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Der Rationalismus hat mit dem Christentum das Prinzip gemein; aber nur in der Theorie, nicht in der Praxis, d. h. nur im allgemeinen, aber nicht im besonderen, nur in der Vorstellung, aber nicht in der Tat und Wahrheit. Der Rationalist ist so gut Gottesgläubiger, als der Christ oder Altgläubige; Atheismus ist ihm ein greuelvoller Unsinn und Irrtum; aber in der Praxis, im besonderen ist er Atheist; da erklärt er sich alles ohne Gott. Sein Gott ist nur der Ausdruck seiner theoretischen Beschränktheit; wo er sich etwas nicht erklären kann, wo ihm der Verstand ausgeht, wie am Anfang der Welt oder des organischen oder bewußten Lebens, da nur setzt er Gott hin, d. h. da erklärt er sich das Unerklärliche durch ein unerklärliches Wesen, ergänzt oder personifiziert er den Mangel aller bestimmten positiven Gründe in einem unbestimmten, grundlosen, aber eben deswegen unendlichen, alles vermögenden Wesen. Aber dieses Wesen steht nur an der äußersten Endspitze der Welt; im Verlaufe geht alles hübsch natürlich und weltlich zu. Gott ist König der Welt, aber nur nomine, nicht re, nur dem Namen, aber nicht der Sache nach. Er leugnet zwar nicht denn er geht nirgends auf den letzten Grund ein, er fragt sich nicht, was denn eigentlich das Wunder ist die Möglichkeit des Wunders, d. h. des Unmöglichen, aber die Konsequenz dieser Vorstellung, die Notwendigkeit und Wirklichkeit, leugnet er. Er bestimmt und verehrt Gott als Geist, als ein Wesen ohne alle Sinnlichkeit, Leidenschaftlichkeit, Fleischlichkeit; aber er läßt sich durch diesen Geist nicht im geringsten im Genüsse des Fleisches stören, wie die alten Christen; er leitet aus diesem Geiste nicht die Notwendigkeit der Mortifikation und Asketik ab; er erblickt in ihm nicht den Baumeister der Klöster und Kirchen, den Autor der heiligen Schrift, der Civitas Dei des Thomas a Kempis, den Schöpfer der Klerisei, der Mönche und Nonnen, nein! er erblickt in diesem Geiste nur den Autor der Ars amandi, den Lucrez de rerum natura, den Apicius de opsoniis et condimentis, nur den Schöpfer von Natur, Fleisch, Sinnlichkeit. Der reine Geist hat uns sinnlich erschaffen; er hat uns Geschmack gegeben; wer sollte sich also die Leckerbissen seiner Schöpfung nicht herzlich schmecken lassen? Wer wider die Triebe des Fleisches handelt, handelt wider den Willen des Schöpfers. Gott ist ein Geist, aber seine Werke, sein Wille ist Fleisch. So schiebt der Rationalismus, worunter hier übrigens nicht nur der Rationalismus im engeren Sinne, sondern auch der moderne unchristliche Christianismus, der moderne atheistische Theismus überhaupt verstanden wird der Theologie die Physik, dem Supranaturalismus den Naturalismus, dem heiligen Geiste der Asketik den Epikuräismus unter. Er bejaht das Prinzip, verneint aber die Bestimmungen, welche das Prinzip erst zur Wahrheit machen, die Konsequenzen natürlich die lästigen, unangenehmen, den Menschen verneinenden Konsequenzen, denn die gemütlichen, angenehmen Seiten und Konsequenzen eines Prinzips, eines Glaubens läßt er sich herzlich gern gefallen.
Wie mit seinem Gotte, ist es mit seinem Jenseits, das ja nichts anderes ist als der verwirklichte, praktische Gott. Der Rationalist glaubt steif und fest, wie der Christ, an das Jenseits, an die Unsterblichkeit; sie zu leugnen, d. h. zu leugnen im Prinzip, offen, entschieden, wahrhaft, männlich, das ist ihm eine greuelvolle Verirrung. Aber er glaubt nicht, daß im Himmel »ewige Kirchweih« ist, daß dort alle irdischen Plackereien und Kämpfe ein Ende nehmen, daß dort die Ebbe und Flut, wie der bewegte Wechsel dieses Lebens aufhört. Nein! der Unglaube hat ja den Himmel und mit ihm die Unsterblichkeit verworfen, weil ihn der ewige Stillstand, das ewige Einerlei des Himmels anwiderte, weil ihm die Absonderung der Ruhe vom Kampfe, des Genusses vom Bedürfnis als ein bloßes Phantasma erschien. Aber der Rationalist nimmt ebensoviel Anteil an den Verdiensten des Unglaubens, als des Glaubens; eine Naturforscherversammlung hat für ihn ebensoviel, ja weit mehr Autorität, als eine Kirchenversammlung im Namen der heiligen Dreifaltigkeit; er richtet die religiösen Glaubensvorstellungen, diese Offenbarungen der menschlichen Phantasie, Beschränktheit und Unwissenheit, nach dem Objektivglas der Naturwissenschaft; er legt daher in den Glauben an das Jenseits den Unglauben an dasselbe hinein; er verwandelt den religiösen, d. h. imaginären Himmel des Christentums in den profanen, sinnlichen Himmel der modernen Astronomie, den heiligen Sabbat des Jenseits in einen gemeinen Werktag. Dort wird nicht gefeiert, Gott bewahre! dort kommen wir in eine neue Lebensschule; dort fangen wir wieder, nur auf einer höheren Stufe, von vorne an; dort werden wir wieder Abcschützen, Gymnasiasten, Studenten, bis wir die höchste Würde daselbst erlangt haben, um dann abermals auf einer noch höheren Stufe unser Curriculum vitae fortzusetzen. Fortschritte, Fortschritte ohne Ziel und Ende stehen uns bevor. Freut euch des Lebens! Nicht der Friedensfürst der Marschall Vorwärts ist unser Vorbild, der Bürge unserer himmlischen Zukunft. So verfällt der Rationalist, um dem Phantasma des Himmels auszuweichen in ein anderes ebenso bodenloses Phantasma ein Phantasma, welches zugleich die wahre, religiöse Bedeutung des Jenseits vernichtet, die nur in der Vorstellung liegt, daß der Mensch dort an sein Ziel kommt, dort im Frieden ist, frei von dem rastlosen Streben des irdischen Lebens das Phantasma eines ewigen Fortschritts; an die Stelle des ewigen Stillstandseinerlei setzt er ein ewiges Fortschrittseinerlei. Er macht das Diesseits zum Maßstab des Jenseits, akkomodiert dieses jenem; der Mensch ist ein tätiges, mit der Zeit fortschreitendes Wesen; also dort, wie hier, aber dort ohne Grenzen. Er macht sich so das Jenseits glaublich, indem er es nach dem Diesseits modelt; denn wer kann an dem Diesseits zweifeln? Er schiebt also das Diesseits, die Negation des Jenseits, dem Jenseits unter; er gründet seinen Glauben nur auf einen, freilich unbewußten, Selbstbetrug. Weil er drüben, wie hier, wieder in der Schule sitzt und schwitzt, weil er unter dem Jenseits sich nichts vorstellt als das Diesseits, also das Jenseits leugnet, so glaubt er daran.
Der religiöse Gläubige glaubt an das Jenseits, weil es, seiner Vorstellung nach, ein anderes Leben ist, als dieses; der Rationalist, der Vernunft gläubige, der ungläubig Gläubige aber glaubt daran, weil es kein anderes Leben ist, d. h. er glaubt nur an die Wahrheit dieses Lebens, freilich nur de facto, nicht de jure. Dem Christen oder religiös Gläubigen ist das andere Leben der Superlativ des Lebens, das höchste, das göttliche, das vollendete Leben; dem Rationalist aber ist das künftige Leben nur ein Komparativ; er ist dort vollkommen, wie hier, aber nur ein bischen. Der Rationalist kann mit der Vorstellung der Seligkeit, Vollkommenheit, Göttlichkeit nicht die Existenz des Menschen verknüpfen, so wenig als die Gottheit und Menschheit in dem Gottmenschen; er opfert daher, um zu existieren, die himmlische Seligkeit auf; er will à tout prix existieren, lieber unselig sein, als gar nicht sein denn die Vorstellung des Garnichtseins ist eine unchristliche, gottlose, atheistische Vorstellung er denkt sich daher ein arbeitsames, tätiges, strebendes, fortschreitendes Leben; aber eben ein fortschreitendes Leben ist ein unseliges Leben, ein Leben wenigstens, wo Lust, Freude, Gewinn mit Verlust, Arger, Reue, Schmerz abwechselt denn mit jedem Fortschritt freue ich mich zwar über meinen neuen Gewinn, aber ärgere mich auch zugleich über meine frühere Dummheit und Beschränktheit ein Leben also, wie dieses. Um sein Verlangen ewiger Existenz zu beschönigen, schützt der Rationalist die religiöse Idee der Annäherung an Gott, des Gott ähnlicher Werdens, also das Ziel der Vereinigung mit Gott vor. Er glaubt nicht aus Selbstliebe an seine Unsterblichkeit, nein! er glaubt nur Gott, d. h. dem Geiste oder der Tugend zu Gefallen und Ehren an seine Fortdauer nach dem Tode; er glaubt nur deswegen an sie, weil er ja, ohne zu existieren, nicht immer vollkommener, Gott ähnlicher werden kann. Aber dieses Ziel der Vollkommenheit schiebt er bis ins Unendliche hinaus; er bleibt immer unvollkommenes Wesen, wie hier; immer weiter weg von seinem Ziel, denn nur diese Entfernung verbürgt ihm seine Fortdauer im Jenseits. Die Vervollkommnung ist ja nichts weiter als eine fortwährende Verfeinerung und Vergeistigung, eine fortwährende, immer höher steigende Abstraktion und Negation; er streift im Jenseits die Lüste und Triebe des Fleisches ab er ist ja, wie wir wissen, theoretischer Asket und Fleischesfeind im Jenseits ißt, trinkt und freit der Rationalist nicht mehr; er gibt seinen irdischen Leib auf, bekommt aber dafür wahrscheinlich gewiß weiß er nichts einen feineren Leib, aber noch nicht den allerfeinsten. Kurz die Vervollkommnung ist eine fortgehende Sublimation, Verflüchtigung, Vergeistigung sein Urbild ist ja ein Wesen ohne Fleisch und Blut, ohne Sinnlichkeit, purer Geist, d. h. pures Abstraktum, pures ens rationis sein wahres Ziel also das Nichts, denn das Nichts ist das Allerimmateriellste; wer nichts ist, hat keine Lüste, Triebe Leidenschaften, Mängel und Fehler mehr. Aber dieses Ziel schiebt er in das Unerreichbare hinaus. Er will zwar immer nichts werden das gebietet ihm sein phantastischer Vervollkommnungs- und Selbstvergötterungstrieb aber er kann es nicht werden, denn sein realistischer Lebenstrieb gebietet ihm, um zu existieren, immer etwas, immer unvollkommen zu bleiben.
Das Jenseits des Rationalismus ist daher nichts anderes, als eine aufgeschobene, in täuschende Ferne verlegte Auflösung in nichts. Der orientalische Phantast setzt direkt in die Auflösung in Gott oder das Nichts das Ziel seines Lebens; der okzidentalische Phantast hat das nämliche Ziel, steht auf dem nämlichen phantastischen Fundament die Religion ist ihrem Ursprung und Wesen nach Orientalismus aber er hat nicht die feurige Glut und Phantasie des Orientalen; er ist vielmehr egoistisch, phlegmatisch, prosaisch, diplomatisch, klug, kurz Rationalist; er verwirklicht daher nie diese Auflösung in das geistige Nichts; er macht sie zu keiner praktischen Wahrheit. Aber eben deswegen ist der Zweck der Vervollkommnung, welchen der Rationalist als Grund der Notwendigkeit eines Jenseits angibt, nur ein Vorwand seiner Selbstliebe; denn was in alle Ewigkeit hin nicht erreicht wird, ist nur ein vorgespiegeltes Ziel. Im Begriffe des Zwecks, des Ziels liegt, daß es endlich einmal erreicht wird. Und wenn ich im Jenseits selbst wieder unvollkommen bin, wozu ist es denn? Die Bedeutung des Jenseits ist gerade nur die, daß es die Verneinung, das Gegenteil dieses »unvollkommenen« Lebens ist. Des Todes Preis ist notwendig die Vollkommenheit, Seligkeit, Gottheit. Eine solche hatte, schmerzliche Verneinung, als der Tod oder vielmehr das Sterben ist, verdient den allerhöchsten und letzten Lohn. Der Tod ist ja schon an und für sich die Abstreifung alles Irdischen, Unvollkommenen, Sinnlichen; auf dem Sterbebette legt der Mensch alle Eitelkeiten, Lüste, Sünden und Begierden ab. Der Tod ist daher die Bedingung der absoluten Vollkommenheit, das Ende aller Fortschrittsbedingungen. Auf diese absolute Verneinung paßt nur die absolute Bejahung. Wer einmal durch den Tod zum Magister der »destruktiven und subversiven« Philosophie promoviert worden ist, der hat alle Lust verloren, das Abc eines neuen Lebenslaufes wieder einzustudieren. Auf die Tragödie des Sterbeaktes reimt sich nur ewige Wonne oder ewiges Ende, reimt sich nur Gottsein oder Nichtsein, aber nicht die Komödie des rationalistischen Jenseits, dieses klägliche Mittelding zwischen Etwas und Nichts, Selig und Unselig, Vollkommen und Unvollkommensein. Ich danke dir daher, lieber Rationalist! von Herzen für das Präsent deiner eitlen Unsterblichkeit. Ich will entweder mit dem alten Glauben bei Gott sein, dem als Wesen vorgestellten Tod oder Nichts, dem Schluß aller Fortschritte, oder ich will gar nicht mehr sein. Wo man noch Schritte macht, da macht man auch noch genug Rückschritte und Faux-pas; ich habe aber im Lebens- und nun vollends im Todeskampf die Faux-pas herzlich satt bekommen. Laß mich in Frieden ruhn! Wie weise waren doch die »blinden« Heiden, welche ihren Toten ein Molliter ossa cubent Sanft ruhen deine Gebeine! oder Placide quiescas Ruhe in Frieden! in das Grab nachriefen, während die Christen als Rationalisten den Sterbenden ein lustiges Vivas et Crescas in infinitum in die Ohren schreien, oder als pietistische Seelenärzte à la Doktor Eisenbart auf Rechnung der Todesfurcht die Gottesfurcht, als Unterpfand ihrer himmlischen Seligkeit, einblöken! O Christentum! Du bist der Wahnsinn in der Form der Vernunft, der schrecklichste Hohn auf das Menschengeschlecht in der Form der süßesten Schmeichelei!
Der Rationalismus gründet seinen Hauptbeweis für die Notwendigkeit des Jenseits auf die Voraussetzung, daß der Mensch auf der Erde nicht seine Bestimmung erreicht. »Unwidersprechlich ist,« sagt z. B. einer der angesehensten modernen Rationalisten, »daß die Bestimmung eines jeden Geschöpfs ausgesprochen ist in seinen Kräften und Anlagen. Was jedes Geschöpf werden kann, das soll es auch werden und das wird es auch. Pflanzen und Tiere, und ebenso der menschliche Körper, der ihnen gleich stehet, haben nur solche Anlagen, welche in diesem Leben auf der Erde zur Entfaltung kommen können und wirklich entfaltet werden …. Anders aber ist es mit den Kräften und Anlagen des Geistes, diese sind einer so großen Entfaltung fähig, daß kein Menschenleben lang genug ist, um sie zu vollenden, daß jeder, auch der ausgebildetste Mensch, wenn er als Greis stirbt, bekennen muß, er stehe noch am Anfang seiner Bildung und er könne unendliche Fortschritte machen, wenn sein Geist ein längeres Dasein hätte und in vollkommenere Verhältnisse eintreten könnte … Die Erkenntniskraft scheint ebenso unbegrenzt zu sein als der Stoff des Erkennens. Das Leben ist aber viel zu kurz, der Leib eine viel zu hemmende Fessel … als daß die Erkenntniskraft völlig entfaltet werden könnte … Wohl hätten wir die Kraft nicht, nur einer Wissenschaft, sondern uns aller zu bemächtigen, wenn nur nicht das Leben zu kurz wäre, wenn wir nur nicht ein Vierteil desselben dem Schlafe und zwei andere Vierteile dem Erwerbe der Lebensbedürfnisse und den Arbeiten für die irdischen Verhältnisse zum Opfer bringen müßten. Auch die Wirkungskraft des Menschen wird vom irdischen Leben nur mangelhaft entfaltet und auf keine Weise ausgebraucht. Insbesondere bleibt die moralische Bildung, welche das Gesetz der Vollkommenheit zum herrschenden Lebensgesetz erheben soll, noch mangelhaft. Die hemmenden Verhältnisse der sittlichen Bildung Bedürfnisse, Gewohnheiten, sinnliche Triebe, lucta carnis cum spiritu verschwinden nur erst mit dem Tode, so daß keiner so vollkommen wird, als er werden sollte, und unter günstigeren Verhältnissen werden könnte. Und dasselbe müssen wir endlich auch von unserer Anlage für das Schöne sagen. Auch sie wird vom Leben nur mangelhaft ausgebildet. Eine Kunst ist es gewöhnlich nur, der man huldigen kann, und nur wenige vermögen es, mehreren Künsten, keiner vermag allen genug zu sein. So ist denn der Mensch das einzige irdische Wesen, das Kräfte und Anlagen erhalten hat, welche das Leben nicht entfaltet, welche offenbar für eine Fortsetzung des Daseins berechnet sind und einer zweiten Welt bedürfen. Die Tiere und Pflanzen, welche auf der Bahn ihrer Entfaltung durch einen frühzeitigen Tod ihre Ausbildung unterbrochen sehen, konnten doch, wenn nicht Gewalt sie gehindert hätte, sich völlig entfalten; dagegen von den menschlichen Individuen und dieses ist ja eben die Hauptsache! auch nicht eines seine Kräfte und Anlagen ganz entfalten kann, mag es auch das höchste Lebensalter erreichen.« Allein diese Voraussetzung, daß der Mensch und zwar in den glücklichsten irdischen Verhältnissen, selbst wenn er das höchste Lebensalter erreicht, nicht seine Bestimmung auf Erden erreicht, hat nur darin ihren Grund, daß man, wie sich sogleich zeigen wird, von vornherein dem Menschen eine supranaturalistische, phantastische Bestimmung anweist.
Der Mensch ist aber so gut, als die Pflanze, als das Tier, ein Naturwesen. Wer, außer der christliche Phantast, der seine höchste Ehre darein setzt, die augenfälligsten Wahrheiten zu ignorieren oder dem besten seines Glaubens aufzuopfern, kann dies leugnen, wer den Menschen aus seinem Zusammenhang mit der Pflanzen- und Tierwelt Herausreißen? Wer die Kulturgeschichte der Menschheit von der Kulturgeschichte der Pflanzen und Tiere absondern? Wer verkennen, daß die Pflanzen und Tiere sich mit dem Menschen verändern und perfektionieren, wie umgekehrt der Mensch mit ihnen? Wer kann auch nur einen flüchtigen Blick in die Mythologien und Religionen der Völker werfen, ohne stets in der Gesellschaft der Götter und Menschen Tiere und Pflanzen zu erblicken? Wer kann sich einen Ägypter ohne den Apis denken, einen Beduinen ohne das Kamel oder Pferd, dessen Genealogie ihn mehr interessiert, als seine eigene, einen Lappen ohne das Renntier, einen Kamtschadalen ohne den Hund, einen Peruaner ohne das Lama? Wer kann dem Indier, der selbst nichts ist als ein eingefleischter, geborner Blumist, eine Blume gleichsam in Menschengestalt, seine Lotosblume, vor deren Schönheit er anbetend niedersinkt, wer überhaupt dem Botaniker, dem Blumisten, dem Pflanzen liebenden Menschen die Blumen und Pflanzen nehmen, ohne ihm mit ihnen die Augen aus dem Kopfe und die Seele aus dem Leibe zu reißen? Was erklärt aber der Mensch tatsächlich und nur die tatsächlichen, nicht die mündlichen Erklärungen entscheiden durch diese, bei den alten und ungebildeten Völkern in Gemäßheit ihrer Denk-, Gefühls- und Ausdrucksweise selbst religiöse Liebe und Verehrung der Tiere und Pflanzen? Er erklärt dadurch, daß er nicht nur mit dem Körper, sondern auch mit dem Geiste, der Seele, dem Herzen mit der Natur zusammenhängt, daß folglich die Losreißung des Menschen von der Erde, die Versetzung desselben in den Himmel oder überhaupt eine andere unbekannte, d. i. phantastische Welt nur ein Mirakel, ein Wunderwerk des allmächtigen Gottes, d. h. des allmächtigen, unbegreiflichen, übernatürlichen, christlichen Egoismus ist.
Der Mensch hat daher als Naturwesen so wenig eine besondere, d. i. überirdische, übermenschliche Bestimmung, als das Tier eine übertierische, die Pflanze eine überpflanzliche hat. Jedes Wesen ist nur zu dem bestimmt, was es ist: das Tier ist bestimmt, Tier, die Pflanze, Pflanze, der Mensch, Mensch zu sein. Jedes Wesen hat den Zweck seiner Existenz unmittelbar in seiner Existenz; jedes Wesen hat seine Bestimmung dadurch erreicht, daß es die Existenz erreicht hat. Existenz, Sein ist Vollkommenheit, ist erfüllte Bestimmung. Leben ist sich selbst betätigendes Sein. Das pflanzliche Wesen hat daher seine Bestimmung erreicht, indem es sich als das, was es ist, als pflanzliches, das empfindende, indem es sich als empfindendes, das bewußte, indem es sich als bewußtes betätigt. Was strahlt dir aus den Augen des Wiegenkindleins entgegen? Die Freude darüber, daß es das Pensum, das der Mensch, wenigstens auf diesem Standpunkt lösen kann und folglich soll denn das Sollen richtet sich nach dem Können gelöst hat, die Freude über seine Vollkommenheit, die Freude darüber, daß es da ist und zwar da ist als ein zullendes, schmeckendes, sehendes, sich selbst und anderes fühlendes Wesen. Wozu ist denn das Kind? Liegt seine Bestimmung jenseits seiner Kindheit? Nein! denn wozu wäre es dann Kind? Die Natur ist bei jedem Schritte, den sie tut, fertig, am Ziel, vollendet, denn sie ist in jedem Augenblick so viel, als sie sein kann und folglich sein soll und will. Das Kind ist nicht des Mannes wegen da wie viele Kinder sterben als Kinder! es ist seinetwegen da; es ist darum befriedigt und selig in sich. Was ist des Jünglings Bestimmung? daß er Jüngling ist, daß er sich seiner Jugend freut, nicht ins Jenseits der Jugend ausschweift Wie das Christentum überhaupt durch die Verheißung eines künftigen Lebens den Menschen um sein gegenwärtiges Leben gebracht hat, so bringt auch noch heute unsere christliche Pädagogik aus zärtlicher Sorgfalt für ihre Zukunft die armen Kinder um das Glück der Kindheit, die Jünglinge um das Glück der Jugend. Was ist des Mannes Bestimmung? daß er Mann ist, als Mann sich betätigt, seine Manneskraft ausübt. Was lebt, soll leben, soll sich seines Lebens freuen. Lebensfreude ist ungehinderte Lebenskraftäußerung. Der Mensch ist Mensch, nicht Pflanze, nicht Tier, d. h. kein Kamel, kein Esel, kein Tiger usw.; er hat also keine andere Bestimmung, als sich als das Wesen, das er ist, geltend zu machen. Er ist, er lebt, lebt als Mensch, voilà tout. Leben, sonst nichts liegt der Natur, menschlich gesprochen, im Sinne.
Der Mensch ist nicht der Zweck der Natur das ist er nur in seinem, im menschlichen Sinn er ist ihre höchste Lebenskraftäußerung, gleichwie die Frucht nicht der Zweck, sondern der höchste Glanzpunkt, der höchste ' Lebenstrieb der Pflanze ist. Nicht teleologische Weisheit, nicht ökonomische Absichtlichkeit Trieb, Überfülle, Säfteüberfluß, Lebenskraftäußerungsdrang ist der Grund der Zeugung, der Fortpflanzung. Darum ist die Natur so schrankenlos in ihren Produktionen. Wozu diese Wolken von Staubregen, die die Wälder zur Befruchtungszeit ausströmen? wozu diese zahllosen Eier der Pflanzen und Tiere, wovon doch die wenigsten Pflanzen und Tiere werden? Wozu? Törichte Frage! Du siehst ja hier vor deinen Augen den üppigen, zwecklosen, schrankenlosen Lebenstrieb der Natur. Wozu ist denn die Honigmotte? wozu die Blattlaus, wozu der Floh? Damit das Eine oder Andere nicht zu sehr überhand nehme, wie die Teleologen sagen? Nein! das heißt die Folge zum Grund machen; nur die Lebenslust hat die Blattlaus, hat den Floh in die Welt gesetzt. Was Dir zum Schaden, gereicht dem Floh zum Genuß; überall, wo Stoff zum Genuß, ist auch Reiz, Trieb zum Genuß; überall, wo Genießbarkeit, auch notwendig ein Genießendes. Eines ist darum Bedingung des Andern; Eines ruft das Andere ins Leben; Eines setzt den Andern, um sich Geltung und Platz zu machen, Schranken dies der Grund von der Harmonie der Natur. Der Ursprung des Lebens, d. h. des empfindenden, individuellen Lebens ist daher auch nur dann unbegreiflich, wenn man das Leben von der das Leben bedingenden Natur losreißt, isoliert, und die Lebensbedingungen schon fertig daseiend sich denkt, ehe das Leben entstand. Denkt man aber beides zusammen, so ist die Bildung der Erde, des Wassers, der Luft, der Temperatur und die Bildung der Tiere und Pflanzen ein Akt, folglich die Entstehung, z. B. des Wassers ebenso unbegreiflich, als die Entstehung des Wassertieres, oder umgekehrt die Entstehung des Lebens ebenso wenig wunderbar, als die Entstehung der Lebensbedingung, zu deren Erklärung doch selbst schon denkende Theisten des vorigen Jahrhunderts die Hypothese eines Deus ex machina nicht nötig fanden. Das Leben ist allerdings nicht Produkt eines chemischen Prozesses, nicht Produkt überhaupt einer vereinzelten Naturkraft oder Erscheinung, worauf der metaphysische Materialist das Leben reduziert; es ist ein Resultat der ganzen Natur.
Fragst du also, wozu ist der Mensch? so frage ich dich zuerst: warum oder wozu ist denn der Neger, der Ostiake, der Eskimo, der Kamtschadale, der Pescheräh, der Indianer? Hat der Indianer nicht seine Bestimmung erreicht, wenn er eben ein Indianer ist? Wenn er sie nicht als Indianer erreicht, wozu ist er denn dann Indianer? Eben so, wenn, wie der phantastische Christ behauptet, der Mensch durch seine Kindheit, folglich Jugend überhaupt denn in der Jugend arbeiten wir am allerwenigsten im Weinberge des Herrn durch Schlafen, Essen, Trinken von der Erreichung seiner Bestimmung abgehalten wird, wozu und warum ist er denn ein kindliches, jugendliches, schlafendes, essendes, trinkendes Wesen? Warum wird er nicht als gemachter Christ, Rationalist oder lieber gleich als Engel geboren? Warum bleibt er denn nicht im Jenseits, d. h. beim eigentlichen Text? wozu diese irdische Abschweifung? warum verirrt er sich in den Menschen? Verliert nicht das Leben gerade durch das Jenseits, in dem es erst seinen Sinn finden soll, allen Sinn, allen Zweck? Ihr könnt Euch das Leben nicht ohne das Jenseits erklären? Wie töricht! Gerade durch die Annahme eines Jenseits wird es unerklärlich. Und sind nicht gerade die Lebensverrichtungen, welche der Christ als Beweise für ein Jenseits anführt, die schlagendsten Beweise gegen dasselbe? nicht der augenfällige Beweis, daß die Bestimmung, welcher sie widersprechen, eben deswegen, weil sie ihr widersprechen, nicht die Bestimmung des Menschen ist? Wie thöricht, daraus, daß der Mensch schläft, die Notwendigkeit zu folgern, daß er einst ein Wesen werde, welches nicht mehr schläft, immer die Augen aufgesperrt hat, immer wacht! Die Tatsache, daß der Mensch schläft, ist ja gerade ein sinnfälliger Beweis, daß der Schlaf zum Wesen des Menschen gehört, daß folglich nur die Bestimmung, die der Mensch hier freilich nicht im Schlaf, aber doch in Verbindung mit dem Schlaf erreicht, seine wirkliche, wahre Bestimmung ist. Und sind denn Schlafen, Essen, Trinken von dem göttlichen olympischen Liebesbedürfnis will ich aus Schonung vor christlichen Theologen, deren Ideal der geschlechtslose Engel ist, schweigen sind diese Lebensverrichtungen, welche uns die noch heute vom Geiste des Mönchtums, theoretisch wenigstens, beseelten Christen, so herabsetzen, nicht ebensogut, wie die Stufen der Kindheit, der Jugend, wie alles in der Natur zur gehörigen Zeit Selbstzwecke, wirkliche Genüsse und Wohltaten? Bekommen wir nicht selbst auch die höchsten geistigen Genüsse und Tätigkeiten satt? Kann der Christ ohne Unterlaß beten? Würde ein Beten ohne Unterlaß nicht dem Nichtbeten, ein Denken ohne Unterlaß nicht dem Nichtdenken gleich kommen? Ist nicht auch hier die Kürze die Würze? Müssen wir uns nicht von allem trennen, um ihm wieder den Reiz der Neuheit zu verschaffen und es wieder lieb zu gewinnen? Und was verlieren wir denn durch den Schlaf, durch Essen und Trinken? Zeit; aber was wir an Zeit verlieren, gewinnen wir an Kraft. Neugestärkt kehren wir zu unserer Tätigkeit wieder zurück. Die Augen, die während der Nacht geruht, sehen um so klarer am Morgen. Jeder Tag ist so ein Wiedergeburts- und Auferstehungsfest des Menschen. Soll also der Mensch mit supranaturalistischem, erheucheltem Abscheu und Widerwillen eine notwendige Folge des wahren Christentums schlafen, essen, trinken? Nein! er soll gern schlafen, gern essen, gern trinken; aber er soll auch gern wachen, gern denken, gern arbeiten; er soll im Genuß nicht durch den Gedanken an die Arbeit den ohnehin vergänglichen Genuß sich verbittern, aber auch in der Arbeit nicht an den Genuß denken, sondern in der Arbeit, in der Tätigkeit Genuß finden; er soll überhaupt alles, was zum Menschen gehört, der Natur gemäß zur gehörigen Zeit um sein selbst willen, alles also mit Freude und Lust, alles mit dem Bewußtsein, daß er in ihm seine Bestimmung erfüllt, treiben. Er soll statt an die Allgegenwart Gottes, an die Allgegenwart des Menschen glauben, an das Dasein des Menschen nicht bloß in der Kirche wo er ja so nicht zu Hause ist, wo ja noch heute dem Gott der Mensch, dem Luxus des religiösen Bedürfnisses die wirklichen Bedürfnisse des Menschen geopfert werden Übrigens liegt auch dem religiösen Bedürfnis ein sehr reelles menschliches Bedürfnis zugrunde, wenigstens auf Seite der Theologen, nämlich das Bedürfnis, sich wichtig und unentbehrlich zu machen; denn solange die Menschheit im Unterschied von den Bedürfnissen menschlicher Bildung, menschlicher Kunst und Wissenschaft, menschlicher Tugend und Liebe ein besonderes religiöses Bedürfnis bat, so lange muß es auch eine besondere Kaste von Menschen geben, welche keine andere Aufgabe hat, als eben dieses erkünstelte, luxuriöse Bedürfnis zu pflegen. oder in der Studierstube oder in der Staatsstube, sondern auch an die Gegenwart des Menschen in der Schlafkammer, im Speise- und Kinderzimmer, kurz an allen Orten und Ecken, wo er steht und geht; er soll statt die Einheit Gottes, die Einheit des Menschen beweisen und bekräftigen, verwerfen den grundverderblichen, grundirrtümlichen, grundphantastischen Dualismus des Christentums von Geist und Fleisch, die Zerspaltung des Menschen in zwei wesentlich verschiedene Teile, wovon der eine dem Himmel, der andere der Erde, der eine ihm selbst, der andere man weiß nicht wem angehört, der eine Gott zum Urheber hat, der andere aber ein apokryhisches Buch ist, dessen Verfasser man nicht weiß oder wenigstens nicht aus christlicher Klugheit beim rechten Namen nennt, der aber auf deutsch der Teufel heißt; denn das Christentum ist nichts anderes, als ein diplomatischer Manichäismus, ein nur durch den Geist des Abendlands gemäßigter, modifizierter, verklauselter Manichäismus oder Parsismus.
Der Mensch soll also das Christentum aufgeben, dann erst erfüllt und erreicht er seine Bestimmung, dann erst wird er Mensch, denn der Christ ist nicht Mensch, sondern » halb Tier, halb Engel«. Dann erst, wenn der Mensch allüberall Mensch ist und als Mensch sich weiß, wenn er nicht mehr sein will, als er ist, sein kann und soll, wenn er sich nicht mehr ein seiner Natur, seiner Bestimmung widersprechendes, folglich per se unerreichbares, phantastisches Ziel setzt, das Ziel, ein Gott, d. h. ein abstraktes, phantastisches Wesen, ein Wesen ohne Körper, ohne Fleisch und Blut, ohne sinnliche Triebe und Bedürfnisse zu werden, dann erst ist er vollendet, dann erst vollkommener Mensch, dann erst ist keine Lücke mehr in ihm, worin das Jenseits sich einnisten könnte. Und zu dieser Vollendung des Menschen gehört selbst auch der Tod; denn auch er gehört zur Bestimmung, d. h. zur Natur des Menschen. Darum heißt der Tote mit Recht der Vollendete. Menschlich zu sterben, zu sterben mit dem Bewußtsein, daß du im Tode deine letzte menschliche Bestimmung erfüllst, zu sterben also im Frieden mit dem Tode das sei dein letzter Wunsch, dein letztes Ziel. Dann triumphierst du auch noch im Tode über den üppigen Traum der christlichen Unsterblichkeit; dann hast du unendlich mehr erreicht, als du im Jenseits erreichen willst und doch nimmermehr erreichst.
Eine besondere Bestimmung, eine solche, welche erst den Menschen in Zwiespalt mit sich und in den Zweifel, ob er sie erreicht oder nicht erreicht, versetzt, hat der Mensch nur als moralisches, d. h. soziales, bürgerliches, politisches Wesen. Diese Bestimmung ist aber keine andere als die, welche sich der Mensch, im normalen und glücklichen Fall, auf Grund seiner Natur, seiner Anlagen und Triebe selbst gesetzt hat. Wer sich selbst nicht zu etwas bestimmt, ist auch zu nichts bestimmt. Man hört oft: wir wissen nicht, wozu der Mensch bestimmt ist. Wer so spricht, der trägt seine eigene Unbestimmtheit nur auf andere Menschen über. Wer nicht weiß, wozu er bestimmt ist, hat auch keine besondere Bestimmung.
Aber auch auf diesem Felde der verfehlbaren Bestimmung des Menschen zeigt sich die dualistische Phantastik in der rationalistisch christlichen Vorstellung vom Menschen sogleich wieder hierin, daß sie nur den Wissenstrieb, den ästhetischen und moralischen Trieb allein für sich in der Unsterblichkeitsfrage hervorhebt, gleich als hätten nur die gelehrten Herren, die Moralisten und Schöngeister oder Künstler Anspruch auf ein himmlisches Jenseits, nicht auch die Bauern, die Handwerker, die Fabrikanten, gleich als wenn nicht auch der Trieb des Menschen, das Handwerk zu vervollkommnen, den Ackerbau immer zweckmäßiger einzurichten, die Fabriken in immer höheren Flor zu bringen, ein wesenhafter und ehrbarer Trieb wäre. Wie viele Handwerker mögen über die Verbesserung ihres Handwerkes den Kopf sich zerbrochen, ja darüber sich zu Tode gegrämt haben, daß sie ihren Vervollkommnungstrieb nicht befriedigen konnten! Wie viele junge Menschen, welche Lust zu einem Handwerk, aber gleichwohl, wie sich leider erst später zeigte, kein technisches Geschick dazu hatten, mögen über diesen Zwiespalt moralisch und physisch zugrunde gegangen sein! Diese armen Menschen hatten nie das geringste Verlangen in sich verspürt, Gelehrte, Künstler oder Prediger des Sittengesetzes zu werden; ihr höchstes Ideal, ihr höchster Wunsch war der Handwerker. Gleichwohl wurde dieser Wunsch zu ihrem Verderben nicht erfüllt. Soll dieser Wunsch im Jenseits nicht erfüllt werden? Wie viele andere, die sich in ihrer Wahl nicht geirrt haben, bleiben hier zeitlebens z. B. Schneidergesellen; und doch ist ihr einziges Sinnen und Trachten auf den Schneidermeister gerichtet! Ist dieser Wunsch ein unsittlicher, ungeistiger, unmenschlicher? Warum sollen sie also nicht jenseits werden, was sie hier werden wollten, aber nicht wurden? Oder gründet sich das Schneiderhandwerk nur auf die Not des irdischen Lebens? wird es nur des Brotes wegen getrieben? Gewiß nicht. Wie viele treiben es aus Lust, wie viele betrachten ihr Handwerk als Kunst! Und gehört nicht auch wirklich zum Schneider ästhetischer Sinn, Geschmack? Gehören die Kleider nicht auch vor das Forum der Kunst! Kann nicht eine abgeschmackte Tracht den Effekt eines Kunstwerkes gänzlich aufheben? Wo ist überhaupt die Grenze zwischen Kunst und Handwerk? Ist nicht da die wahre Kunst zu Hause, wo der Handwerker, der Töpfer, der Glaser, der Maurer Künstler ist? Und knüpft sich die Kunst nicht an die gemeinsten Lebensbedürfnisse an? Was tut sie denn anderes, als daß sie das Gemeine, Notwendige veredelt? Wo man keine Häuser braucht, da baut man auch keine schönen Häuser; wo man keinen Wein mehr trinkt und schätzt, da ehrt man ihn auch nicht durch schöne Pokale; wo man keine Toten mehr beweint, da setzt man auch zu ihrer Verherrlichung keine Denkmale, keine Mausoleen; wo kein Blut mehr fließt, da wird auch keine Ilias mehr gesungen, und wo deine verwöhnten, von den Hallelujas des christlichen Himmels betäubten Ohren nicht mehr die Axt des Holzhauers und die Säge des Schreinermeisters beleidigt, da entzückt sie auch nicht mehr der Ton der Leier und Flöte. Was bleibt dir also übrig von der Kunst, wenn du ihr den goldenen Boden des Handwerks nimmst? Woran hat überhaupt der Schönheitssinn Stoff, Anhalt, woran soll er sich äußern, betätigen, wenn die Gegenstände der Kunst verschwunden sind? Wenn also der Künstler Ansprüche auf ein himmlisches Jenseits hat, so hat sie auch der Handwerker, so hat sie überhaupt der Mensch von Kopf bis zu Fuß; denn der höchste Gegenstand der Kunst ist der Mensch, und zwar der ganze Mensch, der Mensch vom Scheitel bis zur Ferse. Die Griechen hatten und verehrten eine Venus Kallipygos eine notwendige Folge des ausgebildeten, vollendeten Schönheitssinnes. Hat also nicht auch diese Venus Ansprüche auf den Himmel? Wie sonderbar! Die alten Christen zertrümmerten mit ihrem religiösen Eifer die herrlichsten Kunstwerke des Altertums, verwarfen überhaupt die Kunst, wenigstens die selbständige, nicht zum Mittel der Religion degradierte; denn sie hatten die Erfahrung vor Augen, daß die Kunst weltlustig, sinnlich, gottlos ist; sie wußten, daß der, welcher schöne Frauen im Bilde gerne sieht, auch schöne Frauen in natura gern sieht; und die modernen rationalistischen Christen gründen sogar auf den fleischlichen Kunstsinn, auf die Venus Kallipygos, die geistliche Hoffnung eines himmlischen Jenseits!
Und welche Eitelkeit, welche Torheit, den Kunstsinn, den Umstand, das unzählige Menschen hier nicht zur Entwickelung und Befriedigung dieses Sinnes kommen, zum Grund der Notwendigkeit eines Jenseits zu machen, da Unzählige hier nicht einmal ihren Hunger, wenigstens auf eine des Menschen würdige Weise stillen können? Ist es aber nicht notwendiger, eher seinen Hunger, als seinen Kunstsinn zu befriedigen? Kann man ästhetische und moralische Gefühle im Sinne haben, wenn man Hunger oder Nahrungsstoffe, die in keinen menschlichen Magen gehören, im Leibe hat? Ist menschliche Kost nicht die erste Bedingung menschlicher Gesinnung und Bildung? Müssen wir also nicht ein Jenseits fordern, wo die Hungrigen sich satt essen, die, die hier nur vom Spülicht der ästhetischen und physischen Gourmands leben, endlich auch einmal zu einem höheren Genuß, zum Genuß eines Braten kommen? Der Rationalist ist auch im Jenseits ein Freund des gemäßigten und besonnenen Fortschritts, d. h. des Fortschritts, der nie an sein Ziel kommt; er verwirft jede gewaltsame Unterbrechung, die mit dem Menschen nach dem Tode vor sich gehen soll; er hebt nur ganz sachte und allmählig den Menschen von Stufe zu Stufe empor; was ist also natürlicher, billiger, notwendiger, als daß die zahllosen Armen und Hungerleider der Erde jenseits erst zum Genusse menschlicher Kost kommen, während die anderen, welche bereits über den Tafelfreuden der Erde allen Appetit zu himmlischen Speisen verloren haben, in den Konzerten, Opern, Balletten und Pinakotheken des Jenseits ihren Kunstsinn befriedigen! Doch noch ein anderes Beispiel des menschlichen Elends: Wie unzählig viele Frauenzimmer verfehlen hier ohne ihre Schuld ihre Bestimmung! Die Bestimmung des Weibes ist offenbar, Gattin und Mutter zu werden. In dieser Sphäre nur entfaltet das Weib seine Anlagen. Nicht nur physisch, auch moralisch und geistig verkrüppelt die ewige Jungfernschaft. Nur besonders glückliche Anlagen oder Verhältnisse Ausnahmen von der Regel bewahren das Weib vor den verderblichen Folgen des widernatürlichen Standes ewiger Jungferschaft. Warum fordert ihr also kein Jenseits, wo der tiefste Trieb des Weibes, den gleichwohl unzählige Weiber, wenigstens nicht auf die dem Wesen des Weibes entsprechende Weise befriedigen können, sein Recht findet? Wie lächerlich ist es, an die Ausfüllung eingebildeter Lücken des Menschen zu denken, aber die wirklichen Lücken des menschlichen Lebens unbeachtet zu lassen! Wie lächerlich, dem Menschen eine jenseitige Existenz zu verschaffen, ehe man daran denkt, hier den Menschen zur Existenz zu verhelfen; denn der Mensch existiert nur, wenn er eine menschliche Existenz hat, seine menschliche Bestimmung erfüllt. So beweisen uns selbst noch die modernen, so weltlichen Christen in ihren Beweisen vom Jenseits den Grund von dem Elend der christlichen Welt. Statt zu denken an die irdische Bestimmung, an die Bestimmung, die der Mensch hier erreichen sott und kann, aber nicht erreicht, denken sie nur an die Bestimmung, die er nicht erreicht, weil er sie nicht erreichen kann und sott, um sich die Notwendigkeit einer jenseitigen Existenz zu sichern. So opfern sie die wirkliche Bestimmung einer eingebildeten, die wirklichen Bedürfnisse des Menschen phantastischen sogenannten religiösen Bedürfnissen auf.
Der rationalistische Christ stößt sich nämlich nicht hieran, wie wir gesehen, daß unzählige Menschen hier nicht zu menschlicher Existenz gelangen, denn dieser Anstoß würde ihm bloß die Forderung eines irdischen Jenseits abnötigen, die Forderung, daß der Staat, die Menschen dafür sorgen, daß jedem Menschen werde, was des Menschen ist. Nein! er schweift mit seinem Supranaturalisten-Gelüste über die Erde, über das Leben überhaupt hinaus; er behauptet, daß selbst die Bevorzugten, die Glücklichen, die, welche schon hier in den Schätzen der Kunst und Wissenschaft schwelgen, hier keine volle Befriedigung finden. Welcher Künstler, ruft er aus, kann alle Künste, welcher Gelehrte alle Wissenschaften umfassen, und wenn auch einer alle umfaßte, wie vieles weiß der Mensch nicht, was er wissen möchte! Der Rationalist dichtet hier dem Menschen eine Unbeschränktheit und Universalität des Triebes an, die wenigstens eine höchst seltene Ausnahme von der Regel ist, gleichwohl, wo sie stattfindet, hier ihre Befriedigung findet, denn der universelle Trieb interessiert sich nicht für das Einzelne und Spezielle, er befriedigt sich daher auf die ihm entsprechende, auf universelle Weise. Der Mensch hat, in der Regel wenigstens, produktiven, aktiven Sinn nur für die eine Kunst und höchstens die damit verwandten Künste. Wenn auch einer mehrere oder gar alle Künste umfaßt, wenn er auch, wie Michel Angelo, Dichter, Maler, Bildhauer, Baumeister ist, so wird er doch nur eine Kunstart oder doch Kunstgattung zur Hauptsache machen. Der Mensch ist vollkommen glücklich und zufrieden, wenn er nur in einer Art Vollkommenes leistet, nur einem Kunstsinn Genüge leistet. Kann er seine übrigen Kunstsinne nicht durch eigene, so kann er sie dann ja durch die Produktionen anderer befriedigen. Wozu ist es nötig, daß ich selbst musiziere, wenn mir andere den Genuß der Musik verschaffen? Deswegen leben ja eben die Menschen ein gemeinschaftliches Leben, daß sie sich auch in dieser geistigen Beziehung ergänzen, was der eine selbst nicht tun kann, der andere für ihn tut. Vieles verlangen wir sogar deswegen allein nicht zu wissen, weil wir es von anderen gewußt wissen. Es ist aber nicht einmal wahr, daß über der Befriedigung eines Triebes, über der Ausbildung einer Anlage eine andere in dieser traurigen Welt zurückgedrängt wird und daher einer künftigen, besseren Welt bedarf, um zur Freiheit und Entfaltung zu gelangen. Ein Maler, der poetischen Sinn hat, wird diesen auch innerhalb der Malerei befriedigen und betätigen, ein Handwerker, der Kunstsinn hat, diesen auch innerhalb des Handwerks äußern. Alle Tätigkeit, die nicht eine ganz vereinzelte, mechanische ist, erfordert den ganzen Menschen, erfordert alle Kräfte und gewährt eben deswegen allseitige Befriedigung. Alle Kunst ist Poesie, aber ebenso könnte man auch in gewissem Sinne sagen, alle Kunst ist Musik, Plastik, Malerei. Auch der Poet ist Maler, wenn auch nicht mit der Hand, doch mit dem Kopf; auch der Tonkünstler ist Plastiker, nur daß er seine Gestalten in das flüssige Element der! Luft versenkt, deren Eindrücke daher im Zuhörer nur in entsprechenden Bewegungen ihre körperliche Darstellung finden; auch der Maler ist Musiker, denn er stellt nicht nur die Eindrücke dar, die die sichtbaren Gegenstände auf sein Auge allein, sondern auch auf das Ohr machen; wir sehen nicht nur in seinen Landschaften, wir hören auch den Hirten blasen, die Quelle fließen, die Blätter zittern. Der Mensch büßt über der Ausbildung seines Talentes zu dieser oder jener Kunst wohl die technische Fertigkeit zu einer anderen ein, die mechanische Seite, die nur Sache der Übung ist, aber nicht die Anlage; nur das äußerliche Organ, aber nicht den Nerven, oder nur die peripherischen, aber nicht die Zentralnervenenden eines Talents. Es ist hier, wie mit den Sinnen, aus deren teilweisem Mangel der psychologische Aberglaube auf ein reines Nichtsein derselben, folglich auf die Unabhängigkeit des Menschen von den Sinnen, auf das Dasein einer sinnlosen Seele geschlossen hat, ohne zu bedenken, daß der Mensch den Mangel des fehlenden oder der fehlenden Sinne durch die anderen Sinne soviel als möglich zu ersetzen sucht, also gerade dadurch die Unentbehrlichkeit oder Notwendigkeit des mangelnden Sinns beweist, daß er, wenn ihm auch das Organ, die technische Fertigkeit z. B. des Sehens abgeht, doch wenigstens die Anlage, das Talent gleichsam zum Sehen hat, daß, wenn auch die äußerliche Bedingung des Sehens nicht vorhanden ist, doch die Sehnervenursprünge da sind, also der Sinn, wenn auch, sozusagen, kein sichtbares, peripherisches, populäres, doch ein zentrales, esoterisches, eingewickeltes Dasein im Hirn hat, und eben deswegen der Mensch den Trieb zum Sehen hat, und daher diesen Trieb durch die übrigen Sinne so viel als möglich zu befriedigen sucht Geborenen Blinden und Tauben fehlt es gewöhnlich nicht an den äußeren Gesichts- und Gehörwerkzeugen, und wenn auch an den Nerven, so erstreckt sich doch der Fehler nicht auf die Nervenanfänge..
So ist es also auch auf dem Gebiete der Kunst, nur mit diesem großen Unterschied, daß der Mangel eines Sinnes immer ein wirklicher, beklagenswerter Mangel, ein Unglück ist, während der Mensch in der Ausbildung und Befriedigung eines Kunstsinns volle Befriedigung findet, also nicht die Befriedigung der anderen Kunstsinne vermißt, weil er in dem Maße, in welchem er sie hat und ihre Befriedigung wünscht, sie auch schon innerhalb oder neben dieser einen Kunst findet, der er die übrigen subordiniert. Es ist nämlich immer, wenigstens in solchen Menschen, die sich irgend worin ausgezeichnet haben, eine Neigung, ein Trieb vorherrschend, die übrigen unterwerfen oder akkomodieren sich als untergeordnete Talente dem Genie dieses einen Triebes. So findet jeder Trieb, natürlich nur in normalen Lebensverhältnissen, denn nur diese kommen ja hier in Betracht, seine Befriedigung, aber nur in dem Maße, als er sie verdient und begehrt. Michel Angelo dichtete; er befriedigte also neben seinen anderen Kunstsinnen auch seinen poetischen Sinn, aber betrachtete und betrieb seine Dichtkunst nur als Nebensache, eben weil der Trieb zur eigentlichen Poesie nur Neben- nicht Haupttrieb war. Wie er, nach seinen eigenen Worten, seine Frau in seiner Malerei, seine Kinder in seinen Werken, so hatte er auch seine Poesie nicht in der Schreibfeder, sondern im Griffel und Meißel. Jeder Trieb, der ein wirklicher, nicht nur eingebildeter ist wie vieles bilden sich auch die Menschen in dieser Beziehung ein! macht sich schon in diesem Leben Platz, aber der eine Trieb ist nur der Trieb zu einem Grashalm, der andere der Trieb zu einer Palme; jener findet daher Platz und zwar Platz in Überfluß in dem engen Raum einer müßigen Nebenstunde, dieser aber nur in dem geräumigen Atelier der Arbeitszeit. Jeder Trieb befriedigt sich, aber das Maß seiner Stärke und Tiefe ist auch das Maß seiner Befriedigung. Wenn daher ein christlicher Rationalist einem Michel Angelo auf Grund seiner hier nicht zur vollständigen Entfaltung gekommenen dichterischen Anlagen die Hoffnung auf ein poetisches Jenseits machte, so würde ihm dieser gewiß seine Gedichte als Bagatelle an den Kopf werfen und zu verstehen geben, daß er ihn mit der Unsterblichkeit verschonen möge, wenn er ihm auf Grund seiner Kunstwerke keine Unsterblichkeit verheißen könne. Ich verlange, würde er ihm sagen, die Unsterblichkeit auf Grund dessen, was ich im Schweiß meines Angesichts meinen Neidern und Feinden zum Trotz geleistet habe, nicht auf Grund dessen, was ich vielleicht hätte leisten können. In der Poesie hat schon Dante das Höchste geleistet; er hat mir die poetische Unsterblichkeit weggenommen; aber in der Malerei war noch kein Dante; dieser bin Ich. Was ich aber bin, das will ich auch bleiben, das erschöpft mein Wesen, das ist allein die Bürgschaft meiner Unsterblichkeit. Ne sutor ultra crepidam. Merk dir diesen Spruch, phantastischer Christ! auch in Beziehung auf dein Jenseits. Der Mensch ist der Schuster, und die Erde sein Leisten.
Wie mit dem Kunstsinn ist es mit dem Wissenstrieb. Abgesehen davon, daß es unzählige Menschen gibt, welche keinen Wissenstrieb haben, ob es gleich ihnen nicht an Gelegenheit und Mitteln zu dessen Erweckung gefehlt hat, welche die Befriedigung dieses Triebes sogar für eine blose Eitelkeit ansehen, es für Torheit halten, sich um dem Menschen so ferneliegende Gegenstände, als z.B. Sterne, Moose, Infusorien sind, zu bekümmern, so findet auch dieser Trieb seine volle Entwickelung, wo keine Unglücksfälle dazwischen kommen, die aber hier nicht in Betracht kommen, denn die Notwendigkeit des Jenseits soll ja auch das normalste, glücklichste Menschenleben nicht aufheben. Und gerade je reeller und universeller dieser Trieb ist, desto mehr findet er hier Nahrung und Befriedigung. Insgemein hat jedoch der Mensch nur eine vorherrschende Neigung für ein bestimmtes Gebiet des Wissens. Und dieser bestimmte Wissenstrieb saugt gewöhnlich den ganzen Wissenstrieb des Menschen in sich auf, so daß der Mensch nur die Gegenstände seines Wissens für das einzige Wissenswürdige hält daher die lächerliche Eitelkeit, Dünkelhaftigkeit und Borniertheit der gewöhnlichen Fachgelehrten. So hat der Philolog in seinem Glossarium, der Historiker in seiner Chronik, der Theolog in seiner heiligen Schrift, der Jurist, wenigstens der Romanist, in seinem Corpus Juris den Inbegriff aller Wissenswürdigkeiten. Der Theolog, wenigstens der echte, unverdorbene, begreift nicht, wie man, statt in der Bibel, den Aristoteles oder sonst einen Profanskribenten studieren, der Jurist nicht, wie man statt den Grillen des Rechts den Grillen der Natur Gehör schenken, der Literaturhistoriker nicht, wie man an einem Dichter oder Denker, der noch nicht aus einem lebensfrischen sinnlichen Wesen ein Objekt der toten historischen Gelehrsamkeit geworden, auch nur den geringsten Geschmack finden kann. Der letzte Punkt in seinem Buch ist das Punctum satis des menschlichen Geistes. So erstreckt sich der Wissens- und Wahrheitstrieb des Menschen nicht weiter, als sein Egoismus. Jeder interessiert sich nur für das, was seinesgleichen ist. Jeder verlangt nicht mehr zu wissen, als er überhaupt ist und verlangt zu sein; er verlangt nur das Wissen, das ihm entspricht, ihn bejaht, ihm wohltut. Die Grenze seines Wesens ist die Grenze seines Wissenstriebes. Plato liebt die Wahrheit, liebt die Philosophie; aber er liebt nur platonische Wahrheit, platonische Philosophie. Sein ist mehr als Wissen, Sein ist der Grund des Wissens; aber jeder ist sich unbewußt so wie er einmal ist, die Wahrheit. Jeder will und liebt im Gegenstand, im anderen sich selbst, denn er liebt das andere nur, wie es Ausdruck seines Wesens ist. Der Christ liebt die Tugend, aber er liebt nicht die heidnische, die sinnliche, manneskräftige Tugend; er liebt nur die christliche, die supranaturalistische, die phantastische, kurz die Tugend, die sein liebes, wohlgetroffenes Ebenbild ist. Jeder verwirft als der Vernunft, der Wahrheit widersprechend, was seinem Wesen, seiner Individualität, seiner Selbstliebe widerspricht; der allerdings große Unterschied ist nur, daß die Individualität des einen eine universelle, die des andern eine beschränkte ist. Jeder läßt nur soviel Licht in seinen Kopf hinein, als mit seinem Selbstgefühl und dem Frieden seines Herzens verträglich ist. Die Vernunft ist immer beim Menschen die gehorsamste Dienerin des Herzens; was er wünscht, das stellt er sich als seiend vor und demonstriert er, wenn er einmal zu räsonnieren anfängt, a priori aus der Vernunft als notwendig. Die Vernunftwahrheiten ändern sich nur, wenn sich die Wünsche, die Herzen, die Bedürfnisse der Menschen ändern. Das supranaturalistische, phantastische Herz hat supranaturalistische, das sinnliche, reelle Herz sinnliche Wahrheit. Daher anerkennen wir auch mit Freuden und ohne Bedenken die Göttlichkeit und Wahrheit der Sinne, wo sie uns etwas sagen, was uns schmeichelt, wohlgefällt, kurz unserer Selbstliebe entspricht; aber wo sie unseren Wünschen, kurz unserem Egoismus widersprechen, verwerfen wir ebenso unbedenklich ihre Gültigkeit und Autorität. So anerkennen wir mit Freuden das Dasein eines Menschen, wenn er geboren wurde, wir rechnen seine Existenz erst von dem Moment an, wo er Gegenstand der Sinne wurde; es fällt uns nicht im Traume ein wir müßten denn in den Platonismus verfallen, aus dem wir jedoch nun und nimmermehr ein liebes Manns- oder Weibsbild, sondern nur eine unsterbliche Seele herausbringen, die für alle gilt, und doch keinem gehört den zeitlichen, sinnlichen Anfang dieses Menschen nicht als seinen wirklichen, wahren Anfang anzunehmen. Aber das Ende des Menschen mit dem Tode leugnen wir, und doch ist, leider! dieses Ende eine ebenso gemeine, einfältige, sonnenklare, sinnfällige Wahrheit, als die Geburt des Menschen, hat es die nämlichen Beweise, die nämlichen Zeugen für sich, wie der Anfang. Hier entfalten sich vor unsern Sinnen die Wahrzeichen der menschlichen Existenz, dort verschwinden sie wieder vor unsern Sinnen. Aber eben dieselben Sinne, die wir bei der Geburt des Menschen als himmlische Wesen, als Götter, als Wahrsager preisen, verfluchen wir beim Tode als elende, destruktive Kommunisten und Lügner. So sind wir nur liberal, freisinnig, wahrheitliebend, wissensdurstig in indifferenten Dingen, oder in Dingen, die unserm Herzen, unserm Egoismus entsprechen; wo aber unser Interesse mit ins Spiel kommt, da machen wir eine Ausnahme von der Regel, da finden wir in unserer Vernunft eine Menge der schlagendsten Gegengründe, da unterbrechen wir gewaltsam die Kette, mit der eine Wahrheit mit andern unleugbaren Wahrheiten augenfällig zusammenhängt. Die bitterste, die schmerzlichste Wahrheit ist aber der Tod; wie sollten wir ihn also anerkennen?
Doch wieder zurück. Der Wissenstrieb ist immer nur beschränkt auf die Gattung, das Gebiet des Wissens, das eben den Neigungen, Interessen, dem Selbst- und Lebenstrieb, kurz der Individualität des Menschen entspricht. Was jenseits dieses Gebietes liegt, hat gar keine Existenz für ihn, ist also auch für ihn gar kein Gegenstand eines Triebes oder Wunsches. Wie lächerlich wäre es, wenn man einem Naturforscher, weil er über dem Studium der Natur das Studium der heiligen Theologie versäumte, die Notwendigkeit eines Jenseits vordemonstrieren wollte, um dort diese Lücke seines Wissens auszufüllen! Was der Mensch hier nicht treibt und weiß, davon will er auch im Jenseits nichts wissen. Wenn man daher ja auf Grund der Lücken des menschlichen Wissens ein Jenseits aufbauen wollte, so müßte man für jedes Fach des Wissens ein besonderes Jenseits etablieren; denn der Theolog verlangt vom Jenseits nur theologische Aufschlüsse, der Jurist nur juristische, etwa über den Fonkschen Prozeß oder sonst einen wichtigen Rechtsfall, über dem er sich hier vergeblich den Kopf zerbrochen hat, der Astronom nur astronomische, der Chemiker nur chemische. Auch hier, wie freilich überhaupt, bestätigt es sich wieder, daß der Sinn des Jenseits nur in das Diesseits fällt. Was der Mensch im Jenseits zu wissen verlangt, ist nicht etwas, was an sich nicht im Diesseits gewußt werden kann, sondern nur was er jetzt nicht weiß. Er will nur die Grenzen, die Schwierigkeiten, die ihm auf seinem Gebiete aufgestoßen sind, beseitigt wissen. Der Mensch hat nichts weniger, als einen supranaturalistischen Wissenstrieb, wie ihm das Christentum oder der Platonismus andichtet, keinen Trieb, der das Maß der menschlichen Natur, welches freilich kein mit dem Zirkel eines philosophischen Systems ausmeßbares, endliches ist, überschreitet; sein Wissenstrieb erstreckt sich nur auf vom Menschen wißbare, also menschliche Gegenstände, auf Gegenstände, die im Laufe der Geschichte ihre Erledigung finden; er empfindet nur solche Mängel und Lücken seines Wissens und gerade die am schmerzlichsten welche das Dasein und die Notwendigkeit eines irdischen, aber nicht himmlischen Jenseits beweisen; denn er will nur die Schranken seines Wissens beseitigt wissen, welche die kommenden, sein Thema fortsetzenden Geschlechter wirklich beseitigen. So übersieht der törichte Christ über dem Himmel im Jenseits den Himmel auf Erden, den Himmel der geschichtlichen Zukunft, in der alle Zweifel, Dunkelheiten und Schwierigkeiten, die die kurzsichtige Gegenwart und Vergangenheit quälten, sich in Licht auflösen. O hättest du, ruft Galilei dem Copernikus nach, die neuen Ergänzungen und Bewährungen deines Systems erleben können, welche Wonne würdest du aus ihnen geschöpft haben! So spricht der wahre jenseitige Mensch, der Mensch der Zukunft zum Menschen der Vergangenheit. Was die Menschheit in der Jugend der Vergangenheit wünscht, das hat sie in Fülle im Alter der Zukunft. Copernikus soll es noch auf seinem Sterbebette betrauert haben, daß er in seinem ganzen Leben den Merkur auch nicht ein einziges Mal gesehen hatte, so sehr er sich auch darum bemühte. Jetzt sehen ihn die Astronomen mit ihren trefflichen Teleskopen am hellen Mittag. So heilt die Zukunft die Leiden des unbefriedigten Wissenstriebes der Vergangenheit. Alle Fragen, die keine läppischen, törichten sind, dergleichen es freilich unzählige gibt, alle Fragen, deren Lösung Sinn, Wert und Bedeutung für die Menschheit hat, finden im Laufe der Geschichte ihre Lösung; freilich oft in einem ganz anderen Sinne als die Vergangenheit es wünschte und meinte. So sind eine Menge Fragen, die sonst für die höchsten Mysterien der Menschheit galten, deren Lösung unsere Vorfahren nur vom himmlischen Jenseits ermatteten, wie die Fragen von der wunderbaren Vereinigung der Gottheit mit der Menschheit in Christo, des Leibes mit der Seele im Menschen, der göttlichen Prädestination oder Vorsehung mit der menschlichen Freiheit für uns, d. h. für diejenigen, welche nicht jetzt noch mit ihrem Geiste auf dem Standpunkt der Zeiten stehen, wo diese Fragen die höchsten Interessen der Menschheit waren, welche die Fortschritte der Philosophie und Naturwissenschaft sich angeeignet haben, längst gelöst, d. h. verschwunden, weil die Vordersätze oder Gegenstände dieser Fragen sich als willkürliche Abstraktionen oder Phantasmen erwiesen haben. Nur dann daher, wenn die Menschheit nicht sich veränderte und vervollkommnete, wenn sie stets auf demselben Punkte, stets auf den ersten unvollkommnen Anfängen der Künste und Wissenschaften stehen bliebe, nur dann wäre die Forderung eines übermenschlichen, überirdischen Jenseits gerechtfertigt. Freilich genügt dieses Jenseits nicht dem ungenügsamen Christen, der seine überschwänglichen supranaturalistischen Wünsche zu Gesetzen der Wirklichkeit, zu Schöpfern künftiger Welten macht. Der Christ will Gott sein; er erklärt ja ausdrücklich die Gottheit als sein Vor- und Urbild; er will unter anderen Eigenschaften der Gottheit daher auch die der Allwissenheit haben; er selbst will alles wissen; daß andere Menschen wissen, was er nicht weiß, daß die Zukunft immer die unaufgelösten Probleme der Gegenwart löst, das kümmert ihn nicht. Diesem überschwänglichen, ungebührlichen Wunsche des Christen, allwissend, Gott überhaupt zu sein, dieser seiner eingebildeten Gottheit widerspricht nun aber die Wirklichkeit, die Menschheit. Er fordert und glaubt daher ein Jenseits, wo diese seine eingebildete Gottheit zur Wirklichkeit wird.
So beweisen uns selbst noch die modernen Christen, daß die Mysterien des christlichen Glaubens nur in dem unglaublichsten, unbegrenztesten, übernatürlichsten Dünkel und Egoismus des Menschen ( scilicet christlichen Menschen) ihren Grund haben. Sie beweisen uns zugleich, daß die Interessen der Kunst und Wissenschaft, auf die sie die Notwendigkeit eines überirdischen Jenseits gründen, nur ein freilich unbewußter Vorwand ihrer Selbstliebe sind. Denn wer wirklich sich für Kunst und Wissenschaft interessiert, der appelliert mit seinen Wünschen an die Nachwelt, der ist eben im Interesse der Kunst oder Wissenschaft vollkommen zufrieden, wenn nur überhaupt ein für jetzt unauflösliches Problem gelöst wird, sollte ihm auch nicht mehr das Glück zuteil werden, ihre Lösung selbst zu erleben. Wer sich einmal auf den Standpunkt von Kunst und Wissenschaft erhebt, ihre Interessen verficht, der muß auch für seine Person auf Allwissenheit und Allmacht verzichten, ja er hat schon unbewußt im voraus darauf verzichtet; denn Künste und Wissenschaften gedeihen nur in der Zusammenwirkung der Menschen; sie sind nicht ein Privateigentum; sie sind ein Gemeingut der Menschheit; sie sind die Stätten, wo der verschriene Kommunismus bereits eine Wahrheit ist. Auch ist diese Resignation keine unnatürliche und schmerzhafte, denn der Mensch wendet sich ja mit vorherrschender Neigung einem bestimmten Gebiete der Künste oder Wissenschaften zu, und ist daher vollkommen befriedigt, wenn er nur in einer Wissenschaft, einer Kunst etwas Tüchtiges weiß und leistet; er ist es um so mehr, als alle Künste und Wissenschaften mit einander Zusammenhängen, jeder spezielle Teil daher gewissermaßen das Ganze abspiegelt, jedes spezielle Wissen daher, wenn auch nicht der Ausdehnung, doch der Kraft nach universelles Wissen ist.
Der Rationalist verspricht übrigens als ein weltlicher Christ, welcher der Gottheit die Natur, dem Jenseits das Diesseits, dem Supranaturalismus den Naturalismus unterschiebt, dem Menschen nach dem Tode oder im Jenseits nicht, wie wir bereits sahen, eine mit einem Mal fertige, sondern sukzessive, keine ewige, sondern zeitliche, keine seiende, sondern werdende Gottheit. Er nähert sich immer mehr Gott an, d. h. eben er wird immer mehr Gott, aber er kommt nie zum wirklichen Gottsein; es bleibt beim Werden. Der Rationalismus schwebt zwischen Himmel und Erde, zwischen Christentum und Menschentum; er verneint das Christentum, indem er es bekennt, bejaht. Der Mensch ist ihm zugleich ein himmlisches, supranaturalistisches, göttliches, phantastisches Wesen, denn er ist Christ, aber auch zugleich ein irdisches, menschliches, zeitliches Wesen, denn er ist ebensoviel Nichtchrist, als Christ. Der sinnfällige, gegenständliche Ausdruck dieses Widerspruchs ist sein Jenseits, wo er Gott ist, aber auf nicht göttliche, sondern auf menschliche Weise, ewig, aber auf zeitliche, unendlich, aber auf endliche, vollkommen, aber auf unvollkommene Weise. Er dichtet daher dem Menschen eine unendliche, eine unerschöpfliche, eine nie zu befriedigende, nie zu realisierende Vervollkommnungsfähigkeit an-eine Fähigkeit, die daher notwendig auch ein unendliches, ein nie ans Ziel kommendes, ein von Jahrtausenden zu Jahrtausenden, von Ewigkeit zu Ewigkeit fortgehendes Leben erfordert. Aber nirgends zeigt sich die Phantastik des Jenseitsglaubens und seine Unkenntnis der wirklichen Menschennatur mehr, als eben gerade darin, daß er an dieselben alten Individuen die Fortschritte der Zukunft anknüpft. Neue Tugenden, neue Einsichten, neue Geister entstehen nur, weil immer neue Körper, neue Menschen entstehen. Fortschritte macht die Menschheit in dem Diesseits nur deswegen, weil an die Stelle der alten unverbesserlichen Stockgelehrten und Stockphilister überhaupt neue, frische, bessere Wesen treten, denn die Jugend ist immer besser, als das Alter, wie die Kronprinzen immer, solange sie wenigstens Kronprinzen sind, besser als ihre königlichen Väter, weil die Jungen die Fehler der Alten bemerken und daher das Gegenteil von ihnen tun und sind, bis sie selbst wieder in die Fehler des Alters fallen. Die Alten, gleichgültig, ob sie leiblich oder geistig auf dem Standpunkt des Alters stehen, sträuben sich immer aus allen Leibeskräften gegen neue Erkenntnisse, verwerfen sie als unpraktisch, unwahr, nichtig, eitel, und betrachten ihre Verkünder, die Neuerer, wenn sie gleich im Vergleich zu den alten Sündern und Heuchlern wahre Heroen, ja Götter sind, als unsittliche, frivole, verderbliche Menschen. So hat es die Menschheit zu allen Zeiten gemacht, wo Neues, Besseres ans Licht kam, so macht sie es ja in diesem Augenblick wieder. Das Alte ist immer das Gute, das Rechte, das Wahre, das Heilige, das Praktische, das Heilsame; das Neue ist das direkte Gegenteil. Mit denselben Worten sogar, mit welchen heute die alten protestantischen Philister, seien sie nun Alte an Geist oder Leib, alle die, welche jetzt neues, besseres Leben, Wissen und Wollen der Menschheit anstreben, lästern und verdammen, mit denselben Worten lästerten und verdammten einst die Katholiken die Lutheraner und Protestanten überhaupt, einst die Heiden die Christen. Der Mensch hat so wenig einen unbegrenzten Vervollkommnungstrieb, daß ihm vielmehr, wie der Materie überhaupt, ein ganz entgegengesetzter Trieb, der Beharrlichkeitstrieb, die Vis inertiae einwohnt, wie vor allen Dingen die Religion beweist, die nichts anderes ist, als die beharrliche Festhaltung von Meinungen und Vorstellungen, die zur einer bestimmten Zeit das Maß des menschlichen Denkens und Wesens überhaupt erschöpften, das Höchste ausdrückten, was er sich denken und vorstellen konnte, aber als maßgebend, bindend und bestimmend für alle Zeiten von Geschlecht zu Geschlecht »wie eine ewige Krankheit« sich fortgeerbt haben. Er hat so wenig einen unendlichen Wissens- oder Vervollkommnungstrieb überhaupt, daß er vielmehr die Grenzen des Wissens, das er zu einer bestimmten Zeit hat, sei's nun bewußt oder unbewußt, für die Grenzen der menschlichen Natur, also für keine Grenzen, sondern für die einzig möglichen, richtigen, wahren Bestimmungen hält, folglich das, was er jetzt denkt, weiß, glaubt und tut, für das Höchste hält, was der Mensch überhaupt denken, wissen, glauben und tun kann, daß er daher, statt einen Trieb zu fühlen, diese Schranken aufgehoben zu wissen, sie zu Gesetzen macht, sie verewigt und vergöttert. Jede Zeit preist darum ihre Dichter, ihre Künstler, ihre Philosophen, ihre Helden als unsterblich, wenn sie gleich in der nächsten Zeit schon vielleicht nicht mehr auch nur dem Namen nach existieren. Jede Zeit löst die selbst ihr unauflöslichen Probleme auf ihre Weise, auf die Weise, die für sie die wahre ist, denn jede andere Lösung, wenn sie gleich die richtige ist, hätte für sie keinen Sinn, weil sie nicht in den Zusammenhang ihrer übrigen Vorstellungsweise, nicht in ihr System paßte Dies gilt auch von dem oben angeführten Beispiele. Die Vereinigung der Seele und des Leibes, der Gottheit und Menschheit erklärte man sich auf wunderbare Weise, d. h. eben auf die Weise, die auf diesem Standpunkt die einzig mögliche und richtige war.. Jede Zeit hat so viel Wissenschaft und Wahrheit, als sie deren bedarf und verlangt. Was ihr nicht recht bekannt ist, das macht sie sich auf die ihr gemäße Weise bekannt, und was ihr völlig unbekannt ist, darnach hat sie begreiflicherweise kein Verlangen. Die Grenze des Wissens ist auch die Grenze des Wissenstriebes. Wer nicht weiß, daß der Mond größer ist, als er aussieht, verlangt auch nicht zu wissen, wie groß er ist. Wer nicht weiß, daß außer seinem Lande noch andere Länder sind, hat keinen Trieb zur Länderkunde. Der Trieb überschreitet nicht das Maß des Vermögens zur Befriedigung desselben. Der Trieb ist ja eine Kraftäußerung, folglich nicht stärker, als die Kraft der Befriedigung. Ich bin nicht mehr getrieben zu tun, als ich zu tun im Vermögen habe, wenn anders mein Trieb nicht ein vorgespielter, eingebildeter, sondern ein wirklicher Trieb meiner Natur ist. Als der Grieche mit seinen Händen noch nicht den olympischen Zeus bilden konnte, da hatte er auch noch nicht in seinem Kopfe das Ideal des Phidias, und in seinem Herzen nicht das Bedürfnis eines solchen Kunstwerkes. Jede Zeit, jeder Mensch, der nicht das Unglück hat, durch einen gewaltsamen Tod in seiner Laufbahn unterbrochen zu werden, erreicht daher auch, wenn auch nicht in seiner Einbildung denn zwischen Denken und Sein, Vorstellung und Wirklichkeit ist ein ewiger, untilgbarer Unterschied oder Widerspruch , doch in Wahrheit sein Ideal; denn was ist das Ideal? Es ist mein wesentlicher Naturtrieb, mein wesentliches Vermögen als Gegenstand der Vorstellung, des Bewußtseins, folglich als Zweck meines Lebens, als Ziel meines bewußten Strebens. Wie die Kraft, so das Ideal. Wo die Menschheit keine anderen Gedichte machen kann, als Gottschedsche, da gilt ihr auch Gottsched für das Ideal eines Dichters. Die Theisten erblicken in solchen Erscheinungen, wie diese, daß die Vorstellungen der Menschen nicht ihre Bedürfnisse überschreiten, Beweise einer besonderen göttlichen Weisheit und Vorsehung; aber wie die Erscheinungen in der Natur, welche am meisten die Theisten als Beweise einer unendlichen Weisheit bewundern, wie z. B. die verschiedenen Arten der tierischen Selbsterhaltung und Fortpflanzung nur Beweise von der Unwissenheit, Beschränktheit und Bedingtheit der Natur sind, so ist auch jene geschichtliche Erscheinung nur ein Beweis von dem richtigen Takt der menschlichen Beschränktheit und Selbstliebe.
Woher kommt es denn aber, daß die Menschen auf der Beharrlichkeit und Ewigkeit ihrer wissenschaftlichen und religiösen Systeme, Begriffe, Vorstellungen, Meinungen und Einrichtungen mit solcher Hartnäckigkeit bestehen? Daher, daß wie wir schon oben sahen, mit der, übrigens nur scheinbaren, Ausnahme solcher Menschen, die sich besonders durch ihren Kopf auszeichnen, in denen die Kopftätigkeit die alle anderen Tätigkeiten überwiegende ist, daher der Glückseligkeitstrieb mit dem Wissenstrieb in eins zusammenfällt der Wissenstrieb an dem Glückseligkeits-, Lebens-, Selbstbehauptungstrieb, oder wie man diesen Trieb nennen will, seine Grenze, sein Maß hat; der Wissenstrieb, der Geist, die Vernunft überhaupt nichts Selbständiges, nichts vom Menschen Unterschiedenes ist. Ich, dieser Mensch ist es ja, der denkt, weiß, glaubt. Was ich bin, das denke ich daher unwillkürlich als wahr; und wie ich überhaupt bin, so denke ich. Der Typus meiner Individualität ist auch der Typus meiner Vernunft. Mein Denken, Wissen, Erkennen ist eines mit mir. Wir stimmen in der Vernunft nicht mehr überein, als im Menschen. Wir sind alle Menschen, aber jeder ist ein anderer Mensch. Alle unterschiedslosen Übereinstimmungen der Menschen in Glaubenssachen sind nur gewaltsam erzwungene oder erheuchelte. Wir können uns wohl die Gedanken anderer aneignen, die im besonderen von den unseren abweichen; aber solche, die dem Wesen, der Gattung nach uns widersprechen, sind uns unassimilierbare Gifte. Daher sind wahre Freunde auch nur die, die auch in der Gattung wenigstens des theoretischen Denkens mit einander übereinstimmen; wo, versteht sich nicht in indifferenten oder partikulären Dingen, theoretische Differenzen obwalten, da werden sich bald auch noch ganz andere Differenzen herausstellen; denn die theoretische Differenz ist nur Ausdruck einer Differenz des Seins, des Charakters, der Persönlichkeit. Daher geht auch der Haß gegen das theoretische Wesen eines Menschen in persönlichen Haß über, die Liebe, die Zuneigung zu den Lehren eines Menschen dagegen in persönliche Zuneigung, oder setzt sie schon voraus. Einem Theologen daher zumuten, er sollte seine supranaturalistischen Vorstellungen für Träume erkennen, das heißt in seinem Sinne ihm zumuten, er soll aus einem Engel ein Teufel werden. Einem reinen Büchergelehrten, der nie von seinen Augen einen anderen theoretischen Gebrauch gemacht hat, als daß er mit ihnen Bücher las eine Tätigkeit, wobei das Sehen nur ein untergeordnetes und unwesentliches Mittel ist, denn das geschriebene kann ich ja auch durch das Ohr vernehmen zumuten, er solle die Sinne als Lehrmeister und Urheber der Wissenschaft anerkennen, ist ebensoviel, als wollte man einen Blinden zum Sehen auffordern. Einem Menschen überhaupt zumuten, er solle seine, natürlich wesentlichen, in seiner Denkart begründeten Meinungen, Begriffe und Glaubensvorstellungen aufgeben, das heißt ihm zumuten, er soll sein Wesen, er soll sich selbst aufgeben. Und wer wird das tun? Nirgends zeigt sich daher die Arroganz und Dünkelhaftigkeit der gewöhnlichen Gelehrten mehr, als in ihren Kritiken und Widerlegungen von Werken, die den alten, herkömmlichen, geheiligten Begriffen, Vorstellungen und Meinungen widersprechen. Sie bilden sich ein, sie könnten sich auf einen Augenblick wenigstens in den Standpunkt des Verfassers hineindenken, d. h. sie stehen in dieser, freilich auch noch anderer Beziehung auf dem Standpunkt der Kamtschadalen und anderer rohen Völker, welche glauben, daß die Seele aus dem Leibe herausspazieren und in andere Leiber übergehen könne. Allein so wenig sich die Seele der Gans in den Leib des Adlers, so wenig kann sich eine befangene theologische Seele in das Wesen eines freien Menschen und Denkers hineinversetzen. Der Neuerer, die geistige Jugend versteht wohl das Alter, aber das Alter versteht nicht die Jugend, wie selbst im häuslichen Leben die Eltern tagtäglich zum Verderben ihrer Kinder, im politischen Leben die altklugen Regierungen zum Unheil ihrer jugendlich strebenden Völker beweisen. Die Regierungen unterdrücken mit Gewalt alle in ihrer Meinung den Menschen oder Völkern verderblichen Lehren. Aber es ist nichts törichter und roher, als den Menschen darüber zu bevormunden, was er glauben und denken soll; den Menschen da vertreten zu wollen, wo jeder sich selbst am besten vertritt; da ihn mit afterkluger, scheinbar väterlicher, in Wahrheit despotischer Besorgtheit zu beschützen, wo jeder an dem Instinkt seiner Selbstliebe seinen Schutzgeist hat. Wem der Glaube oder die Lehre, daß die Gottheit, oder, was eins ist, die Unsterblichkeit des Menschen ein Traum ist, wirklich verderblich ist, der verwirft diese Lehre, auch ohne daß ihn die christliche Geistlichkeit oder Polizei unterstützt. Was dem Wohl des Menschen widerspricht, widerspricht seinem Wesen. Was aber meinem Wesen widerspricht, das stoße ich von mir ab. Allmächtig ist der Selbsterhaltungstrieb. Wohl kann eine neue Wahrheit oder Lehre anfänglich störende, verderbliche Wirkungen äußern, weil mit den alten Vorstellungen auch immer dem Menschen alle Grundlagen seiner Existenz zu schwinden scheinen, aber diese Wunden heilen von selbst mit der Zeit. Die erst bittere Wahrheit wird später zur trauten Herzensfreundin. Allerdings kann man auch Individuen und ganzen Völkern ihrem Wesen widersprechende Vorstellungen und Lehren aufdrängen; aber wo das geschieht, da wird ihnen auch fremdes Wesen aufgedrungen, ihr eigenes gewaltsam unterdrückt. Den Völkern, denen man das alle Menschen über einen Leisten schlagende Christentum aufgedrungen, hat man immer zugleich mit dem Joch des christlichen Glaubens auch den christlichen Despotismus oder doch den christlichen Branntwein aufgedrungen.
Es ist daher immer nur die neue Generation, die Jugend, welche eine Besserungs- und Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen beweist, und zwar aus dem einfachen, ganz natürlichen Grunde, weil die Jugend noch offen, unbestimmt, ungebunden ist, also kein persönliches, egoistisches Interesse hat, sich gegen eine neue Wahrheit zu stemmen, wie die Alten, welche aus Selbstsucht, Eitelkeit, Vorurteil, Gewohnheit, Amtspflicht, Altklugheit geschworene Feinde aller gründlichen Neuerungen sind. Wenn wir darum in Gedanken von den wirklichen Menschen den Allgemeinbegriff des Menschen abziehen und die entgegengesetzten Eigenschaften, welche die Menschen in der Wirklichkeit zeigen, in diesen Allgemeinbegriff zusammenfassen, so bekommen wir den Satz: der Mensch ist ebensowohl ein stabiles, allen Fortschritten feindliches, immobiles, als ein progressives, neuerungslustiges, bewegliches Wesen. Allein die Bereinigung solcher sich widersprechender Eigenschaften, wie der Stabilität oder Ewigkeit und Perfektibilität, in einem und demselben Subjekt oder Wesen ist nur in der mirakulösen Dialektik des christlichen Rationalismus möglich und gültig. In der Wirklichkeit und der auf die Anschauung derselben gegründeten Vernunft löst sich dieser Widerspruch dadurch, daß diese entgegengesetzten Eigenschaften auch in entgegengesetzte Wesen fallen die Eigenschaft der Dieselbigkeit, Beharrlichkeit und Beständigkeit sowohl im Diesseits als Jenseits in die alten Menschen, die Unbeständigkeit, Besserungs- und Vervollkommnungstätigkeit aber in die neuen, jungen Menschen. Die Perfektibilität des Menschen spricht daher so wenig für ein Jenseits, d. h. für eine Fortdauer, daß vielmehr nur der Tod, der Untergang der alten verstockten Sünder und Philister die Bedingung des Fortschritts ist, nur auf das Nichtmehrsein der Alten, des Semper Idem, die Hoffnung eines besseren, neueren Seins sich gründet. Glauben, daß man immer dieselbe Person, dasselbe Wesen bleiben und doch unendliche, also wesentliche Fortschritte machen könne, ist purer Mirakelglaube. Der Mensch auf einer höheren, wesentlich vollkommeneren Stufe ist notwendig auch ein wesentlich anderer Mensch, als der auf einer niederen Stufe.
Wie töricht wäre es, wenn man einen Griechen aus dem Zeitalter der ersten rohen Hermen in das Zeitalter eines Phidias und Sophokles versetzte, um ihm aus christlicher Perfektibilitätsliebhaberei den Genuß der Anschauung vollkommener Kunstschönheit zu verschaffen! Der alte Grieche, auf diesen Standpunkt versetzt, würde entweder sich nicht mehr als sich selbst oder die Kunstwerke eines Phidias nicht als das, was sie sind, erkennen; denn er hätte keinen Sinn für sie. Sein Kunstsinn und Kunsttrieb ging nicht weiter, als die Kunstwerke seiner Zeit; ihre Rohheit war der befriedigende Ausdruck seiner eigenen Rohheit. Ich kann ihm nicht seinen unvollkommenen, rohen Kunstsinn nehmen, ohne ihm sein Wesen und Selbstbewußtsein zu nehmen. Der diesseitige, unkultivierte und der jenseitige, verfeinerte, vergeistigte, vervollkommnete Grieche sind, obwohl beide Griechen, doch so total andere Wesen, daß man diesen Widerspruch nur vermittelst verschiedener Zeiten und Generationen erklären, diese Gegensätze also nicht durch die Wundertätigkeit der christlichen Dialektik in einander vermischen oder vereinen kann, ohne daß das Resultat nichts, d. h. ein phantastischer Unsinn ist.
Denken wir uns, um ein anderes uns näher liegendes Beispiel zu geben, einen alten heidnischen Germanen und dagegen einen modernen christlichen Deutschen. Welch ein Abstand! Wer kann sich einbilden, daß derselbe Germane, der nur im Kriegsgeschrei und Waffengeklirre die Stimme der Gottheit vernimmt, sich an den süßen Flöten- oder »Glockentönen« eines königlich preußischen Dompfaffen delektieren könne, ohne mit dieser Geschmacksverfeinerung sein ganzes, selbst leibliches Wesen einzubüßen? Ich sage selbst leibliches Wesen. Denn kann dieselbe Hand, die ein altdeutsches Schwert führte, ein musikalisches oder chirurgisches oder physikalisches Instrument oder gar die diplomatische, intrigante Feder eines christlich-germanischen Heuchlers und Denunzianten führen? Kann derselbe Magen den biederen altdeutschen Gerstensaft und den chinesischen Tee eines »gebildeten« christlich-germanischen Abendzirkels vertragen? Unmöglich; so wenig du aus Gerstensaft Tee machen kannst, so wenig kannst du einen alten Deutschen zu einem Neudeutschen promovieren, ohne daß du zu verschiedenen Zeiten und Personen deine Zuflucht nimmst. Wenn daher im Jenseits sich der Mensch vervollkommnet, so ist diese Vervollkommnung entweder eine wesentliche, radikale, oder eine unwesentliche, oberflächliche. Ist sie jenes, so hebt sie die Einheit meines Wesens und Selbstbewußtseins auf; ich werde ein ganz anderes, von mir unterschiedenes Wesen so unterschieden, als es der künftige Mensch ist, der nach meinem Tode mein Thema fortsetzt und vollendet; ist sie aber das letztere, bleibe ich derselbe, so bleibt auch der wesentliche charakteristische Grad meiner Stufe und Vollkommenheit derselbe, so erhalte ich höchstens nur quantitativen Zuwachs und Zusatz, aber dann ist eben auch das Jenseits selbst nur ein müßiger, überflüssiger, nichtsnutziger Zustand.
Allerdings hat der Mensch, selbst der stabile, unter dem Vorwand ewiger Fortschritte auf seiner Ewigkeit und Beharrlichkeit bestehende Mensch einen Vervollkommnungstrieb; aber dieser Trieb darf nicht vom Menschen abgezogen, verselbständigt und nun bis in die Unendlichkeit der theologischen Phantastik hinein gesteigert werden. Der Vervollkommnungstrieb des Menschen ist ein untergeordneter, ein sit venia verbo! akzidenzieller, nicht substanzieller Trieb. Der Grundtrieb des Menschen ist der Selbsterhaltungs-, Selbstbehauptungstrieb, also der Trieb der Beharrlichkeit. Die Wünsche des Menschen, wenigstens die gegründeten, die nicht aus der Luft gegriffenen, erstrecken sich nicht über die Grenze dessen, was er seiner wesentlichen, charakteristischen Bestimmtheit nach ist. Die Wünsche des Bauern gehen nicht über den Bauernstand, die des Gelehrten als solchen nicht über den Gelehrtenstand, die des Philosophen als solchen nicht über die Philosophie hinaus. Diogenes will kein Alexander, Napoleon kein Raphael, Napoleon will nur immer mehr Napoleon, Diogenes immer mehr Diogenes, der Gelehrte immer mehr Gelehrter, der Bauer versteht sich, der gerne, mit Neigung Bauer ist kein großer Gelehrter oder Staatsmann, sondern nur ein großer Bauer werden. Der Eskimo sehnt sich selbst in London nach seinem Seehundfleisch; seine Wünsche übersteigen nicht die Grenzen seines Gebietes; er will nur sein und haben, was der Eskimo überhaupt haben und sein kann. So will der Mensch überhaupt nichts anderes sein und haben, als er bereits ist und hat, aber in einem höheren Grade, vermehrt, gesteigert Wie stimmt aber dieser Satz mit den Wünschen unserer Proletarier, die nichts sind und haben? Ei! die Proletarier haben bereits sehr viel, denn sie haben menschliches Selbstgefühl, menschlichen Bildungstrieb, menschliche Arbeitslust. Sie wollen nicht, wie man ihnen böswilligerweise aufbürdet, vornehme Tagediebe, Müßiggänger und Schlemmer werden; sie wollen sich nicht im Burgunder und Champagner besaufen und an Austern und Gänseleberpasteten krank essen; sie wollen nur den Spottpreis der Arbeit steigern, den wahren Wert der Arbeit, folglich den Arbeiter als das, als was er sich bereits fühlt und weiß, nicht als Mittel, sondern als Selbstzweck, als selbstberechtigtes Wesen anerkannt wissen und geltend machen.. Der Vervollkommnungstrieb ist nur der Beharrlichkeits- und Selbsterhaltungstrieb im Komparativ und Superlativ; er ist ein quantitativer und eben deswegen ein durch die Qualität, die Ortbestimmtheit meines Wesens beschränkter Trieb. Die Bestimmtheit, das Maß meiner Fähigkeiten, Anlagen und Talente ist auch das Maß, die Bestimmtheit und Grenze meiner Vervollkommnungsfähigkeit. Ich bleibe daher meinem wesentlichen Charakter nach immer auf demselben Punkte stehen; denn ich kann mich nur soweit vervollkommnen, als ich mich überhaupt im Laufe der Zeit verändern kann, ohne aufzuhören, derselbe zu sein. In den ersten Anfängen der Kulturgeschichte eines Individuums ist darum schon der Charakter angedeutet, den es auf dem Höhenpunkt seiner Entwickelung darstellt; denn, wie es eine Blütezeit des Leibes, d. h. des Blutlebens, der plastischen, vegetativen Tätigkeit gibt, so gibt es auch eine Blütezeit des Geistes, d. h. des Nerven-, insbesondere Hirnlebens. Und wir sind nur solange in der Vervollkommnung begriffen, solange wir nicht diesen Höhepunkt, diese Blütezeit erreicht, d. h. für unser Talent, unser Wesen noch nicht den klassischen, den entsprechenden Ausdruck gefunden haben. Wir machen zwar immerfort Fortschritte; wir machen sie solange, als sich ein Tag an den anderen reiht; aber es sind nur quantitative. Wir bilden uns zwar ein, so oft wir ein neues Werk schaffen, etwas wesentlich neues zu bringen; aber so wie das Werk nur einige Zeit fertig vor uns dasteht, so erwachen wir aus dieser Täuschung und erkennen die Verwandtschaft, die Wesenseinheit desselben mit den vorangegangenen. Wie die Naturforscher eine Freude daran haben, die geringsten Unterschiede zu neuen Arten und Gattungen zu machen, um mit dem Namen einer neuen Pflanze, eines neuen Tieres oder Steines sich selbst einen Namen zu machen; so lieben wir alle es, die quantitativen Zuschüsse, die wir eigentlich nur der Güte der Zeit verdanken, auf Rechnung unserer Virtuosität zu setzen, und die sich im Laufe des Lebens bildenden Varietäten unseres Wesens als neue Arten und Gattungen aufzustellen. Allein die Art, Gattung, Form, der Typus, der Charakter (oder wie man es sonst nennen will) unseres sowohl moralischen, als intellektuellen Wesens ändert sich nicht. Aus einem schlechten Dichter wird ebensowenig ein guter, vollkommener Dichter, aus einem verschrobenen, abergläubischen Kopf ebensowenig ein richtig und helldenkender Kopf, aus einem tückischen, neidischen, kriechenden Charakter ebensowenig ein nobler Charakter, als aus einem Nachtschatten eine Lilie, aus einem Esel ein Roß wird. Alle Fortschritte, die ich mache, bleiben sich ja der Art, dem Wesen nach immer gleich, denn sie tragen ja immer meine Farbe so gut, als die Fortschritte der Gans, soviel sie auch deren macht, immer Gänseschritte sind und bleiben, die Jahrringe der Eiche, so viele sie auch in ihrem rastlosen Ausdehnungstrieb ansetzt, immer Eichenholz. Die moralischen Wunderkuren des Christentums gehören ebenso, wie seine Totenerweckungen und physischen Wunderkuren, ins Reich der Fabeln, oder wenn ihnen ja hie und da etwas Geschichtliches zugrunde liegt, in das Gebiet der absichtlichen oder unwillkürlichen Entstellungen, Übertreibungen und Renommistereien, die sich jede Religion zur Betörung des gläubigen Pöbels erlaubt. Allerdings wirkt alles Neue anfänglich erschütternd, umwälzend; aber bald stellen sich wieder, höchstens nur in anderer Weise, die alten Eigenschaften, Neigungen und Fehler ein, gleichwie die Heiden, wenn sie zu dem christlichen Gott bekehrt werden, in allen entscheidenden Fällen immer wieder zu den alten Göttern zurückkehren, die Bastarde immer wieder nach einigen Generationen in die Urformen zurückschlagen. So kehrt denn auch der Christ trotz dem Eide der Treue, den er in der Taufe dem neuen Adam schwört, immer wieder zum alten Adam zurück. Alte Liebe rostet nicht, heißt es auch hier.
Allerdings gibt es auch wirklich Revolutionen und Umwandlungen des Menschen; aber sie sind nichts weniger, als Mirakel. Die Umkehrung des Paulus wiederholt sich noch täglich. Ich heirate nie, ich liebe die Freiheit, ich hasse die Weiber oder Männer, sagt die oder der, aber siehe! Monsieur oder Mademoiselle darf nur den rechten Gegenstand finden, und das Gelübde der ewigen Keuschheit und Freiheit ist gebrochen. Ich hasse die Philosophie, die Zerstörerin des Glaubens, sagt dieser; aber siehe! er braucht nur an das rechte Buch oder den rechten Mann zu kommen, und er wird aus einem leidenschaftlichen Feind ein ebenso leidenschaftlicher Freund der Philosophie. So kommt jeder Mensch mehr oder weniger in seinem Leben an den Punkt, wo er den Eid ewiger Treue, den er irgend einem Götzen geschworen, bricht, weil er ihn als einen unbewußten falschen Eid erkennt. Aber mit dieser Umwälzung ist der Mensch nicht ein anderer, ist er vielmehr jetzt erst er selbst geworden, ist er nur aus einem Traum zum Bewußtsein seines Talentes, Berufes und Wesens erwacht. Aber dieser Akt des Selbstbewußtwerdens ist nun auch der wichtigste, der für alle Zukunft entscheidende, der das Leben quantitativ abschließende Akt, so viele mich selbst überraschende Stufen und Phasen ich auch noch innerhalb der Gattung, der Sphäre, die ich als mein Element erkenne, durchmachen mag.
Unsere Vervollkommnung besteht in nichts anderem, als in der Entwickelung, und die Entwickelung in nichts anderem, als in der Verdeutlichung und Verklärung dessen, was wir sind. Der Sinn unseres Wesens bleibt immer derselbe; es ändern sich nur die Worte; wir sagen immer dasselbe, wir sagen es nur immer deutlicher; alle unsere Fortschritte, alle Werke, alle Worte, in denen wir uns aussprechen, sind nur Synonyme. Unser Wesen tritt immer, solange wie wir wenigstens im Wachstum begriffen sind, entschiedener, klarer, bestimmter hervor; wir reinigen es, durch die Erfahrung gewitzigt, von seinen Fehlern und Auswüchsen, wir werden kritisch, verlieren aber, leider! nur zu oft mit den Fehlern auch die Tugenden unserer Jugend. Der Vervollkommnungstrieb ist daher allerdings auch zugleich ein kritischer Trieb, der eben deswegen kein produktiver ist, kein Trieb, mit dem wir das Christkindchen des himmlischen Jenseits zeugen könnten; denn diese Kritik erstreckt sich nur auf unsere plumpen, augenfälligen und eben deswegen störenden Fehler, denn jeder fühlbare Fehler ist eine Inkommodität, eine Beschränkung unseres Selbstgefühls, widerspricht also unserer Selbstliebe, unserem Glückseligkeitstrieb, erstreckt sich also, wenigstens gesetzmäßig, alle supranaturalistischen, phantastischen Gefühle und Vorstellungen beiseite gesetzt, nur auf die Fehler, die wir beseitigen oder doch beschränken können, und auch wirklich schon in diesem Leben beseitigen oder doch beschränken, wenn wir anders genug Willen und Verstand besitzen, um die von der Natur uns zu Gebote stehenden Mittel dagegen anzuwenden; aber nicht auf die Fehler, wenn sie anders Fehler sind, die wir nicht fühlen, die mit unserem Wesen eins sind, und daher nicht von uns abgezogen werden können, ohne daß mit ihnen zugleich unser Wesen aufgehoben wird. Kurz, wie alle Geheimnisse der Theologie, so findet auch der Vervollkommnungstrieb seinen Sinn und seine Auflösung nur in der Anthropologie; wir bringen aus diesem Trieb keinen Gott, kein himmlisches, supranaturalistisches Wesen heraus außer da, wo er selbst zu einem supranaturalistischen, d. h. phantastischen Trieb gemacht wird wir bringen immer und immer wieder nichts weiter als den Menschen heraus, denn er greift, ist er gleich Kritiker, nicht den Fond, das Kapital des Menschen an, dieses bleibt vielmehr unverändert; es soll nur immer mehr Zinsen bringen. Kurz, der Vervollkommnungstrieb ist kein Schöpfer aus nichts, sondern nur ein Baumeister, der die vorhandene Materie nur formt und ausbildet.
Der Mensch hat mit der ersten entscheidenden Schrift, sei sie auch noch so fehlerhaft und unvollkommen, dem Wesen nach alle seine späteren noch so vollkommenen Schriften geschrieben. Ein scharfsichtiger Geist entdeckt in ihr alle die Eigenschaften, die in den späteren nur klarer und herrlicher ins Licht treten und daher hier erst den Augen der Stumpfsinnigen auffallen. Die erste Schrift ist ein kühner Grundsatz, dem alle späteren Schriften nur als Folgesätze und Beweise nachfolgen. Glücklich ist der, dem es vergönnt ist, die Konsequenzen seiner Grundsätze selbst auszuspinnen. Aber es ist nicht notwendig. Nein! die gehalt- und geistreichsten Schriften sind gerade die, welche zwar den Stoff zu unerschöpflichen Konsequenzen enthalten, aber sie nicht selbst aussprechen. Solch ein Buch ist auch das Leben. Es ist nicht notwendig, daß wir alle Konsequenzen unserer Talente entwickeln; es genügt, der Zweck desselben ist erreicht, wenn wir nur die hauptsächlichsten Grund- und Vordersätze ausgesprochen haben Allerdings sterben die wenigsten Menschen auf dem Punkt, wo sich keine Fortsetzung mehr denken läßt, wo ihr Wesen sozusagen bis auf den letzten Tropfen erschöpft ist. Die meisten hätten immer noch etwas tun können, wenn sie länger gelebt hätten. Aber in diesem Sinne erschöpfen sich auch die wenigsten Tiere, die wenigsten Pflanzen. Die meisten hätten ihr Wesen noch länger forttreiben können, wenn nicht irgend eine besondere Ursache des Todes die Fortsetzung verhindert hätte. Merkwürdig, obwohl sehr begreiflich ist es, daß die Tiere unter dem Schutze der menschlichen Vorsehung ein weit höheres Alter erreichen, als im Freien unter dem Schutze der göttlichen Vorsehung, d. h. der Natur ein höchst populärer Beweis, daß in der Natur nichts anderes waltet als die Natur, da, wo die menschliche Vorsehung, die menschliche Vernunft aufhört, überhaupt die Vernunft und Vorsehung wenigstens in unserer Natur, d. h. auf der Erde aufhört.. Welch ein eitles, überflüssiges und nichtswürdiges Ding ist daher das Jenseits, wo der gehaltvolle und in sich vollendete Aphorismus unseres Lebens in dem Brei einer christlichen Predigt oder Demonstration von der Unsterblichkeit der Seele bis in alle Ewigkeit hin in seine doch schon hier zwar kurz und unpopulär, aber eben deswegen geistvoll ausgesprochenen Konsequenzen ausgetreten werden soll!