag ist nahe, wo die siegreiche Republik ihre Milde zeigen wird. Warum sollte auch die Keckheit der Verschwörer in dem Maße zunehmen, als die Republik Kraft gewinnt und die Verräter lernen müssen, das Vaterland heimlich zu treffen, während es die Feinde, die es angreifen, öffentlich zerschmettert?«
Die Bürgerin Gamelin, die an einem Strumpfe strickte, spähte über ihre Brille weg nach ihrem Sohne.
»Berzelius, dein altes Modell, war hier, um die zehn Franken einzufordern, die du ihm schuldig warst. Ich habe sie ihm gegeben. Die kleine Josephine hatte Leibschmerzen von den vielen Süßigkeiten, die ihr der Tischler gegeben hat. Ich habe ihr einen Arzneitrank gemacht. Demahis kam dich besuchen und bedauerte, dich nicht zu treffen. Er möchte eine Zeichnung von dir stechen. Er findet, daß du großes Talent hast. Der gute Kerl hat sich deine Skizzen angesehen und sie sehr gelobt.«
»Wenn der Friede erst hergestellt und die Verschwörung unterdrückt ist«, sagte der Maler, »so gehe ich wieder an meinen Orest. Ich pflege mich sonst nicht selbst zu loben, aber der eine Kopf ist Davids würdig.«
Und mit majestätischem Schwung zeichnete er den Arm seiner Viktoria.
»Sie trägt Palmen«, sagte er. »Doch es wäre noch schöner, wenn ihre Arme selbst Palmen wären.«
»Evarist!«
»Mama? . . .«
»Ich habe Nachricht . . . Rat mal, von wem? . . .«
»Ich weiß es nicht . . .«
»Von Julie . . . deiner Schwester . . . Sie ist nicht glücklich . . .«
»Es wäre ein Skandal, wenn sie es wäre.«
»Rede nicht so, mein Sohn: sie ist deine Schwester. Julie ist nicht schlecht; sie hat ein gutes Herz, aber das Unglück hat sie verbittert. Sie liebt dich. Ich kann dir versichern, Evarist, daß sie danach strebt, ein arbeitsames, ehrbares Leben zu führen und sich mit den Ihren wieder auszusöhnen. Nichts steht dem entgegen, daß du sie wiedersiehst. Sie hat Fortuné Chassagne geheiratet«
»Hat sie dir geschrieben?« – »Nein.«
»Woher sind denn die Nachrichten von ihr, Mutter?«
»Nicht aus einem Brief, mein Sohn. Sie ist . . .«
Er stand auf und unterbrach sie mit furchtbarer Stimme:
»Schweig, Mutter! Sage nicht, daß sie beide nach Frankreich zurückgekehrt sind . . . Wenn sie umkommen müssen, dann wenigstens nicht durch meine Hand. Um ihret-, deinet- und meinetwillen darf ich nicht wissen, daß sie in Paris sind . . . Zwinge mich nicht, es zu wissen, sonst . . .«
»Sonst, mein Sohn? Du wolltest . . . Du wagtest . . .«
»Hör' mich an, Mutter . . . Wüßte ich, daß meine Schwester Julie da in dem Zimmer ist . . .«, und er wies mit der Hand auf die geschlossene Tür . . ., »so ginge ich augenblicklich zum Überwachungsausschuß des Bezirks und zeigte sie an.«
Die arme Mutter wurde weiß wie ihre Haube, und der Strickstrumpf entfiel ihren zitternden Händen. Dann seufzte sie mit einer Stimme, schwächer als das leiseste Flüstern: »Ich mochte es nicht glauben. Aber ich sehe es jetzt ein: er ist ein Ungeheuer . . .«
Evarist war ebenso bleich wie sie, und der Schaum stand ihm vor dem Munde. Er stürzte hinaus, zu Elodie, um bei ihr Vergessen, Schlaf und den köstlichen Vorgeschmack des Nichts zu suchen.