Theodor Fontane
Vor dem Sturm
Theodor Fontane

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Zwanzigstes Kapitel
Der andere Morgen

In die Nacht und dann allmählich in den dämmernden Tag hinein war der Rückzug gegangen, die Kolonne während des Marsches immer kleiner werdend. Schon am Spitzkrug waren die Barnimschen Bataillone, bei Reitwein die Kompanien Hohen-Ziesar und Lietzen-Dolgelin abgeschwenkt, und nur der verbleibende Rest, darunter die Rutzeschen Pikeniere, rückte bis Hohen-Vietz.

Es schlug sieben, als sie bis dicht an Miekleys Mühle heran waren. Ein schwerer, graugelber Nebel senkte sich, und nur die Vordersten konnten das Gehöft erkennen. Dazu herrschte peinliche Stille; die dicke Luft dämpfte den Ton, und es war, als schlichen sie heran. Bamme fühlte das und wollte damit ein Ende machen. »Vorwärts, Hirschfeldt«, rief er, »vorwärts mit der ganzen Janitscharenmusik! Wir wollen nicht ohne Sang und Klang einrücken, als kämen wir recte von der Armensünderbank. Zeigen wir unser gutes Gewissen, oder tuen wir wenigstens so.« Und durch den Nebel hin wirbelte die Hohen-Vietzer Trommel, und einzelne Töne des Rutzeschen Hornes fielen ein. Alles dumpf und trübe, und jedem, der es hörte, ging es durch Mark und Bein. Endlich hielten sie. »Gewehr ab!« Es war der Platz zwischen dem Krug und dem Schulzenhof; in den Häusern war Licht, aber niemand zeigte sich auf der Straße. Berndt und Bamme hatten noch eine kurze Beratung wegen Unterbringung der Pikeniere; dann gab die Trommel das Signal, und alles rückte in die Quartiere ab. Ehe fünf Minuten um waren, waren nur noch unsere Freunde da, schweigsam und unschlüssig, was zu tun. Keinen drängte es, die Schwelle des Herrenhauses wieder zu betreten, wußte doch jeder: Unglücksboten kommen immer zu früh. Endlich sagte Berndt, indem er auf den Schulzenhof hinwies: »Ich habe noch ein Wort mit Kniehase zu sprechen. Bitte, General, melden Sie mich bei meiner Tochter. Oder Tubal, du.«

Bamme nahm Hirschfeldts Arm, und Tubal folgte. So schritten sie die Dorfgasse hinauf bis an das Herrenhaus. Jeetze stand in der Glastür und schien mit seinem verwunderten Blick nach dem alten und jungen Herrn zu fragen. »Noch im Dorf«, sagte Bamme und setzte dann in halblautem Tone hinzu: »Kommen Sie, Hirschfeldt, ich liebe keine Familienszenen. Am wenigsten solche.« Und damit ging er nach dem Korridor, der in sein Zimmer führte. Nur Tubal blieb zurück. Was war zu tun? Sollte er bei Renaten eintreten? Er konnt' es nicht; so warf er sich in einen alten neben dem Kamin stehenden Lehnstuhl, in dem Jeetze die Nacht zugebracht hatte.

Berndt war nicht auf den Schulzenhof zugeschritten; er hatte nur allein sein wollen und folgte jetzt den Voraufgegangenen in kurzer Entfernung. Ihm schlug das Herz, und langsam, als ob er eine zu schwere Last trüge, schwankte er erst an der Pfarre und dann an Bauer Püschels großem Gehöft vorüber. Da drinnen war auch Trauer: der einzige Sohn gefallen.

Das nächste Gehöft war das von Kallies. Zwischen beiden lief ein Ligusterzaun, und einige der dürren Zweige streiften ihm das Gesicht, als er daran vorüberging. Er blieb stehen und sann und horchte und griff dann in die Zweige hinein, um sich zu halten, denn er fühlte, daß er dem Umfallen nahe sei.

»Alles gescheitert«, sagte er. »Und ich hab' es so gewollt. Gescheitert, ganz und gar. Soll es mir ein Zeichen sein? Ja. Aber ein Zeichen, daß wir unser Liebstes an ein Höchstes setzen müssen. Nichts anderes. Dies ist keine Welt der Glattheiten. Alles hat seinen Preis, und wir müssen ihn freudig zahlen, wenn er für die rechte Sache gefordert wird.«

So sprach er zu sich selbst. Aber inmitten dieses Zuspruchs, an dem er sich aufzurichten gedachte, ergriff es ihn mit neuer und immer tieferer Herzensangst, und sich vor die Stirn schlagend, rief er jetzt: »Berndt, täusche dich nicht, belüge dich nicht selbst. Was war es? War es Vaterland und heilige Rache, oder war es Ehrgeiz und Eitelkeit? Lag bei dir die Entscheidung? Oder wolltest du glänzen? Wolltest du der erste sein? Stehe mir Rede, ich will es wissen; ich will die Wahrheit wissen.«

Er schwieg eine Weile; dann ließ er den Zweig los, an dem er sich gehalten hatte, und sagte: »Ich weiß es nicht. Bah, es wird gewesen sein, wie es immer war und immer ist, ein bißchen gut, ein bißchen böse. Arme kleine Menschennatur! Und ich dachte mich doch größer und besser. Ja, sich besser dünken, da liegt es; Hochmut kommt vor dem Fall. Und nun welch ein Fall! Aber ich bin gestraft, und diese Stunde bereitet mir meinen Lohn.«

So war er bis auf den Hof seines Hauses gekommen. In der Halle fand er Tubal, der, erschöpft von der Anstrengung, in Jeetzes Lehnstuhl eingeschlafen war. Neben ihm lag Hektor. Als dieser seines Herrn ansichtig wurde, sprang er auf und drängte sich an ihn, aber ohne sonst ein Zeichen der Freude zu geben. Berndt streichelte das kluge Tier, warf einen Blick voll stillen Neides auf den schlafenden Tubal und schritt dann auf die Tür zu, die nach dem Eckzimmer führte. Er legte die Hand auf den Griff und zögerte noch einmal. Aber es mußte sein. Nur die beiden Mädchen waren da. Renate flog ihm entgegen. »Mein einzig lieber Papa«, rief sie und hing an seinem Halse. Dann ließ sie von ihm ab und fragte wie sein Gewissen: »Wo ist Lewin?«

Der alte Vitzewitz rang, ein Wort zu finden. Endlich in einem Tone, in dem sich der ganze Jammer seines eigenen Herzens aussprach, sagte er: »Ich weiß es nicht.«

»Also gefangen, tot?«

»Nein, nicht tot, noch nicht.«

Angst und Zittern ergriffen Renaten, aber in demselben Momente sah sie, daß Marie schwankte und wie leblos zu Boden stürzte. Berndt war von dem Anblick wie mitgetroffen. Ihm schwindelte unter dem Andrang alles dessen, was auf ihn einstürmte; endlich riß er sich aus seiner Betäubung und zog die Klingel. Jeetze kam, gleich darauf auch die Schorlemmer; alles lief und rannte; er selber aber war geschäftig, Marie wieder aufzurichten. Als ihm dies geglückt, sah er, daß sie aus einer Stirnwunde dicht neben der linken Schläfe blutete; sie war auf den scharf vorspringenden Kaminfuß gefallen. Endlich von ihrer Ohnmacht sich wieder erholend, verlangte sie nach dem Schulzenhofe gebracht zu werden, wozu sich Maline weniger aus Mitleid als Neugier sofort bereit erklärte. Durfte sie doch hoffen, unten im Dorfe mehr zu hören als im Herrenhause, wo jeder sich einschloß und schwieg. Selbst auf Bamme, trotzdem seine Klausur aufgehört hatte, war nicht viel zu rechnen.

Als Berndt und Renate wieder allein waren, sagte jener: »Was war es mit Marie? Ich hätte sie für fester gehalten.«

Renate schwieg.

»Er ist dein Bruder«, fuhr Berndt fort. »Und doch, du trugst es.«

Eine Pause folgte, während welcher Renate den Blick zu Boden senkte. Endlich antwortete sie: »Sie liebt ihn.«

Der alte Vitzewitz, nach allem, was er eben mit Augen gesehen hatte, schien eine Antwort wie diese erwartet zu haben und sagte deshalb ruhig: »Und er – weiß er davon?«

»Nein.«

»Bist du dessen gewiß?«

»Ja, ganz gewiß. Nie verriet sie sich, weder mit Wort noch Blick. Und hätte sie's, Lewin hätte kein Auge dafür gehabt; er war blind in seiner Liebe zu Kathinka.«

Berndt schritt im Zimmer auf und ab, und die widerstreitendsten Empfindungen bekämpften sich in seiner Brust. Einen Augenblick zuckte es spöttisch um seinen Mund, daß des »starken Mannes« Kind in das alte Haus der Vitzewitze kommen solle, aber dann schwand aller Spott wieder, und die nächstliegende Not gewann allein Gewalt in seinem Herzen, die Not um den einzigen Sohn. »Wie rette ich ihn?« Und es war, als ob er vor sich selber ein Gelübde täte: »Gott, ich lege jeden Stolz zu deinen Füßen; demütige mich, ich will stillhalten; alles, alles; nur erhalte mir ihn.«

Renate, während Berndt auf- und abgeschritten war, war ihm mit den Augen gefolgt. Sie wußte genau, was in seiner Seele vorging, und sagte jetzt: »Bitte, Papa, sage mir alles. Was ist es mit ihm? Verschweige mir nichts!«

Er nahm ihre Hand. »Ich habe dir nichts verschwiegen, Kind. Dunkel und Ungewißheit ist alles. Ich weiß nicht mehr als du. Aber eines weiß ich nur zu gut: wir müssen alles fürchten, alles, auch wenn in diesem Augenblicke Gottes Sonne noch über ihm scheint. Mit den Waffen in der Hand gefangen! Sie werden ihn vors Kriegsgericht bringen, und...«

»Wie kam es?« unterbrach ihn Renate. »Sprich, ich möchte von ihm hören, mich an etwas aufrichten, und wenn es an nichts anderem wäre als an dem eitlen Troste getaner Pflicht oder bewiesenen Mutes.«

»Und diesen Trost kann ich dir gewähren. Es war ein Handgemenge; sie hatten Othegraven umzingelt, und wir wollten ihn freimachen. So ging es hinein in den Knäuel. Als wir wieder heraus waren, fehlte Lewin. Anfangs hofften wir noch, denn es fehlten viele, die sich nach und nach wieder zu uns fanden; aber Lewin blieb aus. Kein Zweifel, er ist gefangen.«

»Und was tun wir?«

»Was uns allein noch bleibt: Gottes Barmherzigkeit anrufen. Mögen ihm alle guten Engel zur Seite stehen! Wir können nichts mehr.« Und damit verließ er das Zimmer und ging in sein Kabinett hinüber.

Hier war es kalt und unwirsch. Jeetze hatte zu heizen vergessen; dazu lag Staub auf Tisch und Stühlen. Aber Berndt sah es nicht oder glitt gleichgiltig mit dem Auge darüber hin, während er doch in dem Widerstreit, der in solchen Momenten unsere Seele zu füllen pflegt, seinen Sinn auf andere, fast noch gleichgiltigere Dinge richtete. Er sah, daß an dem Schlüsselbrett die Schlüssel falsch hingen, und begann nun alles nach Nummer und Reihe zu ordnen. Dann schritt er auf das Fenster zu und starrte minutenlang auf die russischen Karten und Pläne, die hier immer noch an den breiten Klappläden angeklebt waren. »Minsk, Smolensk, Bialystok.« Und er wiederholte die Namen, auf- und abschreitend, immer wieder und wieder. Endlich blieb er vor dem Bilde stehen, das über seinem Arbeitstische hing, und seine Augen füllten sich mit Tränen. »Geliebte«, sprach er vor sich hin, »wie preis' ich Gott, daß dir diese Stunde nach seinem gnädigen Ratschluß erspart geblieben ist. Ach, daß ich wäre, wo du bist. Frieden allein ist bei den Toten.«

Er ließ sich auf das Sofa nieder und begann ein Frösteln zu fühlen. Da lag sein Mantel, den Jeetze, statt ihn anzuhängen, einfach über die Lehne geworfen hatte. Das traf sich gut. Er zog ihn an sich und wickelte sich ein. »Minsk, Smolensk...« Aber nun schwand ihm das Bewußtsein, und er schlief.

 

Er schlief fest und lange. Mittag war vorüber, als ihn ein Klopfen an der Tür weckte. Es war schon das drittemal. »Herein!« Jeetze meldete, daß der alte Rysselmann gekommen sei.

»Laß ihn vor. Gleich.«

Der alte Rysselmann trat ein, steif und geradlinig wie immer, das Haar nach hinten gekämmt, seinen Rohrstock unterm Arm und das Gerichtsdienerblechschild auf dem langen, blauen Stehkragenrock. Er blieb an der Tür stehen und grüßte militärisch; neben ihm Jeetze, der das Zimmer zu verlassen zögerte. »Bleib nur«, sagte Berndt, der das Zögern des Alten wohl verstand, »du willst auch wissen, wie es steht. Du liebst ihn auch... Ach, wer nicht?« Und dabei strich er sich leis und verstohlen über Stirn und Augen. Dann erst trat er auf den alten Gerichtsdiener zu und sagte: »Nun, Rysselmann, was bringt Ihr?«

»'n Brief vom Herrn Justizrat.«

»Gutes drin?«

Der Alte schwieg. Er konnte nicht ja sagen, und das Nein wollte ihm nicht über die Lippen.


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