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»Der Unsterblichkeitsglaube ist wie der Gottesglaube ein allgemeiner Glaube der Menschheit; was alle oder wenigstens fast alle Menschen denn es gibt allerdings auch hier traurige Ausnahmen glauben, ist in der Natur des Menschen begründet, ist notwendig, wahr, sowohl subjektiv, als objektiv; also ist ein Mensch, der diesen Glauben noch nicht hat oder gar bekämpft, ein Unmensch, oder doch ein abnormer, defekter Mensch, denn es fehlt ihm ein wesentlicher Bestandteil des menschlichen Bewußtseins.« Dieser von der Übereinstimmung der Völker oder Menschen hergenommene Beweisgrund ist, obgleich er theoretisch für den schwächsten erklärt und daher gewöhnlich nur ganz verschämt nebenbei angeführt wird, in praxi, d. h. in der Tat und Wahrheit, der allermächtigste Beweisgrund, selbst bei denen, die, im Dunkel ihrer Vernunftgründe für die Unsterblichkeit befangen, denselben kaum der Erwähnung wert finden. Er verdient daher vor allem beleuchtet zu werden.
Es ist richtig: fast bei den meisten Völkern findet sich um dieses Wort beizubehalten der Unsterblichkeitsglaube, aber es kommt, ebenso wie bei dem Gottesglauben, darauf an, zu sehen, was dieser Glaube denn eigentlich ausdrückt. Alle Menschen glauben an Unsterblichkeit, das heißt: sie schließen nicht mit dem Tode eines Menschen dessen Existenz, aus dem einfachen Grunde, weil damit, daß ein Mensch aufgehört hat, wirklich, sinnlich zu existieren, er noch nicht aufgehört hat, geistig, d. h. im Andenken, im Herzen der Überlebenden zu existieren. Der Tote ist für den Lebenden nicht Nichts geworden, nicht absolut vernichtet, er hat gleichsam nur die Form seiner Existenz verändert; er ist nur aus einem leiblichen Wesen ein geistiges, d.+h. aus einem wirklichen ein vorgestelltes Wesen geworden. Der Tote macht zwar keine materiellen Eindrücke mehr; aber seine Persönlichkeit behauptet sich, imponiert auch in der Erinnerung noch. Der ungebildete Mensch unterscheidet aber nicht zwischen Subjektiv und Objektiv, d. h. zwischen Gedanke und Gegenstand, Vorstellung und Wirklichkeit, Einbildung, Vision und Anschauung. Er reflektiert nicht auf und über sich; was er tut, das geschieht ihm; das Aktiv ist für ihn ein Passiv, der Traum Wahrheit, Wirklichkeit, die Empfindung Eigenschaft des Empfundenen, die Vorstellung des Gegenstandes Erscheinung des Gegenstands selbst. Der Tote ist für ihn daher, obwohl nur noch ein Wesen der Vorstellung, ein wirklich existierendes Wesen, folglich auch das Reich der Erinnerung, der Vorstellung, ein wirklich existierendes Reich. Natürlich schreibt sich nun auch der Lebende nach dem Tode dieses Sein der Toten zu; denn wie sollte er sich von den Seinigen trennen können? Er war im Leben mit ihnen vereint; er wird und muß es also auch nach dem Tode sein. Der Unsterblichkeitsglaube, wie er ein notwendiger, unverfälschter und unverkünstelter Ausdruck der menschlichen Natur ist, drückt daher nichts andres aus, als die auch von dem Ungläubigen innigst anerkannte Wahrheit und Tatsache, daß der Mensch mit seiner leiblichen Existenz nicht auch seine Existenz im Geiste, in der Erinnerung, im Gemüte verliert.
Zum Beweise, daß die »unsterbliche Seele« ursprünglich nichts andres bedeutet, als das Bild des Toten, mögen folgende mit einigen kritischen Bemerkungen begleitete Beispiele dienen. Als Patroklos dem Achilleus im Traume erschienen, ruft dieser aus:
Götter! so ist denn fürwahr auch noch in Hades' Wohnung
Seel' und Schattengebild, doch ganz der Besinnung entbehrt sie.
Diese Nacht ja stand des jammervollen Patroklos
Seele bei mir am Lager, die klagende, herzlich betrübte,
Und sie gebot mir manches und
glich zum Erstaunen ihm selber.
Und als Odysseus in der Unterwelt die Seele der abgeschiedenen Mutter erblickt, da will er sehnsuchtsvoll sie umarmen, aber umsonst:
Dreimal hinweg aus den Händen wie nichtiger
Schatten und
Traumbild.
Flog sie.
Und die Mutter antwortet ihm darauf:
... So wills der Gebrauch der Sterblichen, wann sie verblüht sind,
Denn nicht mehr wird Fleisch und Gebein durch Sehnen verbunden,
Sondern jenes vertilgt die gewaltige Flamme des Feuers,
Nur die Seel' entfliegt, wie
ein Traum von dannen und schwebet.
Was ist diese Seele anders, denn als ein selbständiges, existierendes Wesen vorgestellte Bild des Toten, welches im Unterschied von dem einst sichtbaren, leiblichen Wesen noch in der Phantasie fortexistiert? Die Griechen und Römer nannten daher ausdrücklich die Seele deren physiologischer, vom Leben abgezogener Name bei ihnen der Hauch, der Atem ist ( pneuma, spiritus, anima), daher sie mit dem Hauch des Sterbenden die Seele desselben in sich aufzufangen glaubten Schattenbild, eidōlon, imago oder geradezu den Schatten des Körpers, umbra. Dieselbe Bezeichnung für die Seele: Bild, Schatten findet sich bei mehreren wilden Völkern. Die alten Hebräer glaubten sogar ausdrücklich, daß sie nicht unsterblich wären. »Wende dich, Herr, und errette meine Seele, denn im Tode gedenket man deiner nicht; wer will dir in der Hölle (im Grabe) danken?« (Psalm 6,6). »Laß von mir ab, daß ich mich erquicke, ehe denn ich hinfahre und nicht mehr hier sei (nach neueren Theologen: nicht mehr bin)« (Psalm 39,14). »Wer will den Höchsten loben in der Hölle? denn allein die Lebenden können loben? die Toten, als die nicht mehr sind, können nicht loben« (Sirach 17, 25-27). Aber gleichwohl hatten sie ein Reich der Schatten, der »Seelen ohne Kraft und Tätigkeit«, zum deutlichen Beweis, daß die Vorstellung von einer Existenz des Menschen nach dem Tode nämlich als Schatten, Bild welche man gewöhnlich mit dem Unsterblichkeitsglauben verwechselt, mit diesem nichts gemein hat.
Auch den Chinesen kann man keinen eigentlichen, wirklichen Unsterblichkeitsglauben zuschreiben. »Feierlichkeiten solcher Art, daß ihrer von ihren Nachkommen ehrenvoll gedacht werde, sind dem Wesen nach das Hauptsächlichste, worauf die Chinesen nach ihrem erfolgten Tode hoffen.« Aber gleichwohl feiern sie das Andenken der Toten, ihrer Vorfahren, mit solchen Zeremonien, »als wenn die Verstorbenen noch lebendig wären.« Die Madegassen glauben, daß die Menschen nach dem Tode böse Geister werden, die ihnen manchmal erscheinen und im Traume mit ihnen reden. »Diese sehen also«, bemerkt hierzu richtig, ohne jedoch natürlich die gehörigen Folgen daraus zu ziehen, ein rationalistischer Schriftsteller Bastholm: Historische Nachrichten zur Kenntnis des Menschen in seinem wilden und rohen Zustande. VI. T., »ihre Träume für etwas Wirkliches außer ihnen an. Sie glauben fest, daß es die Verstorbenen sind, die zurückkommen und mit ihnen des Nachts reden. Dies kann aber mit gutem Grunde von allen andern Völkern gelten.« »Die Einwohner von Guayra in Paraguay glauben, daß sich die Seele, wenn sie aus dem Körper scheidet, nicht weit von demselben entferne, und wohl gar bei ihm in dem Grabe zur Gesellschaft bleibe, weshalb man auch einen leeren Raum daselbst läßt, damit sie Platz haben möge. Die ersten Indianer, die das Christentum annahmen, konnte man mit vieler Mühe kaum von diesem Gebrauch abbringen. Man erwischte sogar einige christliche Weiber, welche heimlich an den Begräbnisort ihrer Kinder und Männer gegangen waren, und die Erde, womit sie bedeckt waren, durch ein Sieb laufen ließen, um ihren Seelen eine Erleichterung zu verschaffen, die, wie sie sagten, ohne diese gebrauchte Vorsicht gar zu sehr gedrückt werden würden. Hieraus erhellt, bemerkt der eben angeführte Schriftsteller, daß diese Indianer glauben, daß die Seele sowohl ein von dem Körper verschiedenes Wesen sei, als daß sie nach dem Tode des Körpers noch fortdauere.« Wie falsch geschlossen! Hieraus, wie aus unzähligen anderen Gebräuchen und Vorstellungen der Völker, welche die theistischen Unsterblichkeitsgläubigen samt und sonders in ihren Reisebeschreibungen oder in sonstigen Werken immer nur in ihrem Sinn auslegen, erhellt vielmehr nur dieses, daß sie die Leiche des Menschen noch für den Menschen selbst halten, zugleich aber auch, weil sie noch das Bild des Lebendigen in der Erinnerung haben, dieses von der Leiche unterscheiden und als ein selbständiges Wesen personifizieren, doch aber wegen der Ähnlichkeit der Leiche mit dem Original, mit dieser, wenigstens solange sie existiert, in inniger Verbindung denken. Daher glauben die Caraiben, daß die Toten so lange mit Nahrung bedient werden müßten, solange noch Fleisch an ihnen ist, daß sie nicht eher in das Land der Seelen gehen, als sie gänzlich entfleischt sind S. Baumgarten Allg. Geschichte der Länder und Völker von Amerika, I. T. S. 484 u. Meiners Allg. kritische Geschichte der Religion, II. Bd. S. 731.. Wenn das Fleisch verschwunden ist, so ist ja auch der letzte Anhaltspunkt der sinnlichen Anschauung des Toten verschwunden; er ist jetzt ganz und gar in das Reich der Seelen, d. h. das Reich der Erinnerung übergegangen.
Die Siamer glauben fest, daß nach dem Tode des Menschen »etwas von demselben übrig bleibe, welches für sich bestehe, von seinem Körper unabhängig existiere und unsterblich sei; allein sie legen dem, was übrig bleibt, die nämlichen Glieder und die nämlichen festen und flüssigen Substanzen bei, aus welchen der gröbere Körper zusammengesetzt ist. Sie nehmen dabei bloß an, daß die Seele aus einer sehr feinen Materie bestehe, um sich dem Gesicht und der Berührung zu entziehen.« Wir haben in dieser dem Gesicht und der Berührung sich entziehenden, vom Körper unterschiedenen, gleichwohl mit den nämlichen Gliedern versehenen Seele nichts als eine getreue Beschreibung von dem Bilde des Toten. »Daß die Hottentotten ein künftiges Leben glauben, erhellt daraus, daß sie fürchten, die Toten möchten wiederkommen und sie beunruhigen. Daher ziehen alle Einwohner eines Dorfes anderswohin, wenn jemand bei ihnen gestorben ist, denn sie glauben, daß sich die Verstorbenen da aufhalten, wo sie gestorben sind.« Wie verkehrt! Wir haben in diesem angeblichen Glauben der Hottentotten und anderer Völker an ein künftiges Leben nichts als ein psychologisches oder anthropologisches Exempel von den Wirkungen der Furcht, welche der Anblick und das Bild des Toten erweckt. Nichts verwandelt ja mehr Bilder, Vorstellungen, Einbildungen in Wesen, als die Furcht. Die Hottentotten glauben, daß sich die Verstorbenen da aufhalten, wo sie gestorben sind, d. h. das Bild des Toten und die Furcht vor ihm haftet hauptsächlich an dem Orte, wo er gestorben oder begraben ist: daher die allgemeine heilige Scheu oder Furcht der Völker vor den Gräbern, den Wohnungen der Toten.
Der Unglaube der Bildung an die Unsterblichkeit unterscheidet sich also von dem angeblichen Glauben der noch unverdorbenen, einfachen Völker an die Unsterblichkeit nur dadurch, daß jener das Bild des Toten als Bild weiß, dieser aber als Wesen sich vorstellt, also nur dadurch, wodurch sich überhaupt der gebildete oder gereifte Mensch von dem ungebildeten oder noch kindlichern Menschen unterscheidet, nämlich, daß dieser das Unpersönliche personifiziert, das Leblose belebt, während jener zwischen Person und Ding, lebendig und leblos unterscheidet. Es ist daher nichts verkehrter, als wenn man die Vorstellungen der Völker von den Toten aus dem Zusammenhang mit ihrer übrigen Vorstellungsweise losreißt, und nun in dieser Losgerissenheit als ein Zeugnis für die Unsterblichkeit anführt. Wenn wir deswegen an die Unsterblichkeit glauben sollen, weil alle Völker daran glauben, so müssen wir auch glauben, daß es Gespenster gibt, glauben, daß Statuen und Bilder reden, empfinden, essen, trinken eben so gut wie ihre lebendigen Originale, denn mit derselben Notwendigkeit, mit welcher das Volk das Bild als das Original denkt, mit derselben denkt es den Toten als lebendig In der Tat ist der Unsterblichkeitsglaube ursprünglich nichts anderes als Gespensterglaube, nur muß man das Wort Gespenst nicht in einem zu engen Sinn nehmen. Wenn daher der Gottesglaube ein integrierender Bestandteil des menschlichen Bewußtseins ist, so ist es auch, ja noch mehr, der Gespensterglaube. Aus demselben Grund, aus welchem wir an einen Gott, müssen wir auch an das Gespenst glauben.. Aber dieses Leben, welches das Volk dem Toten zuschreibt, hat ursprünglich wenigstens, keine positive Bedeutung; es denkt sich den Toten nur als lebendig, weil es sich vermöge seiner Vorstellungsweise ihn nicht als tot denken kann. Dem Inhalt nach unterscheidet sich das Leben des Toten nicht von dem Tode; es ist nur ein, aber unwillkürlicher Euphemismus, nur ein lebhafter, sinnlicher, poetischer Ausdruck des Totseins. Die Toten leben, aber sie leben nur als Tote, d. h. sie leben und leben nicht; ihrem Leben fehlt die Wahrheit des Lebens; ihr Leben ist nur eine Allegorie des Todes. Der Unsterblichkeitsglaube im eigentlichen Sinne ist daher nichts weniger als ein unmittelbarer Ausspruch der menschlichen Natur; er ist nur von der Reflexion in sie hineingelegt; er beruht nur auf einem Mißverstand der menschlichen Natur. Die wahre Meinung der menschlichen Natur über diesen Gegenstand haben wir ausgesprochen in der tiefen Betrauerung und Verehrung der Toten, die wir fast ohne Ausnahme bei allen Völkern finden. Die Klage um den Toten stützt sich ja nur darauf, daß er des Glücks des Lebens beraubt, den Gegenständen seiner Liebe und Freude entrissen ist. Wie könnte aber der Mensch die Toten beklagen und betrauern, und zwar so, wie sie die alten Völker betrauerten, und heute noch viele rohe Völker betrauern, wenn er wirklich überzeugt wäre, daß der Tote noch lebe und zwar ein besseres Leben. Was wäre die menschliche Natur für eine schändliche Heuchlerin, wenn sie in ihrem Herzen, in ihrem Wesen glaubte, daß der Tote lebe, und doch zugleich den Toten eben wegen des Verlustes des Lebens beklagte! Freude, nicht Trauer wäre der Ausdruck der menschlichen Natur bei Todesfällen, wenn der Glaube an ein anderes Leben ein wirklicher Bestandteil des menschlichen Wesens wäre. Die Trauer um den Toten wäre höchstens nur eine Trauer wie um einen Verreisten.
Und was sagt die selbst religiöse Verehrung der Toten aus? nichts anderes, als daß die Toten nur noch Wesen der Einbildung und des Gemüts, nur noch Wesen für die Lebendigen, aber nicht mehr für oder an sich selbst sind. Heilig ist das Andenken der Toten, eben weil sie nicht mehr sind, weil das Andenken allein der Ort ihrer Existenz ist. Der Lebende bedarf nicht des Schutzes der Religion; er behauptet sich selbst; es ist sein eigenes Interesse, zu existieren; aber der selbstlose Tote muß heilig gesprochen werden; nur dadurch wird seine Fortdauer gesichert. Je weniger der Tote für seine Existenz tut, desto mehr bietet der Lebende alle ihm nur immer zu Gebote stehenden Mittel auf, um den Toten am Leben zu erhalten. Der Lebende vertritt daher den Toten; der Tote bedeckt nicht mehr seine Blöße, der Lebende tut es statt seiner; der Tote nimmt nicht mehr Speise und Trank zu sich, der Lebende setzt sie ihm daher vor, oder schüttet sie ihm sogar in den Mund ein. Aber das Einzige, was zuletzt der Lebende dem Toten erweisen kann, und selbst durch die Darreichung von Speise und Trank beweisen will, ist, daß er das Andenken des Toten ehrt und heilig hält, den Toten zu einem Gegenstand religiöser Verehrung erhebt. Durch den Genuß der höchsten Ehre sucht der Mensch den Toten wegen des Verlustes des höchsten Gutes, des Lebens, zu entschädigen. Je weniger du für dich selbst bist, so spricht gleichsam der Lebende zu dem Toten, desto mehr sollst du für mich sein; dein Lebenslicht ist erloschen, aber um so herrlicher soll dein teueres Bild ewig in der Erinnerung mir vorleuchten. Du bist leiblich tot; aber dafür soll deinem Namen die Ehre der Unsterblichkeit zu teil werden. Du bist kein Mensch mehr, dafür sollst du mir ein Gott sein.
Wenn daher der Unsterblichkeitsglaube wirklich in der menschlichen Natur selbst begründet wäre, wie käme der Mensch dazu, den Toten ewige Wohnungen, wie die Römer die Grabmäler, wenigstens die Mausoleen nannten, zu errichten, und jährliche Feste zur Erneuerung ihres Andenkens zu feiern Feste, die wie die Grabmäler und alle sonstigen Formen und Gebräuche des Totendienstes zuletzt, d. h. abgesehen von den Zusätzen abergläubischer Furcht, eben keinen anderen Zweck haben, als dem Menschen auch noch nach dem Tode eine Existenz zu verschaffen, den leider nur zu fühlbaren Mangel der wirklichen Existenz durch die freiwillige Gabe einer geistigen Existenz zu ergänzen. So wenig sich ein Vater um die Seinigen kümmert, ist er gleich von ihnen leiblich getrennt, wenn er sie nur geborgen und versorgt weiß, so wenig würde sich der Mensch um die Toten bekümmern, wenn er im Innersten seines Wesens ihnen eine selbständige Existenz zuschriebe. Die ängstliche Sorge der Völker für ihre Toten ist darum nur ein Ausdruck von dem Gefühl, daß die Existenz derselben von den Lebenden abhängt. Der augenfällige historische Beweis, daß die Ehre, welche den Toten erwiesen wird, keinen anderen Sinn als den angegebenen hat, ist, daß gerade die Völker, welchen selbst die Unsterblichkeitsgläubigen eigentlichen Unsterblichkeitsglauben zuzuschreiben Bedenken tragen, oder geradezu absprechen, wie z. B. die Chinesen, am meisten für ihre Toten sorgen, dagegen die Völker, welche ihren Toten eine wirkliche unsterbliche Existenz zuschreiben, wie die christlichen, sich nicht mehr um ihre Existenz wenigstens auf der Erde bekümmern; sie wissen sie geborgen und versorgt; sie brauchen sich also ihretwegen kein graues Haar mehr wachsen zu lassen; sie denken nur noch an sich selbst, aber nicht mehr an die Toten. Die Heiden sind Kommunisten, sie teilen das Eigentum des Lebens brüderlich mit dem Tode; die Christen sind Egoisten; sie lassen den Toten nichts übrig: sie brauchen und verzehren alles für sich selbst; sie fertigen die Toten mit dem Himmel ab.
Cicero führt als eine Autorität für den Unsterblichkeitsglauben die alten Römer an, weil diese nach seiner Meinung nicht ihre Toten würden mit solcher Religiosität verehrt haben, wenn sie nicht geglaubt hätten, daß die Toten noch existierten. Allein Cicero hat selbst diese oberflächliche Auslegung des Totendienstes seiner Vorfahren faktisch bei dem Todesfall seiner geliebten Tochter Tullia widerlegt. Er wollte sie auf alle mögliche Art verherrlichen, ihr einen Tempel weihen, sie als einen Gegenstand religiöser Verehrung der Nachwelt überliefern. Nur in diesem Gedanken fand er Trost. Wozu aber ein Wesen unsterblich machen, wenn es wirklich unsterblich ist? Wozu die Fackel der irdischen menschlichen Unsterblichkeit, wenn der Tote schon am oder im Himmel als ein ewiger Stern leuchtet? Allerdings glaubten die Römer, wie alle anderen Völker, daß die Toten noch existierten; aber es ist eine sehr oberflächliche Psychologie oder Anthropologie, welche die bewußten Vorstellungen, Einbildungen und Glaubensmeinungen der Völker zum Maß und Wesen der menschlichen Natur macht. Was die Völker mit Bewußtsein glauben, das widerlegen sie mit der Tat, das glauben sie unbewußt nicht. Das Bewußtsein ist ein Spiegel, in welchem der Mensch das Gegenteil von dem erblickt, was er in Wahrheit ist, will und denkt, in welchem er alle Aussprüche seiner Natur im entgegengesetzten Sinne auslegt, die bittersten Wahrheiten selbst, die sie ihm sagt, für Schmeicheleien nimmt. Wäre das Bewußtsein, die Vorstellung, die Einbildung das Maß des Wesens, wie viele Heuchler wären dann Gläubige, wie viele Ungebildete Gebildete, wie viele Schurken Heilige, wie viele Tropfen Helden, wie viele Eitelkeiten Notwendigkeiten, wie viele Niedrigkeiten Hoheiten, wie viele Kleinigkeiten Wichtigkeiten, wie viele Obskuritäten Zelebritäten, wie viele Pedanten Genies, wie viele Träumer Denker! Jeder hält sich im Bewußtsein für das, was er in Wahrheit nicht ist, und gerade auf das, was er am wenigsten ist, bildet er sich das meiste ein. Wie viele vergessen über einem eingebildeten Talent ihre wirklichen Talente! Ein Glückskind ist der Mensch, bei dem Bewußtsein und Sein, Wesen, Natur zusammenstimmen; aber es gibt keinen, bei dem Bewußtsein und Wesen vollkommen sich deckten, keinen, der sich wenigstens nicht etwas einbildete zu sein, was er nicht, oder auch umgekehrt, etwas nicht zu sein, was er in Wahrheit ist. So ist es denn auch mit den Glaubensvorstellungen der Völker. Die Unsterblichkeit existiert für ihr Bewußtsein, der Tod für ihr Wesen; bewußt halten sie die Toten für lebendig, unbewußt für tot. In den Tränen und Blutstropfen selbst, die im Schmerz der Mensch über den Toten vergießt, spricht sich die menschliche Natur, in den Opfern, Gebeten, Wünschen für den Toten die menschliche Einbildung aus. Aber gleichwohl ist wenigstens bei den Völkern, die sich schon auf einen gewissen Grad geistiger Bildung erhoben, aber sich noch nicht durch die Theologie mit der menschlichen Natur entzweit haben, wie z. B. bei Homer, die Einbildung noch insofern ein getreuer Ausdruck der menschlichen Natur, als seinem Inhalt nach das Leben, das sie dem Menschen noch nach dem Tode vorspiegelt, nur ein poetisches Bild des Todes ist.
Da das den Tod überlebende, von der Leiche unterschiedene, unsterbliche Wesen des Menschen in dem allgemeinen Unsterblichkeitsglauben der Völker nichts anderes ist, als das nach dem Tode übrig bleibende Bild des Menschen, die Menschen aber im Leben nicht einander gleich sind; so ist eine natürliche Folge, daß auch die Toten sich unterscheiden und folglich, da sie die Phantasie als existierend vorstellt sie existieren ja auch wirklich in der Erinnerung und Einbildung ihr Zustand, die Beschaffenheit und Lokalität ihrer Existenz verschieden vorgestellt wird. Die unsterblichen Seelen unterscheiden sich daher, wie die sterblichen Menschen, in Reiche und Arme, Vornehme und Niedrige, Starke und Schwache, Tapfere und Feige, Schöne und Häßliche, Glückliche und Unglückliche, Gute und Böse, Selige und Unselige. Hieraus erklärt sich auch, warum bei allen sinnlichen Völkern, welche unmittelbar ihre Vorstellungen in Handlungen umsetzen, sinnlich verwirklichen, verleiblichen Es versteht sich von selbst, daß zur Erklärung dieses Gebrauchs auch die Motive der Furcht und Liebe gehören, aber diese Affekte gehören ja an und für sich zur Vorstellung des Toten. Der Tote ist ebensowohl nach dem Eindrucke seiner einstigen Persönlichkeit ein Gegenstand der Liebe, als er nach seinem letzten Eindruck, nach dem Eindruck der Leiche ein Gegenstand der Furcht, des Schreckens, des Abscheus ist. Daher die widersprechenden Gebräuche und Vorstellungen der namentlich wilden Völker., der Tote alles, was er im Leben hatte, mit sich in das Grab oder Feuer bekommt, warum mit dem Manne sein Weib, mit dem Herrn seine Dienerschaft, mit dem Jäger seine Jagdgeräte und Jagdhunde, mit dem Weibe Nadel und Faden, mit dem Krieger seine Waffen, mit dem Künstler seine Werkzeuge, mit dem Kinde seine Spielzeuge begraben oder verbrannt werden. Alles, bemerkt schon Cäsar von den Galliern, wovon sie glauben, daß es ihnen im Leben am Herzen lag, werfen sie mit dem Toten ins Feuer. Mit vollem Rechte. Was ist der Mensch ohne das, was er liebt und treibt? Was er liebt und treibt, bestimmt ja sein ganzes, sein innerstes Wesen. Wer kann dem Kinde seine Spielzeuge, dem Krieger seine Waffen nehmen, ohne ihm sein Leben, seine Seele zu nehmen? Was ist wohl die Seele eines Germanen, der nur in der kriegerischen Kraftäußerung seine Seligkeit und Gottheit findet, nur in voller Rüstung sein volles Selbstgefühl hat, wenn du ihm seinen Waffenschmuck nimmst? Wenn man daher aus dem Unsterblichkeitsglauben, wie er sich fast bei allen Völkern findet, auf die Unsterblichkeit des Menschen schließt, so folgt auch aus eben diesem Glauben die Unsterblichkeit der Tiere Wirklich glauben auch die meisten Völker, wenigstens in demselben Sinne, in welchem sie an die Unsterblichkeit des Menschen glauben, an die Unsterblichkeit der Tiere. Die Lappen bezweifelten sogar ihre eigene Wiederauferstehung, während sie an die des Bären glaubten. Haben doch selbst viele räsonnierende Sachwalter der unsterblichen Seele die Unzertrennlichkeit der tierischen und menschlichen Unsterblichkeit anerkannt. In der Tat sprechen auch die nämlichen physiologischen und psychologischen Beweise, welche für die Unsterblichkeit des Menschen sprechen, für die der Tiere. Was aber die Unsterblichkeit der Kinder betrifft, so erinnere ich insbesondere nur an die alten Deutschen, welche glaubten, daß ein unbekleideter Toter auch in Walhall ewiger Nacktheit und allgemeinem Gelächter ausgesetzt wäre. So gilt also auch noch im Jenseits der profane Spruch: Kleider machen Leute., Kleider, Schuhe, Waffen, Geschirre, Werk- und Spielzeuge, die den Toten mit ins Jenseits nachfolgen. Wenn ich in der Erinnerung ein Wesen lebendig halten will, so muß ich es in dieser Bestimmtheit, in dieser Tracht, dieser Beschäftigung, dieser Lebensweise, die seine Individualität bezeichnete, festhalten. Auch der phantastische christliche Spiritualist kann sich keine Fortdauer der Seele oder des Geistes eines Menschen anders denken, als in der individuellen Gestalt, die er im Leben hatte, kann überhaupt nichts von dem, was im Leben zu ihm gehörte, weglassen, wenn er nicht aus der Erinnerung seine Existenz vertilgen will. So notwendig daher die Völker infolge ihrer unkritischen, ungebildeten, nicht unterscheidenden Denkweise das vorgestellte, subjektive Wesen für ein wirkliches, existierendes Wesen ansehen, so notwendig denken sie die vom Toten unzertrennlichen Dinge, selbst wenn sie dieselben von den Flammen verzehren lassen, als existierend. Wenn ihr euch darüber nicht wundert, daß die Menschen glauben können, daß die Toten noch leben, daß die noch existieren, die vor ihren Augen die Existenz verloren und kein einziges gegenständliches, allein gültiges Zeichen ihrer Existenz mehr von sich geben; wie wollt ihr euch darüber wundern, daß die vom Toten unabtrennbaren Dinge, selbst wenn sie vor ihren Augen das Feuer vernichtet hat, in ihrer ehemaligen Gestalt und Brauchbarkeit noch fortexistieren?
Der angebliche Glaube der Völker an ein » anderes« Leben ist nichts anderes, als der Glaube an dieses Leben. So gut dieser verstorbene Mensch noch nach dem Tode derselbe ist, so gut ist und muß notwendig das Leben nach dem Tode noch dieses Leben sein. Der Mensch ist im allgemeinen, wenigstens in seinem Wesen, wenn auch nicht in seiner Einbildung, mit dieser Welt trotz ihrer mannigfachen Leiden und Beschwerlichkeiten vollkommen befriedigt; er liebt das Leben und zwar so, daß er sich gar kein Ende, kein Gegenteil desselben denken kann. Gleichwohl macht ihm wider alles Erwarten der Tod einen Strich durch die Rechnung. Aber er versteht den Tod nicht; er ist zu sehr vom Leben eingenommen, als daß er auch der altera pars Recht geben könnte; er macht es, wie der Theolog und Spekulant, welche für die evidentesten Gegenbeweise undurchdringlich sind; er betrachtet den Tod nur als einen »kräftigen Irrtum«, einen Geniestreich, einen zufälligen aphoristischen Einfall eines bösen Geistes oder einer üblen Laune Der Mensch erklärt sich nämlich alles Unbegreifliche aus sich, sei es nun aus rein logischen oder persönlichen Gründen. So legt er denn auch dem Tode, solange er ihn noch nicht als eine Naturnotwendigkeit erkannt, solange er ihm folglich unbegreiflich ist, einen menschlichen Grund unter. Warum hast du uns denn verlassen? Was hat dir denn gefehlt? So fragt der Mensch auf diesem Standpunkt den Toten, setzt also voraus, daß er nicht gestorben wäre, wenn er nicht aus irgend einem besonderen Grund hätte sterben wollen. So denkt er alles sub specie libertatis, unter der Form der menschlichen Willkür und Vernunft. Der Unterschied zwischen dem Standpunkte der Kultur, auf dem gegenwärtig die Menschheit noch in Religion und Philosophie steht, und dem Standpunkt der Unkultur besteht nur darin, daß diese das menschliche Blut, Herz, Fleisch, jene das menschliche Hirn zum Grundstoff aller Dinge macht. von der strengen Konsequenz und Notwendigkeit des Todes hat er ja keine Ahnung; er setzt daher ohne Unterbrechung nach dem Tode sein Leben vor dem Tode fort, wie der Theolog und Spekulant seine Beweise vom Dasein Gottes auch nach den augenfälligsten Beweisen von seinem Nichtsein. Aber das Leben nach dem Tode setzt der Mensch auf seine eigene Faust fort; es ist bloß ein Leben in seiner Vorstellung; als ein bloßes Objekt der Vorstellung steht es daher unter der Botmäßigkeit der menschlichen Reflexion, Phantasie und Willkür, und bekommt so durch ihre Zusätze und Weglassungen den Schein eines anderen Lebens. Aber gleichwohl sind diese Veränderungen der Phantasie nur oberflächliche; es ist dem wesentlichen Inhalte nach dasselbe wie dieses.
Gewöhnlich erklärt man sich die Vorstellungen der Völker vom Jenseits also: Alle oder wenigstens fast alle Menschen stimmen darin überein, daß sie ein anderes Leben glauben, aber sie machen sich davon je nach Verschiedenheit ihres Charakters, Landes, Lebens und Treibens verschiedene Vorstellungen. Daß ein Leben nach dem Tode ist, das ist gewiß, das bezeugt dieser allgemeine Glaube; was und wie es ist, das wissen wir nicht; aber eben deswegen machen sich die Menschen davon so verschiedene Vorstellungen; denn der Mensch ist neu- und wißbegierig; er nimmt daher das Bekannte zum Maßstab des Unbekannten; er will mit endlichen Begriffen das Unbegreifliche in den Kot der Erde herabziehen. So füllt er das dunkle Jenseits mit den Gestalten des Diesseits aus. Es ist mit der Unsterblichkeit, wie mit der Gottheit; beide Ideen »sind ja im Grunde identisch«. Alle Menschen, sagt man, glauben an Gott; nur in den Vorstellungen, in den Begriffen, die sie sich davon machen, weichen sie von einander ab. Allein die Theisten beweisen sich als sehr willkürliche und befangene Exegeten, wenn sie dem Gauben der Völker ihren Glauben unterschieben, den Gott des Theismus zu dem gemeinschaftlichen Gegenstand machen, woran alle Menschen nur unter verschiedenen Vorstellungen glauben. So verschieden die Namen der Götter, so verschieden sind die Götter selbst. Wer dem Griechen seinen Zeus, dem Deutschen seinen Odin, dem Slaven seinen Swantowit, dem Juden seinen Jehova, dem Christen seinen Christus nimmt, der nimmt ihm den Gott überhaupt. Gott ist ursprünglich kein Eigen-, sondern Gattungsname, kein Wesen, sondern Eigenschaft, kein Subjekt oder Substantiv, sondern Prädikat oder Adjektiv: furchtbar, schrecklich, mächtig, groß, ungewöhnlich, außerordentlich, herrlich, gut, wohltätig. Das Hauptwort oder Subjekt liefert die Natur, das Eigenschaftswort oder Prädikat der Mensch, denn das Prädikat ist nichts anderes als der Ausdruck der menschlichen Phantasie und Empfindung, womit er den Gegenstand der Natur bezeichnet, welcher auf seine Sinne, sein Gemüt, seine Phantasie eben den mächtigsten, schrecklichsten oder wohltätigsten Eindruck macht. Die Götter sind daher so verschieden, als die Eindrücke der Natur auf den Menschen verschieden sind Allerdings liegt den verschiedenen Göttern und Religionen so auch den verschiedenen Vorstellungen des Jenseits ein gemeinschaftliches Wesen zugrunde, aber dieses Grundwesen, das als der Urgott hinter allen Göttern steckt, ist einerseits (subjektiv) die menschliche, andererseits (objektiv) die un- oder nichtmenschliche Natur, denn der allen Menschen gemeinschaftliche Gegenstand ist ja die Natur. Die Dieselbigkeit der Natur ist jedoch ein Gedankending, in der Wirklichkeit ist sie unendlich verschieden. Das Eins der Religionen ist daher nicht weniger, aber auch nicht mehr Eins, als das Eins der menschlichen und äußeren Natur., aber diese Verschiedenheit der Eindrücke richtet sich selbst wieder nach der Verschiedenheit der Menschen. Der in der wesentlichen, charakteristischen Bestimmtheit des Menschen begründete, bleibende, herrschende Eindruck von der Natur ist der Gott des Menschen. Wer daher dem bestimmten Menschen die Bestimmtheit der Gottheit nimmt, der nimmt ihm nicht etwas, sondern alles, nicht ein Prädikat, sondern das Wesen selbst; denn nicht die Gottheit als solche, sondern die Bestimmtheit derselben ist seine wahre Gottheit. Mit der Unsterblichkeit ist es nun gerade so. Wer einem Menschen dieses bestimmte Leben nach dem Tode nimmt, der nimmt ihm das Leben nach dem Tode überhaupt; er weiß und will von keinem anderen Leben etwas wissen; er hat keinen Sinn dafür; es existiert gar nicht für ihn. Der Germane will nur in Walhall, der Muhamedaner nur im muhamedanischen Paradies fortleben; in dem christlichen Jenseits würde er nicht seine Rechnung finden.
Die alten Germanen glaubten, daß nach dem Tode der Bräutigam die Braut, der Gatte die Gattin wieder finden und umarmen werde. Wie lächerlich wäre es, diesem lebensvollen, fleischlichen Jenseits, diesem ehrlichen altdeutschen Bekenntnis der Sinnlichkeit die hinterlistige theologische Ausrede des leeren, unbekannten Jenseits des modernen Christentums unterlegen zu wollen! So notwendig der Germane glaubte, daß er nach dem Tode leben werde, so notwendig glaubte er, daß er nach dem Tode auch noch das Kriegs- und Liebeshandwerk treiben werde. Nimmst du ihm die Kriegs- und Liebeslust, so nimmst du ihm die Lebenslust, dort wie hier. Er will vom Jenseits nichts anderes, als was ihm der Tod genommen hat. Der Tod nimmt dieses Leben, aber die Phantasie stellt es wieder her; sie gibt dem Gatten wieder die Gattin, dem Krieger seine Waffen, dem Kinde seine Spielwerkzeuge. Das Jenseits ist nichts anderes als die sinnliche, wirkliche Welt, als Welt der Phantasie. Aber diese Welt schließt dem Menschen zuerst nur der Tod auf. Die Macht der Phantasie lernt der Mensch erst kennen und schätzen, nachdem ihm ein geliebter Gegenstand aus der Anschauung entschwunden. Selbst die rohsten Völker erhebt der Schmerz über die, sei es nun zeitliche oder ewige, räumliche oder tötliche Trennung von dem, was sie lieben, zur Poesie. Die Phantasie (Einbildung, Erinnerung, Unterschiede, die hier gleichgültig sind ) ist das Jenseits der Anschauung, worin der Mensch zu seiner größten Überraschung und Entzückung wieder findet, was er diesseits, d. h. in der sinnlichen, wirklichen Welt verloren. Die Phantasie ersetzt und erfüllt die Lücken und Mängel der Anschauung; die Anschauung gibt Wesen, Wahrheit, Wirklichkeit, aber eben deswegen ist sie zeit- und ortbeschränkt. Die Anschauung ist gründlich, materiell, sachgetreu, wortkarg, feind allem Floskelwesen; ihre Werke sind gehaltvoll, gediegen; sie gelingen ihr darum nur unter besondern Bedingungen; aber eben deswegen kann sie die ungebührlichen Forderungen nicht befriedigen, die der Mensch an sie stellt. Die Phantasie dagegen ist quantitativ unbeschränkt; sie kann alles ohne Unterschied, zu jeder Zeit und an jedem Ort; sie schreibt auf Verlangen Folianten über Dinge, wovon sie nicht das Geringste weiß, kurz sie ist allmächtig, allwissend, allgegenwärtig; sie erfüllt daher alle Wünsche des Menschen; aber sie gibt auch dafür statt der baren Münze der Anschauung nur Anweisungen auf das Jenseits, nur Scheine, Schatten, Bilder Bilder, die aber gleichwohl für den Menschen mehr Wert und Realität haben, als die Wirklichkeit, die nicht mehr die geliebten Gegenstände enthält. Die Phantasie oder Einbildung ist aber ursprünglich nichts als das geistige Sehen; mit der Erinnerung an das Verlorene, mit der Wiederherstellung desselben in der Phantasie, mit diesem geistigen Wiedersehen verknüpft daher sich unmittelbar der Wille und die Hoffnung des wirklichen Wiedersehens. Die Vergegenwärtigung des Abwesenden in der Vorstellung, die Erinnerung ist ja selbst nichts weiter, als das Bestreben, den Sinnen zum Trotz das zu sehen, was man nicht sieht. Es ist daher ganz natürlich, daß den Völkern das Wesen der Einbildung für ein wirkliches Wesen, die Phantasiewelt für eine existierende Welt gilt. Aber gleichwohl ist der Inhalt, der Gegenstand, das Wesen dieser »übersinnlichen« Welt nur der Inhalt dieser sinnlichen Welt, für den bestimmten Menschen daher nur der Inhalt dieser seiner bestimmten Welt, seines Vaterlandes. Wenn es daher euch Christen und Theisten für unmenschlich gilt, dem Menschen das Jenseits zu nehmen, so seid vor allem ihr selbst so menschlich, den Heiden nicht ihr heidnisches Jenseits, dem Germanen nicht sein Walhall, dem Indianer nicht das Land seiner geliebten Vorfahren zu nehmen. Er kennt und will keine andere Unsterblichkeit, als die seinige, als die eben, die ihr ihm ableugnen wollt. Er zieht den Tod der christlichen Unsterblichkeit vor.
Die sinnlichen Vorstellungen von der »Glückseligkeit des künftigen Lebens«, d. h. auf deutsch von der Unendlichkeit der Glückseligkeit des gegenwärtigen irdischen Lebens, von der Unendlichkeit, z. B. der Freuden des Tanzes, der Musik, der Liebe und Freundschaft, der Jagd und anderer ritterlicher Künste, der Mahlzeiten und Trinkgelage, sind bei vielen Völkern so mächtig gewesen, daß sie freiwillig dem Jenseits, d. h. dem eingebildeten Diesseits das wirkliche Diesseits aufopferten. So stürzten sich die Nordgermanen freiwillig in das Schwert, ihre Weiber freiwillig in die Flammen des Scheiterhaufens; sie entleibten sich, um die Phantasie des Jenseits zu verleiblichen, zu verwirklichen. So »ließen sich auch die Kamtschadalen sonst lebendig von Hunden zerreißen, ertränken, erhenken und legten sogar, wenn Trübsale sie beugten, Hand an sich selbst. Solche Wirkung kann auf die Menschen die Einbildung haben, daß sie den Zustand des künftigen Lebens kennen, und durch Vergleichung mit dem des gegenwärtigen jenen besser finden, als diesen. Die Menschen wünschen so sehr die Decke aufzuheben, die uns die Zukunft verhüllt. … Wenn dieser Blick über das Grab hinaus möglich, wenn er untrüglich hell und vollständig wäre … würde uns dann nicht diese Welt weit weniger interessieren? Unsere gegenwärtigen Freuden würden uns anekeln, unsere Beschäftigungen kindisch werden … Es ist folglich Weisheit, daß ein undurchdringlicher Schleier den Zustand des künftigen Lebens sterblichen Augen verhüllt.« Ja, es ist Weisheit, aber auch hier wie anderwärts, ist diese Weisheit, die ihr als Weisheit eines von euch unterschiedenen Wesens, als göttliche Weisheit bewundert, nur eure eigene Weisheit oder vielmehr Klugheit, die es euch verwehrt, der Phantasie die Wirklichkeit, der Einbildung die Wahrheit, den zehn Sperlingen auf dem Dach, wie es im Sprichwort heißt, den einen Sperling in der Hand aufzuopfern. Allerdings würde uns, wenn wir die Aussicht in ein anderes, besseres, ewiges Leben hätten, das gegenwärtige Leben in nichts verschwinden, wie es denn wirklich dem Menschen in nichts verschwindet, wo der Glaube an das Jenseits noch eine praktische Wahrheit ist, wo ihm seine Einbildung noch für Wirklichkeit gilt; aber wie sonderbar! auf die verschwindende Kürze, Eitelkeit und Nichtigkeit dieses Lebens gründet sich ja gerade die Annahme eines anderen Lebens. Warum nehmt ihr also die Beschäftigungen und Freuden, d. h. die Eitelkeiten und Miserabilitäten dieses Lebens gegen die Übergriffe des Jenseits in Schutz? Ihr wißt nicht, wie euer Sein dort beschaffen ist, aber das wißt ihr doch unbezweifelbar gewiß, daß es ewig währt, daß es kein Ende, keine Grenze eures lieben Ichs und Lebens gibt, d. h. ihr wißt die Hauptsache, das, was ihr wissen wollt, aber die Nebensache wißt ihr nicht, weil sie euch gleichgültig ist. Allein eben diese Gewißheit und Vorstellung eines ewigen Lebens, wenn auch die Beschaffenheit desselben in Zweifel gestellt wird, ist allein schon hinreichend, mir dieses Leben zu verleiden. Wozu ist denn überhaupt dieses Leben, wenn es noch ein anderes gibt? wozu ein zeitliches, sterbliches Leben, wenn ein ewiges ist? Wozu bin ich denn ein Taglöhner dieser Erde, wenn ich im Himmel ein Rothschild, ein Millionär werde? Welchen Wert haben für mich ein paar Pfennige, die ich als irdischer Proletarier im Vermögen habe, wenn mir Millionen gewiß sind, wenn ich gleich nicht weiß, in welcher Geldsorte mir diese Millionen ausbezahlt werden? Warum soll mir nicht über der Gewißheit dieses unerschöpflichen Lebensreichtums im Jenseits der Bettel dieses Lebens mit seinen paar Jährchen in nichts verschwinden? Und wenn uns wirklich ein anderes Leben bevorsteht, warum soll es denn nicht der einzige Gegenstand unseres Denkens, Sinnens und Trachtens in diesem erbärmlichen Leben sein? Und wenn es wirklich in unserer Natur begründet, wenn es eine notwendige Folge und Fortentwickelung unseres Lebens und Wesens ist, warum soll es für uns kein Gegenstand des Wissens sein? Warum ist die irdische Zukunft mir ungewiß? Weil tausend und abermal tausend zufällige unvorhergesehene Ereignisse und Vorfälle mir einen Strich durch die Rechnung machen, weil meine zukünftige Existenz keine notwendige Folge der gegenwärtigen, mein Leben überhaupt kein vorausbestimmtes, vorausberechnetes und berechenbares ist. Aber die himmlische Zukunft ist eine mathematische Gewißheit wie viele haben dies ausdrücklich behauptet! sie kann uns nicht entrissen werden; sie ist eine notwendige Konsequenz unseres Wesens. Wir können daher aus unserer Gegenwart unsere Zukunft so gut herauswickeln und zu einem Gegenstand des Wissens erheben, als der Naturforscher aus der Raupe den Schmetterling vor unseren Augen herauszieht. Und gründet ihr denn nicht ausdrücklich auf den Schmetterling den Beweis des himmlischen Jenseits? Warum protestiert ihr also gegen die Ansprüche, welche das Jenseits von Rechtswegen schon auf dieses Leben zu machen hat? Warum sträubt ihr euch mit den schalsten Ausflüchten gegen seine notwendigen Wirkungen und Folgen? Warum laßt ihr euch durch dasselbe nicht in den Genüssen und Beschäftigungen dieses Lebens stören? Warum? weil, was euch bewußt für eine Wahrheit gilt, unbewußt, tatsächlich, eine bloße Täuschung ist.