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Erinnerungen aus dem Kriege in Spanien
Das Gefecht bei Plaa
Mein älterer Bruder Eugen, nachdem er erst unter Schill, dann unter dem Herzog von Braunschweig gefochten, auch der Einschiffung nach England sich angeschlossen hatte, hatte von dort aus spanische Dienste genommen und war im Sommer 1810 in Andalusien eingetroffen. Als ich davon hörte, folgte ich ihm und traf ihn, eben gelandet, auf dem großen Marktplatze von Cadix. Über die Freude des Wiedersehens gehe ich hinweg. Er hatte an demselben Tage das Majorspatent empfangen, und seinem Einfluß gelang es leicht, mir eine Offiziersstelle zu erwirken.
Das Treiben in Cadix mißfiel uns, so daß wir froh waren, als Meldung eintraf, daß wir der in Katalonien stehenden, täglich in Gefechten mit dem Feinde verwickelten Armeeabteilung zugeteilt seien. Wir gingen dahin ab und landeten, nach einer höchst beschwerlichen, uns den ganzen Unterschied zwischen einem spanischen und einem englischen Kriegsschiff fühlbar machenden Seereise, im Hafen von Tarragona. Dies war Ende November, genau zwei Monate nach meiner Ankunft in Spanien. In Katalonien sah es besser aus als in Andalusien. Wir kamen zum Dragonerregiment Alcantara, mein Bruder als Oberstleutnant, ich als Premier. Der Empfang, den wir fanden, war kameradschaftlich; man hatte ein besonderes Vertrauen zu allen preußischen Offizieren.
Die Alcantaradragoner waren ihrerzeit ein sehr bevorzugtes und sehr prächtiges Regiment gewesen; sie trugen unter dem alten Regime dreieckige Hüte mit weißen Bandtressen, gelbe lange Röcke mit rotem Futter und rotem Kragen, dazu grüne Rabatten und blaue, kurze Hosen. Eine Vertretung also sämtlicher Farben. Von dieser Pracht und Herrlichkeit war indessen nach der Neuformierung, die die ganze Armee seitdem erfahren hatte, wenig übriggeblieben, und die Alcantaradragoner, die wir vorfanden, mußten sich an einem niedrigen, ledernen Tschako und einem langen, blauen Rock mit Regimentsnummer und Messingknöpfen genügen lassen. Die Bewaffnung war ein sehr langer Degen mit schmaler Klinge und schwerem eisernen Korb, so daß das Gewicht in der Hand lag, dazu Karabiner und Pistole.
Unser Regiment gehörte zur Armee des Generals O'Donnell, spezieller, zu der vorgeschobenen Division des Generals Sarsfield. Dieser, erst sechsundzwanzig Jahr' alt, brillanter Soldat, voll eiserner Ruhe im Gefecht, faßte ein besonderes Vertrauen zu meinem Bruder, in dem er alle Eigenschaften, die ihn selber auszeichneten, sofort wiedererkannte. Jede Auskunft, die uns erwünscht sein konnte, wurde uns zuteil. Die Division war numerisch nur schwach und bestand aus zwei Infanterie- und vier Kavallerieregimentern, zusammen höchstens fünftausend Mann. Es waren das Infanterieregiment Almeria und das Schweizerregiment Baron Wimpfen, dazu Alcantara- und Numanciadragoner, Kürassierregiment Katalonien und Husarenregiment Granada.
Gleich in den ersten Tagen nach unserer Ankunft wurde eine vierhundert Pferde starke Avantgarde gebildet und dem Befehle meines Bruders unterstellt. Uns gegenüber stand General Macdonald, der das nördlich von uns gelegene Barcelona mit starken Kräften festhielt und durch Ausführung eines Umgehungsmarsches uns auch das südlich von uns gelegene Tortosa zu entreißen trachtete. Glückte das, so waren wir eingeschlossen und mußten froh sein, uns auf Tarragona zurückziehen und hier wieder einschiffen zu können. Katalonien war dann verloren. Und es kam so. Aber ehe es dahin kam, hatten wir eine Reihe blutiger Gefechte.
Aus der Reihe dieser Gefechte greife ich nur das bei Plaa heraus, weil es für mich persönlich entscheidend wurde.
Es war am 7. Januar, als wir erfuhren, daß Tortosa über sei. Wir standen damals, die ganze Division Sarsfield, am Nordabhange eines hohen Bergzuges, der in einiger Entfernung von der Küste mit dieser parallel läuft, und hielten, unter täglichen Plänkeleien mit den Vortruppen des Macdonaldschen Korps, die von Lerida nach Tarragona quer über das Gebirge führende Straße besetzt. Solange diese Straße, samt dem Defilee, dem sogenannten Passe von Plaa, in unseren Händen war, hatte der Verlust von Tortosa, so wichtig er war, wenigstens für unsere unmittelbare Sicherheit nichts zu bedeuten; der Besitz jenes Passes sicherte uns die Rückzugslinie bis ans Meer. Brachten wir die, im ganzen genommen, nicht große Energie mit in Anschlag, die seitens des Gegners entwickelt wurde, so lag kein Grund vor, unsere Stellung zu wechseln. Da, wo wir standen, wirkten wir offensiv; gaben wir aber unsere Stellung am Nordabhange auf und zogen uns auf die andere Seite des Gebirges, so zeigten wir jene Besorgnis, die schon einer halben Niederlage gleichkommt.
Wir hatten aber den Eifer des Gegners unterschätzt, wenigstens den des Generals Suchet, der, gemeinschaftlich mit Macdonald operierend, diesen an Rührigkeit übertraf. Am 14. Januar kam Meldung, daß eine starke feindliche Avantgarde von der Küste her, also in unserem Rücken, heranmarschiere und unverkennbar die Absicht habe, den Paß bei Plaa zu schließen. Dorf Plaa lag an der uns entgegengesetzten Seite des Gebirges, hart am Fuße desselben. General Sarsfield, als er diese Meldung empfing, war schnell entschlossen; er verstärkte die bis dahin nur aus vierhundert Pferden der Regimenter Alcantara und Granada bestehende Avantgarde durch zwei Bataillone vom Schweizerregiment Wimpfen und gab meinem Bruder Befehl, in einem Nachtmarsch über das Gebirge zu gehen und noch vor Tagesanbruch das jenseitsgelegene Dorf Plaa zu besetzen. Der Aufbruch erfolgte sofort; ein entsetzliches Wetter aber, Regen und Sturm, bei dem der schmale Fußpfad nur derart passiert werden konnte, daß ein Mann dem andern folgte, verzögerte das Eintreffen in Plaa bis um zehn Uhr morgens. Es war die höchste Zeit; schon ging die französische Avantgardendivision unter General Eugenio (so daß sich hier zwei Namensvettern gegenüberstanden) gegen Dorf Plaa vor, und nur mit äußerster Anstrengung gelang es meinem Bruder, das Dorf bis Mittag zu halten.
Um diese Stunde erschien General Sarsfield mit dem Gros und stellte das schon rückwärtsgehende Gefecht wieder her. Aber Terrain war unsererseits nicht zu gewinnen, und als eine Stunde später allerhand Verstärkungen auch beim Feinde eintrafen, ging dieser mit einem vollzähligen Dragonerregiment abermals zum Angriff über. Diesseits war momentan nichts zur Hand als ein in Ablösung unserer Avantgarde in die Front gezogenes Kürassierregiment, die Kürassiere von Katalonien, unter ihrem Kommandeur Don Pedro Gallon. Unmittelbar hinter den Kürassieren hielten wir: Alcantaradragoner und Granadahusaren. Unsere Kürassiere, kaum zweihundert Pferde stark, waren zu schwach und kamen ins Schwanken; aber im selben Augenblicke, wo mein Bruder das Schwanken wahrnahm, gab er uns das Zeichen zum Angriff, und in langer Linie stürzten wir in die linke Flanke der feindlichen Dragoner. Sie wichen sofort und verwickelten ein hinter ihnen haltendes Chasseurregiment mit in die eigene Flucht. Die Verfolgung ging eine Meile weit, es gab viele Gefangene; General Eugenio, der persönlich die Flucht aufzuhalten gesucht, wurde niedergehauen und starb am Tage darauf.
Es war ein vollständiger Sieg, und seitens der Unserigen nicht allzu teuer erkauft; nur ich verlor viel an diesem Tage: mein Bruder Eugen, wie der General Eugenio, dem er gegenübergestanden hatte, erlag seinen Wunden. Was ich noch zu sagen habe, betrifft nur ihn und mich.
Um fünf Uhr war das Gefecht beendet, und ich führte, was ich vom Regiment Alcantara noch zur Hand hatte, wieder auf Plaa zurück. Ich war im ganzen gut davongekommen, hatte aber während des Démêlées von einem französischen Dragoner, den ich packen wollte, einen Stoß mit dem Degengefäß in das Gesicht erhalten, so daß ich, schwarz und angeschwollen, einen schlimmeren Anblick gewährte als mancher Schwerblessierte. So trat ich vor meinen Bruder, von dessen Verwundung ich schon unterwegs gehört hatte. Ich fand ihn in einem Bauernhause von Plaa in Pflege guter Leute. Als er mich sah, drang er darauf, daß ich mich zunächst verbinden lassen sollte, was denn auch geschah. Als ich wieder zu ihm kam, setzte ich mich, und wir begannen zu plaudern. Zunächst von der Affaire, die nun glücklich hinter uns lag. Ich mußte ihm alle Kleinigkeiten erzählen, denen er mit größtem Interesse folgte; meinem Pferde beispielsweise, einem schönen schwarzen Hengst, war ein Ohr dicht vom Kopfe weggehauen worden, was er sehr bedauerte. Besondere Aufmerksamkeit aber schenkte er einem Tagebuche, das sich in einem Mantelsacke, der mir bei der Beuteverteilung zugefallen war, vorgefunden hatte. Es war von dem ersten Einrücken der Franzosen in Katalonien bis zum 14. Januar 1811 mit großer Genauigkeit geführt und enthielt, von kleinen Krokis begleitet, eine Schilderung fast aller Gefechte, in denen auch wir engagiert gewesen waren. Eugen blätterte halbe Stunden lang in dem Buche und lobte die Unparteilichkeit der Darstellung. Ich glaubte nach allem an nichts weniger als Gefahr und mußte dem Doktor recht geben, der trotz heftiger Schmerzen, über die der Verwundete von Zeit zu Zeit klagte, immer nur von zwei leichten Blessuren sprach. Es waren Degenstiche in die linke Seite. Auffallend erschien mir nur seine Weichheit; er war in einer gefühlvollen Stimmung, sprach viel von Hause, von unserem alten Vater und trug mir Grüße auf, da er auf einige Wochen noch am Schreiben gehindert sein werde.
So verging der Abend. Ich hatte vor, trotz aller Ermüdung bei ihm zu wachen. Es kam aber anders. Bald nach Mitternacht wurde Alarm geblasen, und ich begab mich zu meinem in Front des Dorfes biwakierenden Regiment, das gleich darauf Befehl erhielt, gegen ein der Küste zu gelegenes Städtchen, das den Namen Valls führte, zu rekognoszieren. Meinen Verwundeten ließ ich übrigens in guter Obhut zurück; ich hatte beim Schweizerregiment Wimpfen um einige Mannschaften zu seinem Schutz gebeten, und es traf sich, daß der Unteroffizier, der diese Mannschaften kommandierte, früher, als mein Bruder noch in Halberstadt garnisonierte, mit ihm in ein und derselben Kompanie des Regiments Herzog von Braunschweig gestanden hatte. Beide freuten sich sehr, sich wiederzusehen.
Unser Ritt gegen Valls verlief ohne Bedeutung, kostete aber Zeit und Mühe, und erst in den Nachmittagsstunden des andern Tages kehrten die Truppen, die die Rekognoszierung ausgeführt hatten, nach Plaa zurück. Mehrere Offiziere, denen ich begegnete, sagten mir: es ginge besser mit Eugen. Ich fand ihn auch wirklich ruhiger, ohne Schmerzen, aber sehr matt. Nichtsdestoweniger ließ er sich die kleinen Vorgänge des Tages von mir erzählen, hörte aufmerksam zu und verlangte mehr zu wissen, wenn ich aus Rücksicht auf seinen Zustand schwieg. Plötzlich aber unterbrach er mich und sagte: »Entsinnst du dich noch des Abends auf der Seereise von Cadix nach Tarragona, wo wir mit unsern deutschen Kameraden der Heimat gedachten und wo dann die Frage laut wurde: ›Wer wird die Heimat wiedersehen?‹ Ich weiß jetzt einen, der sie nicht wiedersehen wird.« Ich bog mich über ihn und bat ihn, sich nicht durch solche trübe Gedanken aufzuregen; er hörte mich aber nicht und fuhr dann fort: »Es wird sich heute noch manches ereignen: ich sehe schwarz in die Zukunft. Nimm dich, wenn es zum Gefechte kommt, in acht. Unsere Pferde sind matt zum Umfallen. Vergiß auch nicht, daß man nicht bei jeder Gelegenheit sich rückhaltlos drangeben soll. Man opfert sich sonst leicht ohne Zweck.« Dies waren seine letzten Worte. Ich hatte ihn eben aufgerichtet, um ihm einen Löffel Arzenei zu geben; als ich ihn wieder auf das Kopfkissen zurücklegen wollte, schien es mir, als ob er sehr blaß würde. Ich faßte seine Hand, sie war kalt; er drückte die meinige krampfhaft, rang nach Luft und war tot.
Dies war am 16. nachmittags. General Sarsfield, als er von dem Hinscheiden hörte, ließ mir sein Beileid ausdrücken und fügte die Bemerkung hinzu: es würde gut sein, den Toten so bald wie möglich in die hochgelegene Klosterkirche von Plaa hinaufzuschaffen; jede Stunde könne ein neues Gefecht bringen, dessen Ausgang unsicher sei.
Ich ließ mir dies gesagt sein. Aus alten Dielen, ›vier Bretter und zwei Brettchen‹, wurde schleunigst ein Sarg hergestellt und Eugen in der Uniform seines Regiments in die Totentruhe hineingelegt. So schafften ihn einige meiner Dragoner in die Klosterkirche hinauf und stellten ihn dicht an die Altarstufen.
Völlig erschöpft von den Anstrengungen und Aufregungen der vergangenen Tage hatte ich mich, als die Nacht anbrach, auf eine Schütte Stroh niedergelegt. Ich war so recht von Herzen traurig; die Bilder meiner Kindheit und ersten Jugend zogen an mir vorüber; nun war ich allein, ganz allein, und der Bruder, den ich so sehr geliebt hatte, tot.
Im Begriff, einzuschlafen, wurde ich durch einen Ordonnanzoffizier geweckt. Er kam vom General und war abgeschickt, um ein Papier zu holen, das Sarsfield beinahe unmittelbar vor Beginn des Treffens bei Plaa an Eugen gegeben hatte. Es sei von Wichtigkeit, er müsse es haben.
Ich erinnerte mich des Hergangs sofort, war Augenzeuge gewesen, wie mein Bruder das Papier in sein Reiterkoller gesteckt hatte, und bat deshalb den Offizier, mich bis zur Klosterkirche hinauf begleiten zu wollen, da der Tote noch denselben Rock anhabe, den er vor Beginn des Gefechts getragen habe. Er lehnte aber, Geschäfte vorschützend, ab; auch mein Diener Francesco, als ich mich nach ihm umsah, war verschwunden. So blieb mir nichts übrig, als allein zu gehen.
Ich nahm eine kleine Laterne, die nur ein Glas hatte, und schritt auf das ziemlich weitschichtige Klostergebäude zu. Ein dienender Bruder öffnete mir, erschrak aber, als ich ihn bat, mir nun auch die Kirchentür öffnen zu wollen. »Jetzt in der Nacht bringt mich kein Mensch hinein.« Vergebens sucht' ich ihn zu überreden. »Es ist nicht geheuer«, dabei blieb er. Endlich gab er mir wenigstens den Schlüssel zur Kirche, zugleich mit der Weisung: wenn ich zweimal im Schloß gedreht, müßt' ich mit aller Kraft gegen die Tür stoßen, weil sie verquollen sei und schwer aufginge.
Um bis an die Kirche zu kommen, waren noch zwei lange Kreuzgänge zu passieren. Gerade hier hatte tags zuvor ein erbitterter Infanteriekampf (der unsererseits durch das Schweizerregiment geführt worden war) stattgefunden, und alles trug noch die Spuren dieses Kampfes: die Leichen waren zwar weggeschafft, aber die Blutlachen geblieben; die Standbilder, von den Wänden herabgerissen, lagen zertrümmert am Boden; selbst die Luft war dumpf und modrig. An diesen Bildern der Zerstörung vorbei ging ich auf die Kirche zu, steckte den Schlüssel hinein, drehte zweimal, stieß die Türe auf, die sich langsam und dröhnend öffnete. Ich legte meinen Mantel ab, der mir jetzt nur hinderlich sein konnte, nahm den Degen in die eine, die Laterne in die andere Hand und schickte mich an, das hochüberwölbte Mittelschiff hinaufzuschreiten. Eine unheimliche Stille herrschte, und der Widerhall meiner Schritte erschreckte mich.
So kam ich bis an den Altar. Da stand der Sarg, vorläufig mit einem Brett nur überdeckt. Ich hob es auf, und meines Bruders gläserne Augen starrten mich an. Ich stellte, da kein anderer Platz war, die Laterne zu seinen Füßen und begann langsam Knopf um Knopf den Uniformrock zu öffnen, der sich fest und beinahe eng um seine Brust legte. Ich tat es mit abgewandtem Gesicht; aber wie ich auch vermeiden mochte, nach ihm hinzusehen, ich hatte doch sein Todesantlitz vor mir. Endlich fand ich das Papier und steckte es zu mir. Dann kam das Schwerste: ich mußte die Knöpfe wieder einknöpfen, da ich es nicht über mich gewinnen konnte, ihn in offener Uniform wie einen Beraubten liegenzulassen. Und als auch das geschehen, trat ich den Rückweg an.
Am andern Nachmittage – der Feind griff uns nicht an – wurde mein Bruder mit allen militärischen Ehren durch das Schweizerregiment Wimpfen in derselben Klosterkirche zu Plaa, in der er vierundzwanzig Stunden vor dem Altar gestanden hatte, begraben. An ebenderselben Stelle wurden sein Säbel, seine Handschuhe und Sporen aufgehängt und erst einige Monate später, auf Befehl des Generals O'Donnell, der den Toten dadurch ehren wollte, in die Kathedrale von Tarragona gebracht. Dort befinden sie sich noch.
Der Vortragende, als er bis hierher gelesen, rollte das Manuskript zusammen und legte es auf eines der Fensterbretter; die Zuhörer, gesenkten Blickes, schwiegen. Der erste, der sich erhob, war Bninski.
»Ich bin selbst Gast in diesem Kreise und fürchte beinahe, mich eines Übergriffes schuldig zu machen, wenn ich vor Berufeneren das Wort ergreife. Aber meine Stellung, was mich entschuldigen mag, ist eine ausnahmsweise. Ich habe zwei Jahre vor Ihnen, Herr von Hirschfeldt, auf denselben Feldern, wenn auch auf der Ihnen feindlichen Seite, gekämpft; ich kenne die Plätze, von denen Sie uns gelesen; kaum verschwundene Bilder sind mir wieder lebendig geworden. Was Freund, was Feind! An gleicher Stelle die gleiche Gefahr. Ich bitte, Sie daraufhin als einen mir teuer gewordenen Kameraden begrüßen zu dürfen.«
Während dieser Worte hatte Jürgaß die ihm zunächststehende Rheinweinflasche entkorkt und mit einer der Situation angepaßten Raschheit den großen silbernen Kastaliabecher bis an den Rand gefüllt. »Meine Herren, einer jener Ausnahmefälle, wie sie Paragraph sieben unseres Statuts, ich nehme nicht Anstand zu sagen: in seiner Weisheit voraussieht, ist eingetreten. Und so trink' ich denn auf das Wohl unseres verehrten Gastes Rittmeisters von Hirschfeldt. Er lebe! Viele Ehren haben sich auf seinem Scheitel gehäuft, so viele Ehren wie Wunden; aber eines blieb ihm bis diesen Tag versagt: er hatte noch nicht aus dem Silberbecher der Kastalia getrunken. Auch diese Stunde ist da. Ich trink' ihm zu, und er tue mir Bescheid.«
Und bei wiederholten Hochs kreiste der Becher.
Nach Huldigungen wie diese konnte es Lewin nur noch obliegen, ein Schlußwort zu finden. »Die vorgeschrittene Stunde«, so begann er, »mehr noch das gehobene Gefühl, das uns dieselbe gebracht hat, dringen auf Abbruch und Vertagung. Ich erwarte Ihre Zustimmung.« (»Ja, ja!«) »Unsere nächste Sitzung soll, so sich kein Widerspruch erhebt« (»Nein, nein!«) »unter Zurückstellung aller bis dahin etwa eingehenden Lyrika, durch die Tagebuchblätter unseres verehrten Gastes, des Herrn von Meerheimb, die heute zu unserm Bedauern nicht mehr zum Vortrag gelangen konnten, eröffnet werden. Ich schließe die Sitzung.«
Damit brach man auf in kleineren und größeren Gruppen. Die Mehrzahl hielt sich links; nur Jürgaß, Bummcke und Hansen-Grell gingen, als sie die Königsstraßenecke erreicht hatten, nach rechts hin auf den Alexanderplatz zu, um in den Tiefen des Mundtschen Weinkellers, natürlich die Kastaliasitzung als Text nehmend, unter Plauderei und Kritik den Abend zu beschließen.