Henry Fielding
Die Geschichte des Tom Jones / Theil I
Henry Fielding

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115 Fünftes Kapitel.

Die Meinungen des Geistlichen und des Philosophen über die beiden Knaben, mit einigen Gründen für ihre Meinungen und andern Dingen.

Der junge Blifil ersparte seinem Gespielen höchst wahrscheinlich eine derbe Züchtigung, indem er jetzt das Geheimniß offenbarte, das ihm im Vertrauen mitgetheilt worden war, denn das Vergehen wegen der blutigen Nase würde schon an sich allein für Thwackum hingereicht haben, zur Strafe zu schreiten; dies ging indeß jetzt gänzlich in der Betrachtung des andern unter, und in Bezug auf dieses erklärte Allworthy, als die Knaben sich entfernt hatten, Tom verdiene eher Belohnung als Strafe und so wurde Thwackum's Hand durch allgemeine Vergebung zurückgehalten.

Thwackum, der nur immer an den Stock dachte, ereiferte sich gegen diese, wie er sagte, höchst verderbliche Nachsicht. Durch Verzeihung solcher Vergehen würden dieselben geradezu begünstiget, meinte er. Dann ließ er sich weitläufig über Bestrafung der Kinder im Allgemeinen aus und zog mehrere Bibelstellen aus Salomo und andern an, die wir nicht erwähnen wollen, weil man sie in so vielen andern Büchern finden kann. Und endlich kam er auf das Laster des Lügens, über welches er fast eben so gelehrt sprach wie über den ersten Gegenstand.

Square sagte, er habe versucht, das Benehmen Tom's mit seiner Idee von vollkommener Tugend in Uebereinstimmung zu bringen, er vermöge es aber nicht. Er gestand, daß etwas in der Handlung des Knaben liege, das auf den ersten Anblick als Festigkeit erscheine; da diese aber eine Tugend sei und Lüge ein Laster, so könnten sie unmöglich mit einander vereiniget sein. Auch setzte er hinzu, da auf solche Weise Tugend und Laster verwechselt würden, 116 so dürfte es Herrn Thwackum's Berücksichtigung verdienen, ob nicht eine stärkere Züchtigung anzuwenden sei.

Wie die beiden Männer in dem Tadel gegen Jones zusammentrafen, so waren sie nicht minder einstimmig darin, den jungen Blifil zu rühmen. Der Geistliche meinte, es sei eine Pflicht jedes religiösen Menschen, die Wahrheit an den Tag zu bringen und der Philosoph erklärte, es stimme dies vollkommen mit der Richtschnur des Rechtes und der ewigen und unveränderlichen Zweckmäßigkeit der Dinge überein.

Alles dies war jedoch bei Herrn Allworthy von geringem Gewichte. Er konnte nicht vermocht werden, seine Zustimmung zu einer Züchtigung Tom's zu geben. Es lag etwas in seiner Brust, mit welchem die unerschütterliche Treue, die der Knabe bewahrt hatte, weit besser übereinstimmte als mit der Religion Thwackum's oder der Tugend Square's. Er verbot also dem erstern dieser Herren streng, wegen des Geschehenen gewaltsame Hand an Tom zu legen. Der Erzieher mußte diesem Verbote nachkommen, freilich geschah es nicht ohne großes Widerstreben und häufiges Gemurmel, daß der Knabe gewiß verdorben werden würde.

Gegen den Jäger handelte der gute Mann weit strenger. Er ließ den armen Teufel sogleich zu sich bescheiden, zahlte ihm, nach manchen harten Vorwürfen, den Lohn aus und entließ ihn aus seinen Diensten, denn Allworthy bemerkte ganz mit Recht, es sei ein großer Unterschied zwischen der Lüge, mit welcher man sich selbst entschuldige und zwischen jener, die man zur Entschuldigung eines Andern sich erlaube. Als die Hauptursache seiner unbeugsamen Strenge gegen diesen Mann führte er auch den Umstand an, daß er schlecht genug gewesen, Tom Jones eine so schwere Züchtigung um seinetwillen geben zu lassen, da er dieselbe durch die Entdeckung der Wahrheit hätte verhindern sollen.

117 Als die Geschichte bekannt wurde, beurtheilten manche Leute das Benehmen der beiden Knaben bei dieser Gelegenheit anders als Thwackum und Square. Der junge Blifil wurde meist ein schleichender böser Bube von schwachem Verstande und dergl. genannt, während man Tom mit dem Namen eines braven Jungen, einer ehrlichen Seele u. s. w. beehrte. Sein Benehmen gegen den schwarzen Georg setzte ihn wirklich bei allen Dienstleuten im Hause sehr in Gunst; denn obgleich jener Mann allgemein ungern gesehen wurde, so bedauerte man ihn doch eben so allgemein, sobald er fort war und die Freundschaft, die Aufopferung Tom Jones wurde von allen hoch gepriesen, während sie den jungen Blifil so offen, als es geschehen konnte, ohne Gefahr zu laufen, die Mutter desselben zu beleidigen, verurtheilten. Der arme Tom hatte indeß nur Schmerzen davon, denn obgleich es Thwackum verboten war, seinen Arm der erwähnten Angelegenheit wegen zu üben, so sagt doch das Sprichwort: »ein Stock ist leicht gefunden,« und Thwackum hätte wirklich nur, wenn er keinen Stock gefunden, lange verhindert werden können, den armen Jones zu schlagen.

Wäre der Erzieher blos durch die Freude bewogen worden, die ihm die Züchtigung eines Knaben gewährte, so würde der junge Blifil seinen Theil gewiß auch bekommen haben; aber obgleich ihm Allworthy mehrmals befohlen hatte, keinen Unterschied zwischen den Knaben zu machen, so war doch Thwackum gegen Blifil so freundlich und nachsichtig, als gegen den Andern hart, ja selbst grausam. Blifil hatte die Liebe seines Lehrers wirklich in hohem Grade gewonnen, theils durch die tiefe Ehrfurcht, welche er demselben immer erwies, theils und noch mehr durch die Ehrerbietigkeit, in welcher er die Lehren aufnahm; denn er hatte des Lehrers Redensarten auswendig gelernt, wendete 118 sie häufig an und befolgte die religiösen Grundsätze desselben mit einem Eifer, der bei einem so jungen Menschen überraschte, ihn aber auch dem würdigen Lehrer sehr theuer machte.

Tom Jones auf der andern Seite vernachlässigte nicht blos die äußern Zeichen der Achtung und vergaß häufig, den Hut vor seinem Lehrer abzuziehen oder demselben eine Verbeugung zu machen, sondern achtete auch eben so wenig auf seines Lehrers Beispiel und gute Lehren. Er war ein leichtsinniger toller Bursche und lachte seinen Gespielen nicht selten wegen dessen Ernstes aus Herzensgrunde aus.

Square hatte denselben Grund, den ersteren Knaben vorzuziehen; denn Tom Jones zeigte nicht mehr Rücksicht auf die gelehrten Reden, die ihm dieser Herr bisweilen hielt, als auf die Thwackum's. Er wagte einmal das Richtmaß des Rechtes lächerlich zu machen und ein anderes mal sagte er, er glaube es gebe in der Welt kein Richtmaß, mit welchem sein Vater (wie sich Allworthy von ihm immer nennen ließ) gemessen werden könnte.

Blifil dagegen war in seinem sechszehnten Jahre bereits klug genug, sich den beiden Gegnern zu gleicher Zeit zu empfehlen. Mit dem einen war er ganz Religion, mit dem andern ganz Tugend und wenn beide zugegen waren, schwieg er, was beide zu seinem und auch zu ihrem Vortheile auslegten.

Blifil begnügte sich nicht einmal, diesen beiden Herren ins Gesicht zu schmeicheln; er benutzte häufig eine Gelegenheit, sie hinter dem Rücken gegen Allworthy zu rühmen, vor welchem, wenn sie allein waren und sein Oheim irgend ein religiöses oder tugendhaftes Gefühl an ihm rühmte, er dasselbe meist den guten Lehren Thwackum's oder Square's zuschrieb, denn er wußte, daß sein Oheim alle solche Complimente den Personen hinterbrachte, zu deren Vortheile sie gemacht wurden und er hatte sich aus Erfahrung von 119 dem tiefen Eindrucke überzeugt, den sie sowohl auf den Philosophen als auf den Pfarrer machten. Bekanntlich ist keine Schmeichelei unwiderstehlicher als die, welche von zweiter Hand kommt.

Der junge Herr bemerkte auch gar bald, wie angenehm diese Lobeserhebungen seiner Lehrer dem Herrn Allworthy selbst waren, da sie ja laut den seltsamen Erziehungsplan priesen, den er entworfen hatte, denn der würdige Mann hatte, als er die unvollkommene Einrichtung der öffentlichen Schulen kennen gelernt und in Erfahrung gebracht, wie viele Laster die Schüler in denselben lernten, sich vorgenommen, seinen Neffen, so wie den andern Knaben, den er gewissermaßen adoptirt hatte, in seinem eigenen Hause zu erziehen, wo, wie er meinte, ihre Sittlichkeit weniger Gefahren ausgesetzt sei, wie in einer öffentlichen Schule.

Nachdem er so den Vorsatz gefaßt hatte, die Knaben einem eigenen Erzieher zu übergeben, wurde ihm als solcher Herr Thwackum von einem vertrauten Freunde empfohlen, von dessen Verstande Allworthy immer eine hohe Meinung gehabt und auf dessen Rechtlichkeit er fest gebauet hatte. Dieser Thwackum galt für sehr gelehrt, sehr religiös und verständig, und dies waren ohne Zweifel die Eigenschaften, welche Allworthy's Freund bewogen hatten, denselben zu empfehlen, obgleich der Freund der Familie Thwackum's, den angesehensten Personen in dem Flecken, den der Freund in dem Parliamente repräsentirte, einige Verbindlichkeiten schuldig war.

Thwackum war auch nach seiner Ankunft Allworthy in hohem Grade angenehm und entsprach völlig dem Character, welchen man ihm beigelegt hatte. Nach längerer Bekanntschaft jedoch und nach vertraulichen Gesprächen erkannte der würdige Mann Schwächen an dem Erzieher, die er wohl wegwünschte; da dieselben aber von den guten Eigenschaften 120 bedeutend überwogen wurden, so vermochten sie Allworthy nicht, ihn zu entlassen; auch würden sie ein solches Verfahren nicht gerechtfertiget haben, denn der Leser irrt sich bedeutend, wenn er meint, Thwackum sei dem Herrn Allworthy in demselben Lichte erschienen, wie er ihm in dieser Geschichte erscheint; er irrt eben so sehr, wenn er sich einbildet, die genaue Bekanntschaft mit dem Geistlichen würde ihm jene Dinge offenbart haben, die wir ihm darlegen und entdecken können. Von den Lesern aber, die deshalb die Klugheit und den Scharfsinn Allworthy's herabsetzen, sage ich ohne Bedenken, daß sie einen schlechten und undankbaren Gebrauch von der Kenntniß machen, die sie uns verdanken.

Die offenbaren Irrthümer in der Lehre Thwackum's hoben gerade die entgegengesetzten in jener Square's auf, die unser guter Mann eben sowohl sah und verurtheilte. Er meinte indeß, daß die verschiedenen Auswüchse dieser Herren die verschiedenen Unvollkommenheiten ausgleichen und die beiden Knaben, besonders mit seiner eigenen Beihilfe, genügende Lehren von wahrer Religion und Tugend erhalten würden. Wenn das Gegentheil von dem eintrat, was er erwartete, so war dies möglicherweise die Folge eines Fehlers in dem Plane selbst, den der Leser zu ermitteln suchen mag, wenn er es kann, denn wir machen keineswegs den Anspruch, unfehlbare Charactere in dieser Geschichte einzuführen, in der hoffentlich nichts gefunden werden wird, was niemals in der menschlichen Natur gesehen worden ist.

Der Leser wird sich, denke ich, nicht wundern, daß das oben erwähnte verschiedene Benehmen der beiden Knaben die verschiedenen Wirkungen hatte, von denen er bereits einige Beispiele gesehen hat. Außerdem gab es aber noch einen andern Grund für das Benehmen des Philosophen 121 und des Pädagogen; da dies jedoch eine Sache von großer Wichtigkeit ist, so enthüllen wir es erst in dem nächsten Kapitel.


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