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Noch einmal horchte er in die Nacht hinaus. Alles still. Von der nahen Stadt stieg ein unbestimmtes rötliches Dämmerlicht auf; jetzt bellte ein Hund in der Nachbarvilla, in weiter Ferne klirrte der Säbel eines Wachmannes. Der sah ihn wohl nicht. Er stopfte das Kollegienheft in die Tasche und schwang sich über das niedrige Gitter. Mit zwei Schritten war er bei der Bank unter den großen Kastanienbäumen.
Ihr helles Sommerkleid leuchtete durch das Dunkel. Sie erhob sich rasch und begrüßte ihn mit heimlichen Flüsterworten, strich mit der Hand über sein Haar und lächelte ihn an; ja, er durfte sogar den Arm um sie legen . . . .
Seine Augen strahlten in glücklichem Staunen. Das hatte sie noch nie erlaubt – und er noch nie versucht. 17
Im vergangenen Fasching hatten sie sich kennen gelernt, auf einem jener Studentenkränzchen, wo man aus Korpsgeist tanzen muß, damit keine Dame sitzen bleibt, wo man den ältesten Professorentöchtern den Hof macht und sich sogar verliebt – aus Korpsgeist.
Und nun trafen sie sich fast täglich des Abends, wenn ihn sein Weg an der Cottagevilla vorüberführte. Anfangs war sie beim Gitter des Gartens gestanden und hatte Blüten von den Sträuchern gezupft, wenn sie ihn kommen hörte. Aber dann . . . .
Er war hübsch, gesund und rotwangig, und er gefiel ihr. Ein halbes Buberl, heiß, liebesdurstig und schüchtern. Sie hatte seine Annäherung geduldet und ermutigt, weil sie ein neues Spielzeug haben wollte; und als sie sah, daß er sich immer widerstandsloser seiner Empfindung hingab, da freute sie das Spiel erst recht.
Sie merkte bald, daß sie das erste weibliche Wesen war, welches seinem Herzen näher trat. Denn er umgab sie in seiner Phantasie mit allem Herrlichen und Glänzenden, was er vom Weib gehört und gelesen hatte; er sah sein Knabenideal in ihr verkörpert, dem sich alle reifenden Kräfte in ihm entgegendrängten, wie die Frucht der Sonne entgegenreift. Er gestand ihr alles, was seine Seele bewegte, sein dunkles 18 Sehnen nach Glück und Liebe, seine stillen Wünsche und die törichten, fliegenden Pläne des hoffnungsreichen, jungen Lebens. Seine sehnsuchtsvollen Traumbilder hatte er in Verse gegossen und ihr dargebracht, ein Brandopfer des Herzens.
Es waren schlechte Verse und ungefüge Strophen. Aber, daß er sie mit seinem Herzblut geschrieben hatte, davon ahnte sie in ihrer grenzenlosen Flachheit nichts. Sie nahm alles mit freundlichem Lächeln an, und er war selig, wenn er sie lächeln sah. Seine Liebe lebte von halben Versprechungen, von warmen Händedrücken, von scheuen Küssen auf ihre feinen schmalen Finger. Um keinen Preis hätte sie ihm mehr gestattet, trotz ihres heißen Lebensverlangens. Dazu war sie viel zu feig. Aber dieses Stück Romantik, diese späten, heimlichen Besuche, das Flüstern in der dunklen Gartenecke, wenn im Hause alles schlief – und am Morgen, am hellen Tage der stolze, kühle Dank auf seinen ehrfürchtigen Gruß, das reizte ihre Nerven und kitzelte ihre Phantasie. Nicht mit ihm spielte sie, sondern mit ihrem eigenen Instinkt, dem sie bald nachgab, bald in plötzlicher Selbstbeherrschung entgegentrat. Sie wußte jeden Augenblick, wie weit sie gehen durfte.
Während sie an ihn geschmiegt da saß und mit seinen Fingern spielte, dachte sie nach. Diese 19 Tändelei dauerte eigentlich schon zu lange . . . . so konnte es nicht weiter gehen. Die Gouvernante hatte gestern abends so auffallend mit Mama geflüstert. Wenn man etwas merkte . . . . Nein, es war für sie und für ihn besser, wenn sie heute das letztemal zusammen waren. Der arme Junge! Er tat ihr fast leid; ein klein wenig lieb hatte sie ihn doch. Mein Gott, wenn er nur nicht gar so grün wäre! Sollte sie ihm etwas sagen? Nein, es würde ihn zu sehr kränken. Lieber heute noch recht zärtlich zu ihm sein – – zum letztenmal!
Und sie drückte seinen Arm an sich und malte sich aus, wie er morgen abends wieder kommen und draußen vor dem Gitter auf sie warten werde – wie lange wohl? Sie konnte ihn ja morgen beobachten vom Fenster aus, wenn drinnen das Licht gelöscht war . . . .
Sie sprachen immer weniger. Ihr Kopf ruhte auf seiner Schulter; sie fühlte das Schlagen seines Herzens und seinen lauen Atem auf ihren Wangen.
Zehn hallende Glockenschläge aus der Ferne. Sie mußten Abschied nehmen. Und sie streichelte seine magere, ungepflegte Hand . . . .
»Ein Kuß!«
Sie sträubte sich. Endlich schloß sie die Augen und bot ihm die Lippen dar. Ein Almosen für 20 den Bettler um Liebe. Sein ganzer Körper zitterte, wie er den blühenden, warmen Leib umfangen hielt. Und als er seine bebenden Lippen auf ihren Mund drückte, empfand er es wie einen plötzlichen Schmerz.
Er blickte ihr nach und streckte die sehnenden Knabenarme nach ihr aus; er wollte sie zurückrufen, doch seine Kehle war wie zugeschnürt. Er hörte, wie der feuchte Sand unter ihren Schuhen knirschte, wie die große Haustür ins Schloß fiel.
Noch immer stand er regungslos und starrte nach dem erleuchteten Fenster.
Am westlichen Himmel flammte Wetterleuchten auf. Schwere Regentropfen fielen nieder. Er merkte nichts.
Seine Phantasie arbeitete mächtig. Jetzt schließt sie die Tür ihres Zimmers – – jetzt steht sie vor dem Spiegel und löst das Haar – – – jetzt streift sie die Schuhe von den Füßen – – jetzt – – und jetzt – – –
Ein heißer, nie empfundener Schauer rieselte an ihm hinab.
Langsam – – – langsam fielen die Regentropfen.
Und dann erlosch das Licht . . . . 21