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Eine Woche war vergangen. Die Strohschütten, die vor dem Hause lagen, waren weggeschafft worden, aber alles ging leise, als wäre noch jemand da, der nicht gestört werden dürfte. Renate hatte seit jenem Abend, wo wir sie zuletzt sahen, das obere Stock nicht mehr verlassen, und um ihretwillen war es, daß sich der Ton des Hauses dämpfte. Berndt arbeitete viel; im Erdgeschoß, auf spezielles Geheiß der Schorlemmer, standen zwei, drei Fenster auf, um das »Bammesche« wieder hinauszulassen, und statt Hoppenmariekens – von der es im Dorfe hieß, daß sie drei Nächte lang auf ihrem Grabe gesessen habe – erschienen abwechselnd Krist und Hanne Bogun, um Briefe und Zeitungen auf den Tisch zu legen. Es war eine rechte Jeetze-Zeit, alles still und grau und mit schwarzen Gamaschen; der alte Jeetze selbst aber, der kaum noch Dienst hatte, saß halbe Stunden lang neben der Binsenmatte und plauderte mit Hektor.
So vergingen die Tage. Marie kam oft vormittags schon und stieg zu Renate hinauf, um ihr vorzulesen oder zu erzählen. Nur von Tubal sprach sie nicht. Danach begab sie sich zu Lewin in das Eckzimmer hinunter, der ihrer schon wartete, und sie saßen dann am Kamin oder in der tiefen Fensternische und gedachten vergangener stiller Tage, am liebsten des letzten Weihnachtsfestes und jenes schönen Plauderabends, wo sie, den hohen Christbaum zwischen sich, über seine hohe Spitze hinweg, die goldenen Nüsse geworfen und gefangen hatten. Von ihrem Glücke schwiegen sie, denn sie hatten eine Scheu, daß es fortfliegen könnte, wenn es genannt würde. Nur einmal kam es wie von ungefähr dazu. Das war an dem Tage, wo der Bohlsdorfsche Pastor, auf einer Dienstreise begriffen, bei seinem Hohen-Vietzer Amtsbruder vorgesprochen und zugleich auch einen Besuch auf dem Schulzenhofe gemacht hatte. Als Marie davon erzählte, sagte Lewin: »Ach, du weißt nicht, Marie, wie viel ich diesem alten Bohlsdorf und seiner Kirche verdanke. Vor allem dich. Dort begann ich zu genesen, noch eh' ich wußte, daß ich krank war. Wie blind ich doch war und wie selbstsüchtig! Aber nun hab' ich sehen gelernt und habe dich, dich, mein Glück und meine Goldsternprinzessin.«
Es war unmittelbar nach diesen Worten, daß Berndt in das Zimmer trat und, das Erröten Maries wahrnehmend, ihr lächelnd und mit väterlicher Zärtlichkeit die Stirn küßte. Sie sah vor sich nieder und zitterte vor Bewegung, denn sie fühlte wohl, was ihr dieser Augenblick bedeute. Gleich darauf verabschiedete sie sich, um Vater und Sohn allein zu lassen.
Als sie gegangen war, sagte Berndt: »Ich freue mich eures Glücks, Lewin, trotzdem ich noch nicht weiß, was ich all den Vitzewitzes, die draußen in der Halle hängen, zu sagen haben werde, wenn ich über kurz oder lang an anderer Stelle unter ihnen erscheine. Aber ich werde noch manch anderes vor ihnen zu verantworten haben. Ungehorsam und Auflehnung standen auch nicht in unserem Hauskatechismus, und ich denke, eines rechnet sich dann ins andere, und das Kleine wird in dem Großen mit aufgehen. Und nun nichts mehr davon. Ist es in den Sternen anders beschlossen, so wird eine französische Kugel mitsprechen. Gott verhüt' es! Haben wir dich aber wieder, so haben wir auch Hochzeit. Und eines weiß ich, sie wird uns freilich den Stammbaum, aber nicht die Profile verderben, nicht die Profile und nicht die Gesinnung. Und das beides ist das Beste, was der Adel hat.«
Und abermals lagen Tage zurück, und Renate, die sich in ihren einsamen Stunden, wenn nicht die Heiterkeit, so doch die Klarheit ihrer Seele zurückgewonnen hatte, saß wieder teilnehmend im Kreise der Ihrigen. Am andern Morgen sollten Lewin und Hirschfeldt nach Breslau hin aufbrechen. Sie waren in Vorbereitung für ihre Reise und packten eben an ihren Mantelsäcken, als sie vom Eckfenster her, zwischen den Pfeilern der Auffahrt, plötzlich eines Reiters gewahr wurden, der auf seinem Shetländer in den Hof einritt. Also Bamme. Alles lief ans Fenster, und selbst die Schorlemmer vergaß auf einen Augenblick ihre Abneigung. Denn sie war streitlustig, und neue Fehden standen jetzt in Aussicht. Am erfreutesten war Berndt, der es längst aufgegeben hatte, sich über die Schrullen und Eitelkeiten des Alten zu ereifern.
»Nun, Bamme«, hob er an, als dieser sich gesetzt und ein Tablett mit Likören rasch hintereinander absolviert hatte, »wie war der Groß-Quirlsdorfer Befund? Dorf, Pfarre, Kanzel?«
»Gut, Vitzewitz, über Erwarten gut. Er hat eben seinen Frieden mit mir gemacht. Gleich am andern Tage war Kirche. Da mußte sich's also zeigen, und neugierig, wie ich bin, wartete ich nicht einmal das dritte Läuten ab. Das strafte sich nun freilich, denn das Orgelspiel wollte kein Ende nehmen, und mir war ein paarmal, als würde das ganze Gesangbuch durchsungen. Aber endlich kam er, und was glauben Sie, worüber er predigte? Über Saul und David predigte er. Und immer wieder hieß es: ›Saul hat tausend geschlagen, aber David hat zehntausend geschlagen.‹ Nun, Vitzewitz, wir wissen am besten, daß wir unserer Reputation diese Zehntausend eigentlich noch schuldig sind; aber enfin, der ewige kleine David, wer konnt' es am Ende sein? Anfangs sträubt' ich mich, bis ich mich schließlich drin ergab. Und so wissen Sie denn jetzt, meine Damen und, worauf ich ein besonderes Gewicht lege, auch Sie, meine liebe Schorlemmer, wer eigentlich unter Ihrem Dache weilt. Ein neuer Beweis für den alten Satz: Wer nur alt genug wird, wird alles.«
Das Geplauder ging noch weiter, und ehe Mittag heran war – das Diner sollte nicht vor vier Uhr genommen werden –, machte Bamme den Vorschlag, zu Drosselstein hinüberzureiten, um »Ostpreußen mal wieder auf Herz und Nieren zu prüfen.«
Berndt war es zufrieden, und nach einigen Minuten wurden die Pferde vorgeführt.
Als sie bei Miekleys Mühle vorüber waren, sagte Berndt: »Was ich Ihnen sagen wollte, Bamme, wir haben ein Brautpaar im Hause.«
»Das wäre! Die Schorlemmer?«
»Nein.«
»Ich dachte, sie hätte sich den Seidentopf rangebetet. Mit Speck fängt man Mäuse. Witwer und Urnensammler gehen ins Garn wie die Wachteln. Und nun gar dieser Seidentopf. Sehen Sie sich seinen Jubiläumsschrank an; er hat alles aufgehoben, was ihm seine Selige geschenkt hat. Und solch Kultus ist immer gefährlich.«
Berndt lachte.
»Sie verlieben sich in eine Ihrer Vorstellungen, Bamme, wie gewöhnlich. Aber die Tatsachen sind unerbittlich. Es liegt anders. Nicht Seidentopf.«
»Nun, wer denn?«
»Lewin.«
»Gratuliere! Aber das ist erst einer, ein halbes Paar. Wer noch?«
»Lewin und Marie Kniehase. Des Schulzen Kniehase Pflegetochter.«
Bamme riß den Shetländer herum, daß er im rechten Winkel zu Vitzewitz stand, und sah diesen aus seinen kleinen Augen mit allen Zeichen aufrichtigsten Erstaunens an.
»Sie verwundern sich?« sagte dieser.
»Ja.«
»Und mißbilligen es?«
»Nein, Vitzewitz. Au contraire. Ich habe seit zehn Jahren, wenn ich das Neunundzwanzigste Bulletin und den großen Diebstahl bei Krach ausnehme, nichts gehört, das mich so erfreut hätte als das. Das ist das reizendste Geschöpf, und ich verlange nach dieser Seite hin etwas, wie alle, die selber nicht viel einzusetzen haben. Also nochmals: gratulor! Wetter, Vitzewitz, das gibt eine Rasse.«
Berndt wollte antworten, aber der Alte, der sich unerwartet einem Lieblingsthema gegenübersah, hatte wenig Lust, das Wort so schnell wieder aus der Hand zu geben.
»Frisches Blut«, fuhr er fort, »frisches Blut, Vitzewitz, das ist die Hauptsache. Meine Ansichten sind nicht von heute und gestern, und Sie kennen sie. Ich perhorresziere dies ganze Vettern- und Muhmenprinzip, und am meisten, wenn es ans Heiraten und Fortpflanzen geht. Ihre Schwester, die Gräfin, dachte ebenso, und ich habe sie sich mehr als einmal zu Grundsätzen bekennen hören, die selbst mir imponierten. Ehre ihrem Andenken! Es war eine superbe Frau. Ja, Vitzewitz, wir müssen mit dem alten Schlendrian aufräumen. Weg damit. Wie ging es bisher? Ein Zieten eine Bamme, ein Bamme eine Zieten. Und was kam schließlich dabei heraus? Das hier!« Und dabei schlug er mit dem Fischbeinstock an seine hohen Stiefelschäfte. »Ja, das hier, und ich bin nicht dumm genug, Vitzewitz, mich für ein Prachtexemplar der Menschheit zu halten.«
Berndt schwieg, weil er mehr hören wollte, und Bamme ließ auch nicht lange auf sich warten.
»Wir sind unter uns, Vitzewitz«, fuhr er fort, »und können uns ohne Gefahr unsere Geständnisse machen. Mitunter ist es mir, als wären wir in einem Narrenhaus großgezogen. Es ist nichts mit den zweierlei Menschen. Eines wenigstens glaubten wir gepachtet zu haben: den Mut, und nun kommt dieser Kakerlaken-Grell und stirbt wie ein Held mit dem Säbel in der Hand. Von dem Konrektor sprech' ich gar nicht erst; ein solcher Tod kann einen alten Soldaten beschämen. Und woher das alles? Sie wissen es. Von drüben; Westwind. Ich mache mir nichts aus diesen Windbeuteln von Franzosen, aber in all ihrem dummen Zeug steckt immer eine Prise Wahrheit. Mit ihrer Brüderlichkeit wird es nicht viel werden, und mit der Freiheit auch nicht; aber mit dem, was sie dazwischengestellt haben, hat es was auf sich. Denn was heißt es am Ende anders als: Mensch ist Mensch. Ich darf so sprechen, Vitzewitz, denn die Bammes sterben mit mir aus, ein Ereignis, um das der Vorhang des Tempels nicht zerreißen wird, und nicht einmal ein Namensvetter ist da, den ich in seinem Standesbewußtsein kränken oder schädigen könnte. Denn im Vertrauen gesagt, das Kränken fängt bei uns immer erst mit der Schädigung an.«
Damit waren sie bis an die Parkmauer gekommen und hielten eine Minute später vor dem Drosselsteinschen Gartensaal.
Während dieses Gespräch auf dem Wege nach Hohen-Ziesar hin geführt wurde, plauderten auch Renate und Marie, die sich in den Hintergrund des Zimmers zurückgezogen und auf dem großblumigen Sofa Platz genommen hatten. Lewin kam herzu, war aber ersichtlich zerstreut und saß schon minutenlang zwischen ihnen, ohne daß er Maries Hand genommen oder einen Blick für sie gehabt hätte.
Marie selbst, ihrer ganzen Natur nach unbefangen und anspruchslos, schien es nicht zu bemerken; aber Renate sagte: »Sonderbares Brautpaar ihr, ihr seid ja nicht einmal zärtlich.«
»Gib uns nicht auf«, lachte Marie, und Lewin setzte hinzu: »Wir waren zu lange Geschwister. Aber es findet sich wohl noch. Was meinst du, Marie?«
Und das Rot, das über ihre Wangen flog, überhob sie jeder anderen Antwort.
Nach diesem – es war wieder ein Sonnabend – gingen Lewin und Hirschfeldt in die Pfarre, um von Seidentopf Abschied zu nehmen. Sie fanden ihn über Bekmann, und nicht bloß die Schranktüre seines Arcus triumphalis stand weit offen, sondern auch das Mittelbrett war vorgezogen, auf dem die drei Hauptstücke der Sammlung ihren Platz hatten und seit dem zweiten Weihnachtstage auch der Wagen Odins. Wer die Seidentopfsche Wocheneinteilung kannte, konnte durch diesen Anblick nicht überrascht werden. Er gehörte nämlich zu den klugen Predigern, die schon freitags mit ihrer Predigt abschließen, um dann den zwischenliegenden Tag zur Erfrischung ihrer Seele verwenden zu können. Und was hätte sich besser dazu geschickt, als die Ultima ratio Semnonum! Eine Störung bei diesem Erfrischungsprozesse galt denn auch im allgemeinen als unstatthaft, aber heute, wo Lewin und Hirschfeldt kamen, um ihm Lebewohl zu sagen, konnte von einer solchen Störung nicht wohl die Rede sein. Um neun Uhr früh, so hieß es im Laufe des Gespräches, gedächten sie nach Frankfurt hin aufzubrechen, um daselbst in der Mittagsstunde schon mit Berliner Freunden zusammenzutreffen. Es wurde dies alles nur leicht hingeworfen, Seidentopf aber verstand sehr wohl, daß mit Hilfe dieser genauen Zeitangaben nur ihr Nichterscheinen in der Kirche entschuldigt werden sollte. Es verdroß ihn ein wenig, hatte er doch die Empfindlichkeit aller Pastoren; aber sich schnell wieder fassend, gab er seinen Wünschen für Lewin einen allerherzlichsten Ausdruck. Dann wandte er sich zu dem Rittmeister, um von den »zurückliegenden, gemeinschaftlich durchlebten Tagen« zu sprechen.
»Es waren stürmische Tage«, so schloß er.
»Und doch Tage vor dem Sturm!« antwortete Hirschfeldt.
Und nun war es neun Uhr früh. Hektor hatte sich mühsam bis an die Sandsteinstufen geschleppt, und zum letztenmal in diesem Buche fuhren die Ponies vor. Ihre Schellen klangen hell, und an Krists altem Hut mit der alten Kokarde flatterte heut ein langes grünes Band. Seine Frau hatte rot nehmen wollen, aber er hatte auf grün bestanden.
Und nun nichts mehr von Abschied.
Über den Forstacker hin flog der Schlitten, in dem Lewin und Hirschfeldt saßen, an Hoppenmariekens Häuschen vorbei, und als sie gleich darauf wieder hügelab und am Flußufer hinfuhren, rollte plötzlich ein Ton wie dumpfer Donner herauf und verhallte in weiter Ferne.
»Das Eis birst«, sagte Hirschfeldt. »Ein gutes Zeichen, unter dem wir ausziehen.«
Und in demselben Augenblicke begannen auch die Hohen-Vietzer Glocken zu klingen, und beide Freunde wandten sich unwillkürlich noch einmal zurück.
»Was bedeutet uns ihr Klang?« fragte Lewin.
»Eine Welt von Dingen: Krieg und Frieden und zuletzt auch Hochzeit; Hochzeit, der glücklichsten eine, und ich, ich bin mit unter den Gästen.«
»Sie sprechen, Hirschfeldt, als ob Sie's wüßten«, antwortete Lewin bewegten Herzens.
»Ja, Vitzewitz, ich weiß es, ich seh' in die Zukunft.«
An demselben Sonntagnachmittag saßen auch die Frauen in dem Eckzimmer, darin wir ihnen so oft begegnet. Ihre Tränen waren getrocknet, die Schorlemmer hatte sich mit einem Kraftspruch über Abschied und Rührung hinweggeholfen, und nur an Mariens langen schwarzen Wimpern hingen noch einzelne Tropfen.
Renate küßte sie und sagte: »Laß, Marie, denn du mußt wissen, ich glaube an dreierlei.«
»Das tun alle vernünftigen Menschen«, sagte die Schorlemmer. »Das heißt alle Christen.«
»Und zwar glaub' ich«, fuhr Renate fort, »erstens an den Hundertjährigen Kalender, zweitens an Feuerbesprechen und drittens an Sprüchwörter und Volksreime. Und weißt du, an welchen ich am meisten glaube?«
»Nun?«
»Und eine Prinzessin kommt ins Haus.«
Marie lächelte.
Die Schorlemmer aber sagte: »Torheit, ich will euch einen bessern Spruch sagen.«
»Und?«
»Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen.«