Anatole France
Die Götter dürsten
Anatole France

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Fünftes Kapitel

Um neun Uhr morgens traf Evarist sich im Luxemburggarten mit Elodie, die auf einer Bank saß und wartete.

Seit dem Austausch ihrer Liebesschwüre war ein Monat verstrichen, und sie sahen sich täglich im »Amor als Maler« oder in Gamelins Atelier. Beide waren sehr zärtlich, aber bei aller Vertraulichkeit von einer gewissen Zurückhaltung, dank dem ernsten und tugendhaften Charakter des Liebhabers, der als Deist und guter Bürger seinen Liebesbund nur vor dem Gesetz und vor Gott allein (je nach den Umständen) besiegeln wollte, und dies nur am hellen Tage und vor aller Öffentlichkeit. Elodie erkannte die Ehrbarkeit dieses Entschlusses wohl an, aber bei den schier unüberwindlichen Schwierigkeiten eines Ehebundes und ihrem Vorsatz, die Konvenienzen zu wahren, träumte sie von einem heimlichen, dezenten Verhältnis, das durch seine Dauer schließlich geheiligt würde. Eines Tages hoffte sie die Bedenken dieses allzu ehrsamen Liebhabers zu überwinden. Aber sie wollte es nicht länger hinausschieben, ihm ein notwendiges Geständnis zu machen und zu dem Zweck hatte sie ihn zu einer längeren Zwiesprache in den menschenleeren Garten beim Kartäuserkloster bestellt.

Sie blickte ihn zärtlich und aufrichtig an, ergriff seine Hand, zog ihn neben sich auf die Bank und sprach mit ruhiger Gefaßtheit:

»Ich achte Sie zu sehr, Evarist, um Ihnen irgend etwas zu verheimlichen. Ich glaube, ich bin Ihrer würdig. Ich wäre es nicht mehr, wenn ich Ihnen etwas verhehlte. Hören Sie mich also an, und seien Sie mein Richter. Ich habe mir nichts Niedriges, Gemeines oder auch nur Eigennütziges vorzuwerfen. Ich war nur schwach und leichtgläubig . . . Vergessen Sie nicht, mein Freund, unter welchen schwierigen Verhältnissen ich lebte. Sie wissen es ja, ich hatte keine Mutter mehr; mein Vater war noch jung und dachte nur an sein Vergnügen. Um mich kümmerte er sich nicht. Ich war gemütvoll; die Natur hatte mir ein zärtliches Herz und eine edelmütige Seele gegeben. Freilich auch ein sicheres und gesundes Urteil; aber das Gefühl war stärker in mir als der Verstand! Ach! es gewänne noch jetzt die Oberhand, wenn nicht alle beide, Evarist, mich zu restloser, ewiger Hingabe an Sie drängten!«

Sie drückte sich bestimmt und gemessen aus; ihre Worte waren zurechtgelegt. Seit langem war sie entschlossen, ihm ein Geständnis zu machen, denn sie war offenherzig; sie gefiel sich in der Nachahmung Rousseaus und war auch so klug, sich zu sagen: Evarist wird eines Tages doch alles erfahren. Ich bin nicht allein die Hüterin meines Geheimnisses, und so ist es besser, wenn ich ein freiwilliges Geständnis ablege, das mich nur ehren kann, anstatt daß er es eines Tages zu meiner Schande erfährt. Bei ihrem zärtlichen Gemüt und ihrer Hingabe an die Natur fühlte sie sich nicht sehr schuldbewußt, und so fiel dies Geständnis ihr denn um so leichter; übrigens wollte sie nur das Notwendigste sagen.

»Ach!« seufzte sie, »warum kamen Sie nicht zu mir, lieber Evarist, in jenen Stunden, wo ich allein und verlassen war? . . .«

Gamelin hatte ihren Wunsch, den Richter zu spielen, zu wörtlich gefaßt. Von Natur oder durch seine literarische Bildung zur Ausübung der häuslichen Gerechtigkeit veranlagt, erwartete er Elodies Beichte. Sie zauderte, und er nickte ihr ermunternd zu.

Sie sagte ohne Umschweife:

»Ein junger Mann, der schlechte mit guten Eigenschaften verband, aber nur diese zeigte, fühlte sich zu mir hingezogen und umwarb mich mit einer für ihn erstaunlichen Beharrlichkeit. Er stand in der Blüte der Jahre, war voller Anmut und mit reizenden Frauen liiert, die aus ihrer Bewunderung für ihn kein Hehl machten. Weder seine Schönheit noch sein Geist taten es mir an . . . Ich klage mich allein an; ich lege eine Beichte für mich ab, nicht für ihn. Ich beschwere mich nicht über ihn, denn er ist mir fremd geworden. Ach! Evarist, ich schwöre es Ihnen, er ist für mich nicht mehr auf der Welt!«

Sie schwieg. Gamelin gab keine Antwort. Er verschränkte die Arme und starrte finster vor sich hin. Er dachte an seine Geliebte und an seine Schwester Julie! Auch die hatte einem Liebhaber ihr Ohr geliehen. Aber darin, meinte er, unterschied sie sich sehr von der unglücklichen Elodie, daß sie sich hatte entführen lassen, nicht im Taumel eines zärtlichen Gemüts, sondern um in der Fremde Luxus und Vergnügen zu finden. In seiner Sittenstrenge hatte er die Schwester verdammt, und nun neigte er dazu, über seine Geliebte den Stab zu brechen.

Mit sanftem Tonfall fuhr Elodie fort:

»Mein Kopf war angefüllt mit Philosophie. Ich glaubte, die Menschen wären von Natur redlich. Zu meinem Unglück war mein Liebhaber nicht durch die Schule der Natur und Moral gegangen, und die sozialen Vorurteile, der Ehrgeiz, die Eigenliebe, ein falsches Ehrgefühl, hatten ihn selbstsüchtig und treulos gemacht.«

Diese berechnenden Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Gamelins Augen blickten milder.

»Wer war Ihr Verführer?« fragte er. »Kenne ich ihn?«

»Nein.«

»Wie heißt er?«

Diese Frage hatte sie vorausgesehen, und sie war entschlossen, sie nicht zu beantworten. Sie gab ihre Gründe an.

»Ersparen Sie es mir, bitte, seinen Namen zu nennen. Ich habe schon zu viel gesagt, zu viel für mich wie für Sie.«

Und als er in sie drang:

»Bei der Heiligkeit unserer Liebe, ich werde Ihnen nichts sagen, was Ihnen ein deutliches Bild von diesem . . . Fremdling geben könnte. Ich will Ihre Eifersucht nicht mit einem Gespenst erregen, ich will keinen störenden Schatten zwischen Sie und mich werfen. Ich habe diesen Menschen vergessen und will Sie daher nicht mit ihm bekannt machen.«

Gamelin bestand darauf, den Namen des Verführers zu wissen. So nannte er ihn beharrlich, denn er war fest überzeugt, daß Elodie verführt, getäuscht und betrogen worden war. Ja, er konnte es sich gar nicht denken, daß es anders gewesen sein könnte, daß sie dem Verlangen, dem unbezwinglichen Drange gefolgt wäre, daß sie den Einflüsterungen der Sinne und des Blutes gehorcht hätte. Er konnte es sich nicht vorstellen, daß dieses sinnliche, zärtliche Wesen, dieses schöne Opfer, sich dargeboten hätte. Um seinen Geist zu beruhigen, mußte er glauben, daß sie mit List oder Gewalt bezwungen, mißbraucht worden, daß sie in Schlingen, die ihr gelegt waren, gestrauchelt wäre. Er stellte ihr Fragen in schonender Form, aber bestimmt, knapp und peinlich. Er erkundigte sich nach dem Beginn dieses Verhältnisses, ob es lang oder kurz, still oder stürmisch gewesen sei, und wie der Bruch erfolgt wäre. Immer wieder kam er darauf zurück, welche Verführungskünste dieser Fremde angewandt hätte; gleich als ob er zu seltsamen, unerhörten Mitteln gegriffen hätte. Alle diese Fragen waren vergebens. Ihr Widerstand war sanft und flehentlich. Sie schwieg mit gepreßten Lippen und tränenerfüllten Augen.

Nur als Evarist fragte, wo der Mensch sich jetzt aufhielte, erklärte sie: »Er hat das Königreich verlassen.« Und sich rasch verbessernd, sagte sie: »Frankreich.«

»Ein Emigrant!« rief Gamelin aus.

Sie blickte ihn stumm an, beruhigt und doch traurig, daß er sich die Wahrheit nach seinen politischen Ansichten zurechtlegte und seiner Eifersucht so rasch einen jakobinischen Anstrich gab.

In Wirklichkeit war Elodies Liebhaber ein kleiner Gerichtsschreiber, ein bildhübscher Schwerenöter gewesen. Sie hatte ihn angebetet, und er machte ihr noch in der Erinnerung nach drei Jahren das Herz warm. Er suchte sein Glück bei reichen, ältlichen Frauen und hatte Elodie wegen einer erfahreneren Dame verlassen, die seine Verdienste belohnte. Nach der Aufhebung aller Behörden war er zur Stadtverwaltung von Paris übergetreten. Gegenwärtig war er Sansculottendragoner und Liebling einer vormaligen Aristokratin.

»Ein Adliger! Ein Emigrant!« wiederholte Gamelin. Sie hütete sich wohl, ihn von dieser Spur abzubringen, denn sie hatte nie gewünscht, daß er die volle Wahrheit erführe.

»Und er hat dich schmählich verlassen?«

Sie nickte.

Er preßte sie an sein Herz.

»Holdes Opfer der monarchischen Sinnenverderbnis, meine Liebe wird dich an diesem Ruchlosen rächen. Möge der Himmel ihn auf meinen Weg führen. Ich werde ihn schon erkennen!«

Sie wandte den Kopf ab, traurig und lächelnd zugleich, und enttäuscht. Sie hätte gewünscht, daß er in der Liebe mehr Einsicht besäße, daß er natürlicher und brutaler wäre. Sie fühlte wohl, daß er ihr nur deshalb so rasch verzieh, weil seine Phantasie kalt war, weil ihr Geständnis keines jener Bilder in ihm erweckt hatte, welche die Wollüstigen peinigen, und schließlich auch, weil er in dieser Verführung nur eine moralisch-soziale Tatsache sah.

Sie waren aufgestanden und schlenderten die grünen Baumgänge entlang. Er sagte, weil er um sie gelitten hätte, schätzte er sie um so mehr. Elodie verlangte gar nicht so viel; aber so, wie er war, liebte sie ihn und bewunderte den Künstlergeist, den sie in ihm glänzen sah.

Als sie den Luxemburggarten verließen, sahen sie Aufläufe in der Rue de l'Egalité und um das Nationaltheater herum, was sie jedoch nicht überraschte. Seit mehreren Tagen herrschte große Erregung in den patriotischen Stadtteilen; man denunzierte die orleanistische Partei und die Anhänger Brissots wegen angeblicher Verschwörungen zum Untergang von Paris und zur Ermordung der Republikaner. Gamelin selbst hatte ja vor kurzem die Petition der Kommune mit unterzeichnet, die Einundzwanzig zu ächten.

Als sie in die Arkaden einbiegen wollten, die das Theater mit dem Nebenhause verbanden, mußten sie durch eine Gruppe von Bürgern in Karmagnolen. Ein junger Soldat, der einen mit Pantherfell besetzten Hut trug, schön wie der Amor des Praxiteles, hielt diesen Leuten von einer Galerie herab eine Ansprache. Der schmucke Kriegsmann beschuldigte den Volksfreund der Lässigkeit.

»Du schläfst, Marat,« so rief er, »und die Föderalisten schmieden uns die Ketten!«

Kaum hatte Elodie ihn erblickt, so sagte sie rasch:

»Komm, Evarist!«

Die Volksmenge flößte ihr angeblich Angst ein, und sie fürchtete, in diesem Gedränge ohnmächtig zu werden.

Auf der Place de la Nation trennten sie sich und schworen sich ewige Liebe.

Am selben Morgen hatte der Bürger Brotteaux der Bürgerin Gamelin einen prächtigen Kapaun zum Geschenk gemacht. Es wäre unklug gewesen, hätte er die Herkunft dieser Gabe verraten. Er hatte ihn nämlich von einem Marktweib aus der Halle bekommen, für das er manchmal Briefe schrieb; diese »Damen der Halle« galten für royalistisch und standen im Einvernehmen mit den Emigranten. Die Bürgerin Gamelin hatte den Kapaun dankbaren Herzens angenommen. Solches Geflügel war damals eine Rarität; die Lebensmittel wurden immer teurer. Das Volk befürchtete eine Hungersnot; die Aristokraten, so hieß es, wünschten sie, und die Kornwucherer führten sie herbei.

Sie lud den Bürger Brotteaux ein, den Kapaun mit ihr zu verspeisen. Er nahm diese Einladung an und beglückwünschte seine Wirtin zu dem holden Küchenduft, den man bei ihr atmete. In der Tat duftete das Maleratelier nach kräftiger Fleischbrühe.

»Sie sind sehr liebenswürdig, mein Herr«, sagte die gute Frau. »Um den Magen auf Ihren Kapaun vorzubereiten, hab' ich eine Suppe mit Kräutern gekocht, mit einer Speckschwarte drin und einem dicken Rindsknochen. Nichts gibt der Suppe mehr Wohlgeruch als ein Markknochen.«

»Ein löblicher Grundsatz, Bürgerin«, erwiderte der alte Brotteaux. »Und wenn Sie klug sind, tun Sie diesen kostbaren Knochen morgen, übermorgen und die ganze Woche lang in den Suppentopf; er wird der Suppe stets Wohlgeschmack geben. Die Sibylle von Panzoust machte es ebenso. Sie kochte eine grüne Kohlsuppe mit einer gelben Speckschwarte und einem alten Savorados. So nämlich heißt in ihrer und meiner Heimat der schmackhafte und saftige Rückenknochen.«

»War die Dame, von der Sie reden, mein Herr,« fragte die Bürgerin Gamelin, »nicht vielleicht zu sparsam, da sie denselben Knochen so oft auskochte?«

»Ja, es ging ihr nicht gut«, antwortete Brotteaux. »Sie war arm, obwohl eine Prophetin.«

In diesem Moment trat Gamelin ein, tief erregt von der vernommenen Beichte und entschlossen, Elodies Verführer zu ermitteln, um die Republik wie seine Liebe an ihr zu rächen. Nach den üblichen Höflichkeitsphrasen nahm der Bürger Brotteaux den Faden seines Gesprächs wieder auf.

»Die berufsmäßigen Wahrsager gelangen selten zu Wohlstand. Man kommt nur zu bald hinter ihre Schliche. Ihre Betrügereien erwecken Haß. Aber man müßte sie noch viel mehr verabscheuen, wenn sie wirklich die Zukunft prophezeiten. Denn das Menschenleben wäre nicht zu ertragen, wenn man wüßte, was einem noch zustoßen kann. Man würde an dem zukünftigen Elend schon jetzt leiden und das Gute der Gegenwart nicht genießen, weil man dessen Ende voraussähe. Die Unwissenheit ist die Grundbedingung des irdischen Glücks, und diese erfüllen die Menschen, wie man zugeben muß, fast immer. Von uns selber wissen wir fast nichts, von den andern gar nichts. Die Unwissenheit gibt uns Ruhe, die Lüge Glück.«

Die Bürgerin Gamelin füllte die Suppe auf, sprach das Tischgebet, lud die beiden Männer ein, Platz zu nehmen, und begann selbst im Stehen zu essen. Sie lehnte es ab, sich neben den Bürger Brotteaux zu setzen; sie wüßte wohl, sagte sie, was die Höflichkeit gebietet.


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