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Lewin ging zu Tisch. In dem sackgassenartig verbauten Teil der Taubenstraße, von dem aus damals, wie heute noch, ein schmaler Durchgang auf den Hausvogteiplatz führte, war eine altmodische Weinhandlung, in deren hochpaneeliertem, an Wand und Decke verräuchertem Gast- und Speisezimmer Lewin seine ziemlich einfache Mittagsmahlzeit einzunehmen pflegte. Rascher als gewöhnlich hatte er sie heute beendet, und vier Uhr war noch nicht heran, als er schon wieder in seiner Wohnung eintraf. Zwei Briefe waren in seiner Abwesenheit abgegeben worden, einer von Dr. Saßnitz, der sein lebhaftes Bedauern aussprach, am Erscheinen in der Kastalia verhindert zu sein, der andere vom Kandidaten Himmerlich, zugleich unter Beifügung eines lyrischen Beitrags. Es waren vier sehr lange Strophen unter der gemeinschaftlichen Überschrift: »Sabbat«. Lewin lächelte und schob das Blatt, nachdem er auf demselben mit Rotstift eine I vermerkt hatte, in einen bereitliegenden, als Kastaliamappe dienenden Pappbogen, in den er gleich darauf auch die von Hansen-Grell empfangenen Verse sowie seine eigenen Reime vom Abend vorher hineinlegte. Auch diese beiden Beiträge hatten zuvor ihre Rotstiftnummer erhalten.
Hiermit waren die ersten Vorbereitungen getroffen, aber freilich nicht die letzten. Noch sehr vieles blieb zu tun, trotzdem zugestanden werden muß, daß einzelne Fragen durch eine weise Gesetzgebung aufs glücklichste geregelt und dadurch wie vorweg gelöst waren. So beispielsweise die Bewirtungsfrage. Es hieß in Paragraph sieben des von Jürgaß entworfenen Statutes wörtlich wie folgt: »Die Kastalia hat sich in Sachen der Bewirtung ihres Namens und Ursprungs würdig zu zeigen. Den Grundpfeiler ihrer Gastlichkeit bildet unverrückbar das reine Wasser und, was diesem am nächsten kommt, der Tee. Nur exzeptionell darf ein Rhein- oder Moselwein geboten werden. Der große Vereinsbecher bleibt den Priesterhänden unseres Mitgliedes Lewin von Vitzewitz, als Gründer des Vereins, anvertraut. Substantia, selbst in Ausnahmefällen, nicht zulässig.«
Dies war Paragraph sieben. Aber seine Voraussicht hatte nicht jede Schwierigkeit aus der Welt schaffen, am wenigsten die für Lewin immer brennender werdende Platzfrage lösen können, die sich teils aus der vergleichsweisen Enge seines Zimmers, teils aus den unausreichenden Möbelbeständen Frau Hulens ergab. Ein zarter Punkt, den sich Lewin der alten Frau gegenüber nicht zu berühren getraute. Und so mußten denn auch heute wieder, unter den Mühen immer erneuten Ausprobierens, zwei runde Tische nicht bloß nebeneinandergerückt, sondern auch in der Diagonale aufgestellt werden, da bei Parallelstellung mit der Wand die Türe nicht auf- und zugegangen wäre und zu einer Störung dieser immerhin wichtigen, weil einzigen Kommunikationslinie mit Frau Hulen geführt haben würde.
Endlich war alles geschehen, und Lewin mochte sich seines Werkes freuen, Lampe und Lichter brannten. Auf dem einen der beiden Tische präsentierte sich das Symbol der Kastalia, die große Wasserkaraffe, während in der Mitte des andern der mit Perlen gestickte Tabakskasten aufragte, dessen Haupt- und Deckelbild den Tod der Königin Dido darstellte. Zwischen Sofa und Tür, an einer Wandstelle, die wenigstens von den meisten Tischplätzen aus mit Leichtigkeit abgereicht werden konnte, stand nach damaliger Sitte ein ständerartiger Pfeifentisch, die Weichselholzrohre, oder woraus sonst sie bestehen mochten, mit Puscheln und Quasten reich geschmückt, während einige Rheinweinflaschen und neben ihnen der in dünnstem Silberblech getriebene Kastaliabecher in einer Ecke des Fensterbrettes ihrer Zeit warteten.
Frau Hulens Schwarzwälder Uhr, deren Ticktack man auch in Lewins Zimmer hörte, hatte kaum sieben ausgeschlagen, als es klingelte. Es waren Rabatzki und Himmerlich, die sich auf der dritten Treppe getroffen und trotz der herrschenden Dunkelheit erkannt oder doch auf gut Glück hin begrüßt hatten. Waren sie doch, nach einer Art von stillschweigendem Übereinkommen, immer die ersten und benutzten die Minuten, die ihnen bis zum Eintreffen der anderen Mitglieder blieben, zur Erledigung von redaktionellen Fragen. Rabatzki gab nämlich ein kleines Sonntagsblatt heraus, und ohne Übertreibung durfte gesagt werden, daß der lyrisch-novellistische Teil desselben jedesmal vor Beginn der letzten Kastaliasitzung endgültig festgestellt wurde.
Nur heute nicht. Rabatzki hatte kaum Zeit gefunden, an »seine rechte Hand«, wie er Himmerlich gerne nannte, eine erste Frage zu richten, als das Erscheinen des Rittmeisters alle weiteren Unterhandlungen unmöglich machte. Mit Jürgaß waren die beiden angekündigten Gäste, von Hirschfeldt und von Meerheimb, erschienen, von denen der letztere den linken Arm noch in der Binde trug. Lewin sprach ihnen aus, wie sehr erfreut er sei, sie zu sehen, doppelt, wenn, wie Herr von Jürgaß in Aussicht gestellt habe, sie sich bereit zeigen sollten, durch Mitteilungen aus ihren Tagebuch- und Erinnerungsblättern zu dem gelegentlich etwas mattsprudelnden Quell der Kastalia beizusteuern. Beide Herren verneigten sich, während Jürgaß zwei Manuskripte, deren er sich schon vorher zu versichern gewußt hatte, an Lewin überreichte.
Dieser hoffte, noch vor Beginn der Sitzung zu einem einigermaßen eingehenden Gespräche mit den ihm bis dahin persönlich unbekannt gebliebenen Gästen Gelegenheit zu finden; er war aber kaum über die erste Begrüßung hinaus, als ein abermaliges Klingeln die eben begonnene Unterhaltung unterbrach. Es waren Tubal und Bninski, die eintraten. Lewin erwartete, zwischen dem Grafen und Hirschfeldt, die beide in Spanien, aber auf verschiedenen Seiten gefochten hatten, von Anfang an ein gespanntes Verhältnis eintreten zu sehen; aber gerade das Unerwartete geschah. Bninski, durch Tubal vorbereitet, wandte sich mit einer Politesse, in der fast mehr noch ein Ton der Herzlichkeit als der bloßer Artigkeit klang, sofort an Hirschfeldt, und wenn auch allerhand Fragen und Unterbrechungen, wie sie namentlich Jürgaß liebte, ein andauerndes Gespräch nicht aufkommen ließen, so verfehlte der Graf doch nicht, durch kleine Aufmerksamkeiten die besonderen Sympathien auszudrücken, die er für seinen Gegner empfand.
Infanteriekapitän von Bummcke war der letzte. Jürgaß konnte ihm das nicht schenken und hielt ihm die Uhr entgegen.
»Militärs, lieber Bummcke, kennen keine akademischen Viertel. In Sommerzeiten möcht' es, in Anbetracht Ihrer besonderen Verhältnisse, hingegangen sein; aber bei zwölf Grad Kälte kann ich keinem Embonpoint der Welt eine Unpünktlichkeit von beinahe zwanzig Minuten zugute halten.«
»Anfangen, anfangen!« riefen mehrere Stimmen, unter denen die von Rabatzki und Himmerlich deutlich erkennbar waren. Lewin, während Mitglieder und Gäste sich, so gut es ging, um die zwei Tische her gruppierten, klopfte mit einem Zuckerhammer auf und nahm dann selber auf seinem durch ein aufgelegtes Sofakissen zu einer Art Präsidentenstuhl umgewandelten Lehnsessel Platz. Er war kein Meister in der Rede, aber Amt und Situation ließen ihm keine Wahl.
»Meine Herren«, hob er an, »ich heiße Sie willkommen. Wir sind leider nicht vollzählig. Unsere beste kritische Kraft ist ausgeblieben: Doktor Saßnitz hat sich brieflich entschuldigt. Dagegen freue ich mich, Ihre Aufmerksamkeit auf eine stattliche Reihe von Vorlagen, darunter auch Drucksachen, hinlenken zu können. Unter diesen Drucksachen stehen diejenigen Publikationen obenan, die von früheren Mitgliedern der Kastalia herrühren. Es sind dies ›Die Ahnen von Brandenburg‹, ein epischer Hymnus von Friedrich Graf Kalkreuth, und die vor wenig Tagen erst bei J. E. Hitzig hierselbst erschienenen ›Dramatischen Dichtungen‹ von Friedrich Baron de la Motte Fouqué, unter denen sich, neben altnordischen Sachen, auch ›Die Familie Hallersee‹ und ›Die Heimkehr des Großen Kurfürsten‹ befinden, die während des vorigen Winters in unserem Kreise zuerst gelesen und mit so viel Jubel aufgenommen wurden.«
Hier unterbrach sich Lewin, um die beiden genannten Bücher kursieren zu lassen. Dann fuhr er fort: »An neuen Beiträgen für die heutige Sitzung sind fünf Arbeiten eingegangen, sehr verschieden an Umfang: lyrische oder lyrisch-epische Dichtungen, ferner Tagebuch- und Erinnerungsblätter aus Spanien und Rußland. Es ist Regel, mit den lyrischen Sachen zu beginnen und alles, was dem Gebiete der Erzählung angehört, folgen zu lassen. Ich ersuche Herrn Kandidaten Himmerlich, uns seine, wenn ich recht gesehen habe, aus dem Englischen übersetzten Strophen vorlesen zu wollen. Sie führen den Titel: ›Der Sabbat‹.«
Mit diesen Worten überreichte Lewin das Blatt.
Jürgaß war bei Nennung der Überschrift in ziemlich demonstrativer Weise mit der linken Handfläche über das Kinn gefahren.
Himmerlich, in unverkennbarer nervöser Unruhe und eifrig bemüht, das mehrmals eingekniffte Blatt wieder glatt zu streichen, wiederholte zunächst: »Der Sabbat, Gedicht von William Wilberforce.«
»Ist das derselbe Wilberforce«, fragte Jürgaß, »der den Sklavenhandel abgeschafft hat?«
»Nein, im Gegenteil.«
»Nun, er wird ihn doch nicht wieder eingeführt haben?«
»Auch das nicht. Der einen so berühmten Namen führende junge Dichter, mit dem ich Sie heute bekanntmachen möchte, ist Fabrikarbeiter. Wenn ich sagte, ›im Gegenteil‹, so wollte ich damit ausdrücken, daß er selber noch in einer Art von Sklaverei steckt. Ich fühle das Unlogische meiner Wendung und bitte um Entschuldigung.«
»Gut, gut, Himmerlich. Nicht immer gleich empfindlich.«
»Jede Art von Empfindlichkeit ist mir durchaus fremd. Ich bitte aber, da ich einmal das Wort habe, einige Bemerkungen vorausschicken zu dürfen. Es ist Ihnen allen bekannt, daß die englische Sprache mit kurzen Wörtern überreich gesegnet ist und daß dieselbe, nicht immer, aber oft, in einer einzigen Silbe das zu sagen versteht, wozu wir deren drei gebrauchen. Weibliche Reime, um auch das noch zu bemerken, haben die Engländer so gut wie gar nicht.«
»Wie verwerflich!«
»Aus diesen sprachlichen Unterschieden erwachsen Schwierigkeiten, auf die wenigstens kursorisch einzugehen Sie mir gütigst gestatten wollen.«
»Nein, lieber Himmerlich, vorbehaltlich präsidieller Entscheidung ›gütigst nicht gestatten wollen‹. Ich habe bis hierher geschwiegen, sehr wohl wissend, jedes Huhn kakelt, ehe es sein Ei legt. Aber diesem bis zu einem gewissen Grade nachzugebenden Naturrecht steht, wenn es auszuschreiten droht, das geschriebene Recht der Kastalia gegenüber. Paragraph neun unserer Statuten regelt die Frage der Vorreden ein für allemal und gibt diesen selber ihr zuständiges Maß. Auch von dem Redefeuer gilt des Dichters Wort: ›Wohltätig ist des Feuers Macht, wenn sie der Mensch bezähmt, bewacht.‹ Ich habe den Eindruck, daß das statutenmäßig vorgesehene Maß bereits überschritten wurde, und bitte deshalb unseren Herrn Vorsitzenden, auf Vortrag der Dichtung selbst dringen zu wollen.«
Lewin nickte zustimmend, und Himmerlich, indem er sich leicht verfärbte, begann mit vibrierender Stimme:
»'s ist Sabbatfrüh', und noch im Sinken spendet Ein zaubrisch Licht des Vollmonds Silberpracht. Es ist noch früh, die Mitte kaum beendet Der stillen, sternenblassen Sommernacht; Schon hab' ich froh mich auf den Weg gemacht Am Rain entlang, entlang an Wald und Auen Und harre nun, auf daß der Tag erwacht, Um andachtsvoll dem Schauspiel zuzuschauen, Vor dessen Majestät die Herzen übertauen. Die Lerche wacht; mit flatterndem Gefieder |
An dieser Stelle erfuhr die Vorlesung durch das Erscheinen der Frau Hulen, die mit dem Teebrett eintrat, eine Unterbrechung. Lewin, immer voll Mitgefühl mit Poeteneitelkeiten, schon weil er sie selber durchgemacht hatte, winkte mehrmals, daß sich die Alte zurückziehen möchte; aber es war schon zu spät, und Himmerlich hatte durch ein minutenlanges Martyrium zu gehen. Er dankte kurz, als das herumgehende Tablett auch an ihn kam, schickte der endlich wieder verschwindenden Alten einen Blick voll tragikomischen Hasses nach und fuhr dann mit gehobener Stimme fort:
»Nun wird es hell, und sieh, der Berge Gipfel Erglühen purpurn, und der Feuerball Der Sonne selbst vergoldet schon die Wipfel Und scheucht ins Tal der Nebel feuchten Schwall; Und höher in die Kuppel von Kristall Will sich der ew'ge Strahlenquell erheben, In Höh' und Tiefe Licht wird's überall, Bis schlucht-entlang die letzten Schatten schweben – Ein neuer Tag ist da und atmet neues Leben. Jetzt laß mich, Gott, Gemeinschaft mit Dir halten! |