Theodor Fontane
Vor dem Sturm
Theodor Fontane

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Zweiundzwanzigstes Kapitel
Im Weißkopf

In denselben Stunden, in denen der über Lewins Gefangenschaft Auskunft gebende Brief den Weg von Frankfurt nach Hohen-Vietz hin machte, machte Lewin in Person den Weg von Frankfurt nach Küstrin. Nur die Breite des Flusses lag zwischen ihnen, und der alte Rysselmann, wenn er schärfer zugesehen hätte, hätte die französischen Eskortemannschaften erkennen müssen, die drüben am neumärkischen Ufer ihre Straße zogen. Es waren Voltigeurs, ausgesuchte Leute, die man unter den Befehl eines alten, schon in Spanien gedienten Sergeanten gestellt hatte. Und solche Vorsichtsmaßregeln waren mit gutem Grunde getroffen worden, denn hatten es die Russen auch tags zuvor an gutem Willen und jedenfalls an Worthalten fehlen lassen, so waren sie doch in der Nähe, durchschwärmten die Neumark und machten sich recht eigentlich eine Aufgabe daraus, kleine feindliche Kommandos wegzufangen. Das erheischte nur geringe Opfer und machte von sich reden. Dieser Sachlage waren sich die Begleitmannschaften auch voll bewußt und ließen es, um schlimmstenfalles nicht ohne Fürsprache zu sein, an Aufmerksamkeit gegen ihren Gefangenen nicht fehlen. Mußten sie doch fürchten, jeden Augenblick selber Gefangene zu werden.

Aber ihre Befürchtungen erfüllten sich nicht; die Kosaken, nach denen auch Lewin von Zeit zu Zeit ausgesehen hatte, kreuzten nirgends ihren Weg, und nachdem um Mittag die Kirch-Göritzer ausgebauten Häuser und bald darauf auch die Pulvermühlen von ihnen passiert worden waren, trafen sie Punkt zwei vor der Festung ein und lieferten ihren Gefangenen auf dem alten Küstriner Schloßhof ab. General Fournier d'Albe tat ein paar Fragen, die trotz aller Kühle doch Teilnahme verrieten, musterte die schlanke Gestalt Lewins und gab dann Befehl, ihn auf dem »Weißkopf« unterzubringen.

Lewin erschrak, als er diesen Namen hörte.

Der »Weißkopf« war ein auf Bastion Brandenburg stehender Rundturm, eigentlich nur das mannshohe Fundament eines solchen, von dem die Sage ging, daß es zwei, drei Tage vor der Hinrichtung Kattes als Schafott für diesen aufgemauert worden sei. Dies alles war nun freilich durch einige lebusische Spezialhistoriker, darunter auch unser Seidentopf, als nicht stichhaltig nachgewiesen worden; aber stichhaltig oder nicht, die bloßen Vorstellungen, die sich infolge dieser Sage an ebendiese Örtlichkeit knüpften, reichten gerade hin, den Gedanken eines vor einem Kriegsgericht Stehenden eine sehr trübe Richtung zu geben.

Und nach diesem »Weißkopf« hin wurde Lewin nun wirklich abgeführt. Ein Gefreiter und zwei Mann nahmen ihn in ihre Mitte, und unser Gefangener fürchtete schon, den Rest des Tages und vielleicht auch die Nacht in einem kellerartigen Gewahrsam zubringen zu müssen, als er im Näherkommen zu seinem Troste wahrnahm, daß auf dem mannshohen Unterbau des Turmes noch ein nicht unfreundlich aussehendes, aus Fachwerkwänden aufgeführtes Turmhäuschen stand, an das sich von außen her eine Holztreppe lehnte, acht oder zehn halbausgebrochene Stufen.

Und vor diesen Stufen hielt jetzt das Kommando. Der Schlüssel zu der kleinen eisenbeschlagenen Obertür fehlte, fand sich indes schließlich, als der Kastellan vom Schloß her herbeigeholt worden war, der nun öffnete und den Gefangenen eintreten ließ. Der Alte, solange der Gefreite da war, zeigte sich einsilbig und mürrisch genug; Lewin aber, aller mangelnden Menschenkenntnis unerachtet, konnte doch leicht erkennen, daß dieses einsilbig mürrische Wesen nur äußerlich angenommen war. Er durfte sich in der Folge und unter vier Augen mehr Entgegenkommen von dem Alten versprechen. Vorläufig schloß dieser wieder ab, schob zum Überfluß noch einen Riegel vor und folgte dann dem abrückenden Wachkommando.

Und nun war unser Gefangener in seinem Turmzimmer allein.

Aber war es denn ein Zimmer? Die Mansardenstuben der alten Hulen hatten ihn nicht verwöhnt, und doch waren es Palasträume, verglichen mit diesem Erstenstockzimmer im »Weißkopf«. Es hatte fünf Schritt im Quadrat, und wenn er sich aufrichtete, berührte seine Filzkappe die Decke. »Wie lebendig begraben!« sagte er und schritt auf das Fenster zu, um wenigstens frische Luft einzulassen. Der rechte Flügel, den er zuerst öffnete, hing nur in der oberen Haspe, so daß er ihn um des Windes willen, der wehte, rasch wieder schließen mußte; mit dem linken Flügel aber ging es besser, und er hakte das Ösenstäbchen ein und sah nun den Fluß und das Land hinauf, das als ein Bild winterlicher Schöne vor ihm lag. Und alles in dem Bilde kannte er, und alles war ihm wohlvertraut. Da nach links hin die weite Fläche mit den Weidenbüschen am Ufer, das war die Krampe, wo die Kirch-Göritzer ihre Schlacht geschlagen hatten, und dahinter, an den Kusseln erkennbar, lief der Hohlweg, den er, als er mit Tubal von Dr. Faulstich kam, bei halbem Dunkelwerden passiert hatte. Und nun gar nach rechts hin ins Bruch hinein! Da dehnten sich, nur durch Pappelwege verbunden, die Gorgaster und Neu-Manschnower Gehöfte, und mitunter war es ihm, als sähe er den Hohen-Vietzer Turm und das Kreuz darauf, blitzend in der Nachmittagssonne. Lange hing er dem Bilde nach, dann zog er den Fensterflügel wieder heran und durchmaß den engen Raum.

Fünf Schritt. In der Quere noch weniger, denn hier stand eine Bettlade. In dieser lagen vier, fünf Bretter, und zu Füßen lehnte ein Binsenstuhl, tief eingesessen, mit einzelnen, nach unten hängenden Halmen. Sonst nichts; nur ein paar eingekratzte Herzen in der Wand, und vier, fünf Namen darunter. Französische Namen. Also Neues, nichts Altes, nichts aus den Katte-Tagen her, und Lewin war so trostbedürftig, daß er in diesem geringfügigen Umstand einen Trost für seine bedrückte Seele fand.

Eine Stunde mochte vergangen sein, als er wieder Tritte draußen hörte und gleich darauf den Alten eintreten sah, der inzwischen den Namen seines Gefangenen erfahren hatte und nun kam, um sich nach den Wünschen des »Junkers« zu erkundigen. Der General, so verschwor er sich, habe alles erlaubt, und was er nicht erlaubt habe, darüber würden zwei Landsleute doch miteinander reden können. »Nicht wahr, Junkerchen? Und dann, Junkerchen, es wird nichts so heiß gegessen, wie es vom Feuer kommt. Und der letzte Trost ist immer: › einen Tod kann der Mensch bloß sterben.‹«

»Ja«, sagte Lewin, »aber wann?«

»Ei, noch lange nicht. Ihr Sand, Junkerchen, ist noch nicht durchgelaufen. Bei Ihnen hat die Predigt erst angefangen. Und der Sand muß durch, eher ist es mit keinem nich vorbei.«

Lewin dankte dem Alten für seinen Zuspruch und bat ihn um ein Nachtessen, was es sei, am liebsten eine Suppe. Aber nicht vor sieben Uhr. Wenn er ein Buch habe, so solle er es ihm schicken; er wolle sich ans Fenster setzen, solang es noch Tag sei, und sich die Zeit mit Lesen vertreiben.

Der Alte versprach alles, und nicht lange – die kleine Schloßturmuhr schlug eben vier –, so wurden draußen Stimmen laut, und ein Klappen wie von Holzpantinen ließ sich auf den Treppenstufen vernehmen. Gleich darauf öffnete sich auch wieder die kleine Tür, und ein breitschulteriger, allem Anscheine nach auch riesengroßer Chasseur à pied – der, vornübergebückt, sich abmühte, ein breit zusammengeschnürtes Bündel durch die zu schmale Türöffnung hereinzuziehen – wurde von hinten her sichtbar. Ein altes Weib, mit vielem Kupfer im Gesicht, stand noch auf den Stufen draußen und schob nach. Endlich war das Bündel durch, und der Chasseur machte jetzt Front und begrüßte den Gefangenen mit einem halb gutgelaunten, halb spöttischen: »Bonjour, camarade«, in gleichem Tone hinzusetzend: »Voici votre équipage!«

Lewin erwiderte den Gruß und musterte den jetzt aufrecht vor ihm stehenden Chasseur, der in seiner ganzen Haltung und Ausstaffierung als ein vollkommener Typus südfranzösischer Nonchalance gelten konnte. Sein Kollett stand offen, während seine beiden Füße in großen, mit Stroh gefütterten Holzschuhen steckten; offenbar ein gutmütiger, renommistischer Gaskogner, der, um anderweitig dienstfrei zu werden, den Kalfakterdienst im Schloß übernommen hatte.

»Madame de Cognac«, wandte er sich jetzt an die noch immer auf der Treppe stehende Alte, »s'il vous plaît! Komme Sie herein, Madame, und knüppre Sie auf.« Lewin lächelte. »Oui, monsieur; knüppre Sie auf; c'est tout-à-fait allemand. Oh, ich gelernt habe gut Deutsch. Moi. N'est-ce pas, Madame?«

Diese nickte.

»Vous voyez, Monsieur, notre marquise de Chaudeau a consenti.«

Während dieses Gespräches war denn auch wirklich das Bündel aufgeknotet worden, und der Chasseur und seine Begleiterin mühten sich jetzt gemeinschaftlich ab, ein Lager für den Gefangenen herzustellen. Und nun waren sie fertig damit: ein Strohsack, ein Seegraspfühl und ein verschossener Mantel mit Otterfellkragen, den der alte Kastellan, da Betten oder Decken im ganzen Schloß nicht mehr aufzutreiben gewesen waren, aus seinem eigenen Kleiderschranke hergegeben hatte. In dem großen Bündel hatten sich übrigens auch noch drei Bücher befunden, die jetzt von seiten des Chasseurs unter affektiert respektvollen Verbeugungen und »Avec les compliments de monsieur le Châtelain« an Lewin überreicht wurden. »Et à sept heures le souper.« Danach klappten wieder die Pantinen auf der Treppe draußen, und das Kauderwelsch mit der Alten setzte sich fort, bis es in dem Winde, der über Bastion Brandenburg hinstrich, verklungen war.

Lewin rückte den Stuhl ans Fenster, um in die drei Bücher hineinzusehen, die der Kastellan ihm geschickt hatte. Zwei, schwarzgebunden mit zitronengelbem Schnitt, waren, was sich erwarten ließ, Bibel und Gesangbuch. Aber das dritte! Es war nur ein Büchelchen, zwei Pappdeckel, mit marmoriertem Papier, an den Ecken abgestoßen. Und nun las er: »Bericht des Majors von Schack über des Leutnants von Katte Dekapitation, 6. November 1730.« Das hatte der Alte schlecht getroffen. Es überlief unseren Gefangenen eiskalt, und er legte die Bibel darauf, daß er es nicht sähe.

Lange, lange Stunden.

Er ging wieder auf und ab und zählte. »Erst tausend Schritt.« Endlich schlug es sieben. Es war ihm ein unangenehmer Gedanke, den Gaskogner noch einmal eintreten zu sehen; aber statt seiner erschien der alte Kastellan selbst und brachte das Nachtessen: eine Suppe aus Brotrinden und Hagebutten gekocht.

»Nun, Junkerchen, da haben Sie was Warmes. Das Brot, das haben die Franzosen gebacken, aber die Hagebutten, die sind aus Markgraf Hansen seinem Küchengarten, und meine Lene, was meine Jüngste ist, die hat sie selber gepflückt. Es war ein rechtes Hagebuttenjahr. Hören Sie, Junkerchen, auch für die Franzosen; aber die haben die Hacheln gekriegt.« Und dabei setzte der Alte den Suppentopf und eine Stallaterne, in der ein Lichtstümpfchen schwelte, vor Lewin nieder und sagte, während er schon halb in der Tür stand: »Und nun Gott befohlen, Junkerchen. Es kommt, wie's kommt. Und blasen Sie gleich aus; denn Licht darf nicht sein. Es geht mir sonst an Kopp und Kragen. Hören Sie, gleich ausblasen.«

Lewin hatte Hunger, und der würzige Duft tat seinen Sinnen wohl. Aber er konnte nicht essen. Es war nicht der verzinnte Löffel, der so bitter schmeckte, es war die Todesfurcht, die sich ihm auf die Zunge legte. Er stellte den Napf aus der Hand, löschte das Licht und warf sich auf das Bett. Im Liegen empfand er, daß ihn die Uhr drücke, und er nahm sie heraus, um sie neben sich auf den Binsenstuhl zu legen. Dann erst wickelte er sich in den Mantel, zog den Kragen bis unter das Kinn und sah von seinem Kissen aus auf die Sterne, die matt durch die kleinen Fensterscheiben zu ihm her flimmerten. »Und kann auf Sternen gehn«, klang es in seiner Seele immer leiser, immer ferner, und darüber schlief er ein.


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