Theodor Fontane
Vor dem Sturm
Theodor Fontane

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Zwölftes Kapitel
Die weiße Frau

Diese »Galerie«, nach Norden hin gelegen, zog sich durch den ganzen linken Flügel des Schlosses. Sie bestand aus drei Sälen, von denen der vorderste die Familienbilder enthielt, einige davon mit großer historischer Staffage. Die Gardinen waren auch hier geschlossen, ein Kaminfeuer brannte, und der Kaffeetisch war inmitten des Saales serviert. Was aber mehr als alles dies das Auge der Eintretenden gefangennahm, waren zwei auf hohen Tripoden stehende Silberschalen, die, zu beiden Seiten des Kamins plaziert, ihre blaßblauen Spritflammen in zwei leise zitternden Säulen aufsteigen ließen. Der Graf hatte dies angeordnet, um den kalten Raum rascher zu erheizen, aber vielleicht mehr noch um des malerisch-phantastischen Effektes willen. Und dieser Effekt war erreicht. Es fehlte nicht an Beglückwünschungen.

In weitem Halbkreise wurde Platz genommen, und während der Kaffee herumgereicht wurde, zeigte Renate, die jetzt zwischen Grell und Hirschfeldt saß, auf ein unmittelbar vor ihnen hängendes Bildnis in ganzer Figur, das im Schein der beiden blauen Flammen an gespenstigem Leben zu gewinnen schien.

»Das ist sie.«

Grell rückte seinen Stuhl zurück, um besser sehen zu können, und sagte dann: »Ein schöner Kopf, aber unheimlich.«

»Ich vermute«, setzte Hirschfeldt hinzu, »daß aus dem unheimlichen Ausdruck dieser Augen die Sage selbst entstanden ist; sie fordern zu der Annahme heraus, daß sie nicht dazu bestimmt waren, sich wie zwei gewöhnliche Augen im Tode zu schließen. Sie haben etwas, als müßten sie wachen und endlos sehen.«

»In jeder alten Galerie finden sich solche Bilder«, sagte Berndt. »Sonderbarerweise sind es immer Frauen, und zwar junge und schöne Frauen.«

»Ein sehr lehrreicher Wink«, bemerkte Bamme, »der aber unbeachtet bleiben wird, wie so viele andere. Übrigens würd' ich dankbar sein, über kurz oder lang zu hören, um was es sich eigentlich handelt. Diejenigen unter uns, die das Glück hatten, an Fräulein Renatens Seite die Fahrt hierher zu machen, scheinen inzwischen in einen Geheimbund eingetreten zu sein. Ich vermute, wenn Vermutungen gestattet sind: Wangeline von Burgsdorff.«

Drosselstein nickte.

»Dacht' es«, fuhr Bamme fort. »Faulstich hat mir vor Jahr und Tag davon erzählt, aber er kam über Andeutungen nicht hinaus. Ich möchte mehr davon wissen. Hören Sie, wie draußen die Rouleauringe an den Scheiben klappern? Es muß windig geworden sein. Das ist so recht ein Ton für Gespenstergeschichten. Da wir zwölf Uhr nicht haben können, so müssen wir mit sechs Uhr zufrieden sein. Also Thema: Wangeline. Sie muß eine Großtante von Ihnen gewesen sein, Drosselstein. Was war es mit ihr?«

»Eine kurze Geschichte«, sagte dieser. »Wangeline von Burgsdorff war Hoffräulein und stand im Dienst einer Herrin, die rücksichtslos und ehrgeizig dem aus erster Ehe stammenden Erbprinzen die bekannte ›vergiftete Orange‹ zubestimmt, aber vorläufig nur ans Krankenlager gestellt hatte. Da, von plötzlicher Reue befallen, beschwor sie das Fräulein, in das Zimmer des Kranken zurückzueilen, um diesen zu retten, wenn überhaupt noch zu retten sei. Und über die Korridore hin flog jetzt die leichtverhüllte Gestalt Wangelinens, bis ein ihr plötzlich entgegentretender Kavalier, an dem sie leidenschaftlich hing, ihren flüchtigen Gang auf Augenblicke hemmte. Auf Augenblicke nur, aber lange genug, um den Tod des Prinzen zu verschulden. Sie kam zu spät, und der Fluch traf sie, das im Leben versäumte Wort im Tode sprechen zu müssen. So geht sie um und warnt.«

Diese kurzen Notizen, trotz ihrer Lücken und Dunkelheiten oder vielleicht auch um derselben willen, hatten eines Eindrucks auf die Mehrzahl der Anwesenden nicht verfehlt. Nur Bamme schüttelte historisch-kritisch den Kopf und sagte, während er die Tasse aus der Hand setzte: »Pardon, Drosselstein, daß ich Ihnen widerspreche. Aber es geschieht wenigstens nicht leichtsinnig. Sie wissen, ich habe ein paar Liebhabereien, früher waren es die jungen Frauen, jetzt sind es die weißen, und alles, was von Peter Goldschmidts ›Höllischem Morpheus‹ an bis auf Rentsch' ›Brandenburgischen Zedernhain‹ hinunter über die weißen Frauen geschrieben worden ist, das hab' ich gelesen. Und siehe da, es ist und bleibt die Orlamünderin. Ich kann den Verdacht nicht unterdrücken, daß sich Ihre Verwandten, die Burgsdorffs, eine neue weiße Frau kreiert haben, bloß aus Ranküne, weil einer von ihnen, und zwar niemand Geringeres als Ihr berühmter Konrad von Burgsdorff, weiland Günstling des Großen Kurfürsten, von der wirklichen weißen Frau (meiner Orlamünderin) die Berliner Schloßtreppe hinuntergeworfen wurde. Dergleichen vergessen unsere märkischen Familien (die wegen mangelnder ›Gradheit und Männlichkeit‹ natürlich alle tückisch und rachsüchtig sind) so gut wie nie, und so haben sich denn die Burgsdorffs durch Aufstellung einer Prätendentin zu revanchieren und dem altetablierten Spuk ein Paroli zu bieten gesucht.«

Drosselstein preßte die Lippen zusammen und sagte pikierter, als sich mit seiner sonstigen Sprechweise vertrug: »Eh bien, General, wenn Sie den ›Höllischen Morpheus‹ gelesen haben, woran ich nicht im geringsten zweifle, so verzicht' ich darauf, Ihre Meinungen zu widerlegen.«

Bamme hörte die Gereiztheit sehr wohl heraus, verneigte sich aber, als ob nichts vorgefallen sei, und fuhr in demselben Tone fort: »Es ist, wie ich sage: Prätendentenschaft aus Familienranküne. Nichtsdestoweniger, Drosselstein, wenn ich etwas für Ihre Wangeline tun kann, so rechnen Sie auf mich. Erstens bin ich überhaupt für alles Stürzen und Absetzen, das einzige, was mir die Weltgeschichte lesbar macht, und zweitens und hauptsächlichst muß ich Ihnen einräumen, daß es meine alte Freundin, die Orlamünderin, ihrerseits übertrieben hat. Sie verdient eine Dethronisierung. Und warum? Weil sie die Gesetze nicht hält. Und daran geht jede Dynastie zugrunde; auch im Reiche der Gespenster.«

Renate lachte und sagte dann: »Aber, General, da geraten Sie doch in einen argen Widerspruch mit sich selbst. Sie proklamieren erst Ihre Vorliebe für alles Stürzen und Absetzen, will sagen, für alles Auflehnen gegen das gegebene Gesetz, und im selben Augenblicke rechnen Sie es Ihrer armen Orlamünderin zum Schaden und Nachteil an, die Gesetze ›im Reiche der Gespenster‹ nicht gehalten zu haben. Wie wollen Sie da heraus?«

»Eine heikle Situation«, replizierte Bamme. »Soviel muß ich zugeben, meine Gnädigste. Aber ich will es wenigstens versuchen, aus dem Dilemma herauszukommen. Sehen Sie, da hab' ich diesen letzten Winter ein englisches Trauerspiel, den ›König Richard III.‹, aufführen sehen. Eine sehr interessante Figur, tapfer, rücksichtslos und, was die Hauptsache ist, diabolisch vergnügt. Nun, ich darf wohl sagen, ich habe mich gefreut, ihn unter seinen Brüdern und Lords aufräumen und sich die Krone aufsetzen zu sehen; aber ich kann nicht behaupten, mich am Schlusse des Stücks über die fatale Lage, in die er sich durch ein halbes Dutzend allerliebster Morde gebracht sieht, im geringsten gewundert zu haben. Mit anderen Worten, ich lese gern von Stürzen und Absetzen und gedenke bei diesem Geschmack zu bleiben, aber ich find' es andererseits nur in der Ordnung – außerdem auch eine Steigerung meines Vergnügens –, den Stürzer und Absetzer schließlich selbst an die Reihe kommen zu sehen. Illegitimitäten sind interessant und von einem gewissen Standpunkte aus sogar angenehm und begehrenswert, aber sie bleiben doch zuletzt sie selbst, das heißt Dinge, für die früher oder später gezahlt werden muß. Menschen oder Gespenster, macht keinen Unterschied.«

»Und was sind denn nun die ›Illegitimitäten‹ oder die Ungehörigkeiten Ihrer armen Orlamünderin, zu deren Sturze Sie selber mitarbeiten wollen?«

»Zweierlei, meine Gnädigste. Erstens: sie hält nicht das Haus, ist vielmehr ein Wandergespenst, eine ganz unstatthafte Spezies. Sie spukt reihum und bereist alle alten und neuen Hohenzollernschlösser: Plassenburg, Bayreuth, Berlin. Das scheint eine Kleinigkeit, ist aber ein Kardinalverbrechen. Es gibt Reiseprediger, aber keine Reisegespenster. Das ist gegen die Konvention.«

»Es mag gegen die Konvention sein«, antwortete Renate, »aber es ist hübsch und gefällt mir um ebensoviel besser, wie mir der Hund besser gefällt als die Katze. Ich stelle die Herrentreue höher als die Treue gegen das Haus.«

»Eine feine Doktorfrage«, sagte Bamme, »in der ich mich nicht gleich zurechtzufinden weiß.«

»Gut; aber Sie sprachen von zweierlei. Was haben Sie weiter? Was war Ihr zweiter Anklagepunkt gegen die weiße Frau?«

»Etwas, wobei ich leider noch weniger auf Ihre Zustimmung rechnen darf, denn es ist eine Bekleidungsfrage.«

»Doch erzählbar?«

»Durchaus; Seidentopf würde darüber predigen können.«

»Nun denn.«

»Nun denn. Dasselbe Ausdauern, das ich von meinen Gespenstern in Lokalfragen verlange, verlang' ich auch von ihnen in Toilettenfragen. Aber was zeigt sich tatsächlich? Dieselbe Libertinage. Dreihundert Jahre lang haben wir eine schlichte ›weiße Frau‹ gehabt, nonnenhaft mit Schleier und Skapulier. Das war in der Ordnung. Da geschieht nun was? Hören Sie: Eines Tages, völlig unmotiviert, vervornehmt sie sich und beginnt eine Krause zu tragen. Schlimm genug; mais enfin immer noch une dame blanche. Da plötzlich vollzieht sich das Unerhörte, und als wolle sie sich über sich selbst und uns mokieren, erscheint sie tout-à-fait in einer schwarzen Parüre, mit Astrachanmuff und dito Pelzbesatz. Und so haben wir denn jetzt eine ›schwarze weiße Frau‹. Das ist das vorläufig letzte Stadium, wenigstens in Bayreuth. Wie es in Berlin steht, muß erst das nächste Auftreten entscheiden.«

»Und wie deuten Sie sich das alles, ist es ein wirklicher Spuk oder Täuschung und Betrug?«

»Tausendkünstler und Gespenstergeschichtenerzähler, meine Gnädigste, haben Erlaubnis, jede Aufklärung zu verweigern. Aber ich gebe sie dennoch. Den Mondschein und das wehende Handtuch außer Spiel gelassen, mögen Sie sicher sein, daß es von vier Fällen dreimal ein verdrießlicher Kastellan und das viertemal ein hübsches kleines Hoffräulein ist, ein junges Blut...«

In diesem Augenblicke wurde Justizrat Turgany gemeldet.

»Sehr willkommen!« sagte Drosselstein, und der Angemeldete trat ein.


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