Theodor Fontane
Vor dem Sturm
Theodor Fontane

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Neuntes Kapitel
Ein Aide de camp

Bamme zu Ehren war in der Halle gedeckt worden. Ein großes Kaminfeuer brannte, draußen fielen Flocken, und die alten Vitzewitze sahen aus ihren Rahmen verwundert auf den kleinen, krähstimmigen Mann hernieder, der einmal über das andere »Herr General« genannt wurde. Zu ihren Zeiten hatten die Generale anders ausgesehen. Vielleicht galt übrigens ihre Verwunderung mehr noch der reichen und ganz besonderen Tafelausstattung, als irgend etwas anderem; denn nicht nur brannten heute die schweren, vierarmigen Silberleuchter, sondern zwischen diesen Leuchtern paradierte auch noch ein unverhältnismäßig großer, die Donau mit all ihren Zuflüssen darstellender Rokokoaufsatz, auf dessen oberster Spitze die Kaiserin Maria Theresia thronte. Das hatten die alten Perücken-Vitzewitze seit vollen dreißig Jahren nicht gesehen, und selbst unser Berndt war bei seinem Eintritt in die Halle einen Augenblick wie betroffen gewesen. Renate aber, als sie diesem Blicke begegnet war, hatte mit dem Zeigefinger erst auf sich selbst gewiesen und dann dem Vater in schelmischer Laune zugeflüstert: » Ich, Papa, als Erbtochter von Guse!«

Gleich darauf hatte man Platz genommen. Bamme zwischen Berndt und Renate, Lewin und die Schorlemmer ihnen gegenüber. Einer der gestellten Stühle war leer geblieben, da der ebenfalls geladene Seidentopf noch in der letzten halben Stunde hatte absagen lassen. Der alte Kossäte Maltusch nämlich lag seit letzter Nacht im Sterben und hatte nach dem Abendmahle verlangt. Von seiten Bammes war unmittelbar nach Bekanntwerden dieses Behinderungsgrundes allerhand wirres Zeug über Abendmahl und Mittagsmahl gemurmelt worden, aber so undeutlich und mit so schlechtem Gewissen, daß er selbst von der Schorlemmer, die dergleichen nie durchgehen ließ, nicht hatte zur Verantwortung gezogen werden können.

Der alte Kossäte Maltusch, nicht viel jünger als unser Freund Jeserich Kubalke, wohnte drei Viertelstunden vom Dorf hart an der Hohen-Ziesarschen Grenze und war eigentlich schon auf einer Art Landzunge in die Drosselsteinsche Feldmark hineingebaut. Das führte denn, nachdem auf dem Gebiete Maltusch-Seidentopf-Kubalke mehrere Minuten lang geplänkelt worden war, alsbald ins Gräfliche hinüber und vom Gräflichen auf den Grafen selbst. Alle waren einig in seinem Lobe; Renate sprach mit besonderer Wärme, und selbst die Schorlemmer pries seinen »vor ihm selbst verborgenen« christlichen Sinn. »Hätt' er einen andern Verkehr gehabt«, sagte sie, »und statt in Zeiten des Abfalls in Zeiten der Erweckung gelebt, er wär' ein Mann geworden wie ›unser Graf‹.«

»Danken wir Gott«, erwiderte Bamme, »daß er geblieben ist, wie Natur und Verhältnisse ihn schufen. Ich habe nichts gegen den lausitzischen Grafen, den Sie, meine Verehrteste, als ›Ihren Grafen‹ zu bezeichnen lieben; aber ich erschrecke, wenn ich mir unseren Drosselstein, der, seine Tugenden in Ehren, ohnehin schon nicht zu den Alleroriginellsten gehört, als Zinzendorf den Zweiten vorstelle. Es tut jeder gut, sich auf seine eigenen Beine zu stellen, diese Beine mögen sein, wie sie wollen. Wir haben die unsrigen, Zinzendorf hatte die seinigen. Wenn ich sage die ›unsrigen‹, so muß ich um Entschuldigung bitten, weil ich mir wohlbewußt bin, meine berechtigten Eitelkeiten nicht gerade nach dieser Seite hin suchen zu dürfen. Im übrigen bleibt es dabei: ›Das Traurigste sind die Dubletten.‹ Woran ist Prinz Heinrich gescheitert? Die Gräfin drüben ist tot, und so läßt sich ohne Furcht vor einzubüßender Freundschaft allenfalls eine Antwort auf diese Frage geben. Er ist gescheitert einfach an der Tatsache, daß er doch schließlich nichts anderes als ›beinah sein Bruder‹ war. Da lob' ich mir den alten Ferdinand, den Sie neulich, Vitzewitz, in seinem Johanniterpalais besucht haben. Der war nie etwas, Gott weiß es, aber er war doch wenigstens er selbst. Nein, meine Werteste, lassen wir unseren Hohen-Ziesarschen Grafen, wie er ist. Das wird das Beste sein für ihn und für uns. Er hat eben nur einen Fehler!«

»Und der wäre?« fragte Berndt.

»Er wird das Pregelwasser nicht los, oder, was dasselbe sagen will, er steckt zu tief in seinen ostpreußischen Vorurteilen. Achten Sie darauf, wenn er über politische Dinge spricht, speziell in diesen unseren Tagen, wo sie, nach seiner ehrlichsten Überzeugung, dort oben wieder beflissen sind, die Weltgeschichte zu machen und Freiheit und Ordnung in Balance zu bringen. Ich kenn' ihn. In Ostpreußen ist die Mannhaftigkeit und in Königsberg ist die Weisheit zu Hause. Daran ist nicht zu rütteln, das ist Paragraph eins. Alles, was sich in den anderen Provinzen findet, wird an dieser Elle gemessen. Auch wir Märker passieren nur so obenhin. Er läßt uns gelten, aber bloß als Rohmaterial. Wir werden abgerichtet für den Dienst, für Armee und Verwaltung, aber aus uns selber sind wir nichts und bedeuten wir nichts. Wir sind unfrei, Werkzeuge, Hofsklaven, Hohenzollernsche Leibtrabanten.«

Berndt lächelte.

»Ja, General«, sagte er, während er mit den Fingern der linken Hand leise auf dem Tischtuch trommelte, »bei Lichte besehen, ist es nicht so?«

»Nein, Vitzewitz, nein. Natürlich, es gibt Ausnahmen, ein paar oder meinetwegen auch viele. Aber das reizt mich eben, daß man über die Pehlemanns, die Medewitz' und Rutzes, die nichts haben als Spieluhren, Gicht und Dummheit, daß man über diese die Vitzewitze und die Bammes vergißt. Hofadel! Bah! Der Jagdjunker von Otterstädt, der den abgeleierten Spruch von ›Jochimken, Jochimken, höde di'‹ an seines gnädigen Herrn Kammertüre schrieb, war auch bei Hofe. Leibtrabanten! Unsinn! Frondeurs sind wir, alle oder doch die Besten von uns, und Ab- und Einsetzen, das wäre so unsere Passion, wenigstens die meine. Wann waren die Bammes bei Hofe? Nie. Und die Vitzewitze nicht oft. Wir haben anno 95 nicht gefragt, und jetzt fragen wir wieder nicht. Man geht zusammen, solang es paßt. Manus manum lavat. Wenn mir wohl wird, wird mir immer lateinisch. Legitimität, Loyalität! Bah! Alles ist Akkord und Pakt und gegenseitiger Vorteil.«

»Und Eid«, sagte die Schorlemmer.

Bamme zuckte die Achseln.

»Meine Gute«, fuhr er geringschätzig fort (denn er wußte, daß ihn die Schorlemmer nicht leiden konnte), »wenn es mit den Eiden ginge, so würden die Zinzendorfe die Welt regieren. Ich bezweifle, daß wir dabei gewönnen. Denken Sie sich eine tugendhafte Weltgeschichte. Wenigstens ich für mein Teil möchte sie nicht lesen. Es ist mit den Eiden wie mit den Gesetzen, sie sind nur dazu da, um gebrochen zu werden. Wenigstens die politischen; die Liebeseide nehm' ich natürlich aus.«

Und dabei wandte er sich zu der neben ihm sitzenden Renate und küßte ihr die Hand.

»Ich weiß, daß Sie scherzen«, sagte diese.

»Ach, meine Gnädigste«, fuhr Bamme fort, der auf seine Art eine Schwärmerei für Renaten hatte, »ich scherze nicht, ich verfalle nur in meinen alten Fehler, mir die Ohren nicht genau zu berechnen, vor denen ich spreche. Das alles waren Sätze für die Gräfin-Tante, nicht für die schöne Nichte. Ich war in diesem Augenblicke in Guse, nicht in Hohen-Vietz. Pardon!«

Schon während diese letzten Worte gesprochen wurden, war von der Dorfgasse her ein rasch sich steigerndes Schellengeläute hörbar geworden, und gleich darauf hielt ein Schlitten vor den Flachstufen des Hauses.

»Nach der Regel müßte das Drosselstein sein«, sagte Bamme und erhob sich halb von seinem Stuhl, um schärfer nach dem Vorplatz hinaussehen zu können. Es war aber nicht Drosselstein, vielmehr traten, zu nicht geringem Staunen Lewins, Hirschfeldt, Grell und Tubal ein und wickelten sich, während letzterer erst zu Vorstellung seiner beiden Reisegefährten, dann zu Entschuldigungen über ihr allseitig unangemeldetes Erscheinen schritt, aus ihren Schals und Mänteln heraus.

Berndt, gastlich und zerstreuungsbedürftig, gab seiner Freude über den unerwarteten Besuch – eine Freude, die, wie sich leicht denken läßt, von dem »immer frisches Blut« verlangenden Bamme geteilt wurde – den lebhaftesten Ausdruck; nichtsdestoweniger blieb eine kleine Verlegenheit, die sich bei Lewin und Renaten und mehr noch bei Tubal hinter einem beständigen Hin- und Herfragen, ohne daß die Antwort abgewartet worden wäre, zu verstecken suchte. Ja selbst die Schorlemmer ließ ihre sonstige Ruhe vermissen.

Inzwischen waren Stühle gerückt worden, und da bei dem ersten Besetzen der Tafel außer dem Seidentopfschen Platz auch noch die Schmalseiten oben und unten freigeblieben waren, so wurde das Tischarrangement keinen Augenblick ernstlich gestört. Es war die Rede davon, einige der Gänge rasch noch einmal wieder erscheinen zu lassen, alle Neuangekommenen aber lehnten auf das bestimmteste ab und erklärten nicht nur, unterwegs eine sehr substantielle Mahlzeit eingenommen, sondern auch, wie der Augenschein zeige, für ihre Ankunft in Hohen-Vietz den denkbar glücklichsten Moment, den des Desserts, getroffen zu haben. Dem stimmte Bamme, der gerade Schwarzbrot und Biskuitschnitten mit frischer Butter zusammenmörtelte, emphatisch bei und verschwor sich einmal über das andere, daß die Feinschmecker aller Zeiten, von Lukull bis auf Friedrich den Großen, das eigentliche Diner immer nur als den Sockel der drei großen Dessertgottheiten Bacchus, Momus und Pomona angesehen hätten.

So phantasierte der Alte weiter, dessen guter Laune es denn auch vorzugsweise zuzuschreiben war, daß das befangene Hin- und Herfragen der ersten Minuten einer ungezwungeneren Unterhaltung Platz zu machen begann. Jeder beteiligte sich schließlich daran, insbesondere Tubal, aus dessen Mitteilungen unter anderem auch ihr eigentliches Reiseziel erkennbar wurde. Sie befänden sich, so versicherte er, auf dem Wege nach Breslau, wo sie dem durch Jürgaß und Bummcke gegebenen Beispiele zu folgen und in die daselbst sich bildende Freiwilligenarmee einzutreten gedächten. Der Aufruf, von dem alle Welt spräche, sei zwar noch nicht da, niemand bezweifele aber, daß er kommen werde (»Jede Stunde«, warf Berndt dazwischen), und ein gestern von Jürgaß eingetroffener Brief gäbe bereits ein Bild des neuerwachten Lebens. So sei neben anderem auch ein schlesischer Landsturm in Bildung begriffen. Alle Männer von achtzehn bis sechzig Jahren, soweit sie noch nicht Waffen trügen, sollten herangezogen werden. Zweck dieses Landsturms sei, den Feind, wo er sich in schwachen Detachements zeige, zu überfallen, Generale wegzufangen (Bamme schlug mit der flachen Hand auf den Tisch) und mit Fourageurs und Marodeurs kurzen Prozeß zu machen. Scharnhorst leite das Ganze; Blücher sei angekommen. Was aber am schwersten wiege, der König selbst, der bis dahin an einem kräftig-patriotischen Aufschwung gezweifelt habe, sei jetzt selber von Zuversicht getragen. Und in diesem neuen Glauben werd' er sich befestigen, denn der Geist sei überall derselbe. Von allen Seiten strömten Gaben herbei: Geld, Waffen, Equipierung; jeder gäbe, was er habe, und wer nichts habe, der gäbe sich eben selbst. Alles dies sei dem Jürgaßschen Schreiben entnommen. Er seinerseits aber glaube noch hinzufügen zu sollen, daß in den nächsten Tagen schon neuntausend Freiwillige von Berlin nach Breslau abgehen würden.


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