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Die wesentliche Bedeutung des Lebens nach dem Tode in dem allgemeinen oder volkstümlichen Glauben an die Unsterblichkeit ist nur die, daß es die ununterbrochene Fortsetzung dieses Lebens ist, oder daß dieses Leben als endlos vorgestellt wird. Nicht der Vervollkommnungstrieb, sondern der Selbsterhaltungstrieb ist der Grund des Glaubens. Der Mensch will, was er gern hat, ist und treibt, nicht fahren lassen, will es ewig haben, sein und treiben. Und diese Ewigkeit ist eine subjektiv notwendige Vorstellung. »Wir können«, sagt Fichte, »keinen Gegenstand lieben, ohne ihn für ewig zu halten.« Richtig; aber wir können überhaupt nichts unternehmen, ohne die Vorstellung der Dauer damit zu verbinden. Wenn ich den möglichen Fall, daß das Haus, das ich heute aufbaue, morgen einstürzt oder ein Raub der Flammen wird, mir als wirklich denke, so vergeht mir die Baulust. Wenn ich denke, ich werfe die Kunst oder Wissenschaft, die ich jetzt treibe, einst zum Teufel, so bin ich ein Tor, wenn ich sie nicht jetzt schon wegwerfe; ja ich kann sie gar nicht treiben, wenigstens mit Eifer und Erfolg, wenn ich nicht denke, daß ich ihr nie untreu werde. Alles, auch das Endlichste, treibt der Mensch im Sinne der Unendlichkeit. Aber diese Unendlichkeit oder Ewigkeit ist nur ein negativer, unbestimmter Ausdruck, ich denke mir etwas ewig, d. h. ich denke mir keinen Zeitpunkt seines Endes. Erst der Mißverstand der Reflexion oder Spekulation und Abstraktion, welche den Ursprung der menschlichen Vorstellungen nicht untersucht und kennt, verwandelt diese verneinende Vorstellung in eine bejahende, diesen Ausdruck des Affekts denn nur im Affekt des Eifers, der Lust, der Liebe denkt sich der Mensch das Vergängliche als ewig in eine Vernunftbestimmung oder Vernunftidee. Und sie ist mir nur eine Notwendigkeit im Gegensatze gegen eine unzeitige, voreilige Vorstellung. Wenn ich denke, daß mir das, was mir jetzt das Höchste und Heiligste ist, einst nichts ist, so ist dieser Gedanke für mich ein ebenso vernichtender, erschrecklicher, unerträglicher, als der Gedanke meines Todes in der Fülle meiner Lebenslust und Lebenskraft. Ich muß daher dieses in der Vorstellung vorausgenommene Ende durch die entgegengesetzte Vorstellung, die Ewigkeit, niederschlagen. Gleichwohl kommt im Leben der Zeitpunkt, wo diese Ewigkeit sich als Vergänglichkeit erweist, wo sich zeigt, daß nur die Vorstellung der Ewigkeit ein Bedürfnis, wo die Vorstellung der Endlichkeit eine vorwitzige, unzeitige Vorstellung war; denn alle die schrecklichen Folgen, die sich für unser Gemüt an das vorgestellte Ende einer Sache, einer Liebe, einer Wissenschaft, eines Glaubens knüpften, und denen wir eben durch den Gedanken der Ewigkeit auszuweichen suchten, erweisen sich bei dem wirklichen im Laufe des Lebens erfolgten Ende derselben als nichtig. Wir glaubten das Ende nicht überleben zu können, wir identifizierten den Gegenstand so mit uns, daß wir uns gar keine Existenz ohne denselben denken konnten, und dennoch sind wir mit heiler Haut davon gekommen. So ist das wirkliche Ende ein ganz anderes, als das vorgestellte; dieses steht im Widerspruch mit unserem dermaligen Wesen und Standpunkt; es ist ein herzzerschneidender Mißton in der Harmonie, in der wir mit dem Gegenstand stehen, ein gewaltsamer Einbruch in unser Eigentum; jenes aber ist organisch begründet, vorbereitet, eingeleitet; es bricht den Gegenstand nicht in der Mitte ab; es schließt ihn da, wo nur noch der Schluß, aber nicht mehr die Fortsetzung Vernunft gibt, da, wo der Gegenstand, wenigstens für uns, erschöpft ist, und daher keinen Wert, keine Bedeutung mehr hat. Das Ende in der Vorstellung ist ein un- und widernatürliches, das Ende in der Wirklichkeit ein natürliches, allmähliches, darum unmerkliches. Ist auch der letzte Akt des Bruches ein barscher, so ist er es doch nur dem Ausdruck, der Form, aber nicht dem Wesen nach. Die Leibniz'schen Monaden können wohl nur durch Schöpfung anfangen und durch Vernichtung enden, aber alle natürliche Dinge und Wesen vergehen und entstehen nur allmählig, denn sie sind sehr zusammengesetzte Wesen; und sie entstehen, indem sich Faden an Faden ansetzt, und vergehen, indem sich das Gewebe wieder ebenso Faden für Faden auflöst.
So wie es nun eine Notwendigkeit für den Menschen ist, die Bündnisse der Liebe, die er während des Lebens schließt, sei es nun mit Göttern oder Menschen, mit Personen oder Dingen als unauflöslich sich zu denken, wenn sie auch gleich mit der Zeit sich auflösen; so ist es auch für ihn eine Notwendigkeit, sich sein Leben überhaupt ewig vorzustellen; denn er verliert alle Lebenslust, es erscheint ihm alles, was ihm das Leben wert und teuer macht, eitel, umsonst, zwecklos, wenn er sich vorstellt: morgen ist alles, wenigstens für mich, nichts. Aber aus dieser Notwendigkeit des Gedankens einer ewigen Existenz, d. h. einer unbegrenzten Lebensdauer, folgt nichts weniger, als die gegenständliche Notwendigkeit und Wirklichkeit derselben. Denn warum ist mir dieser Gedanke notwendig? weil ich ohne Notwendigkeit, ohne Grund, weil ich voreilig, unzeitig an mein Ende denke. Natürlich erscheint mir so mein Ende als eine gewaltsame Vernichtung, als ein unerträglicher Gedanke; ich muß also die Vorstellung meines Endes aufgeben, mich wieder als seiend denken. Wie anders ist dagegen das wirkliche Lebensende! Es kommt, wenn es wenigstens ein normales ist, allmählig; es kommt, wenn bereits das Lebensfeuer erloschen, das Leben für uns höchstens nur noch den Wert und Reiz einer alten Gewohnheit hat, wo also der Tod nichts weniger als eine gewaltsame, brutale, unmotivierte Vernichtung, sondern der Schluß des vollendeten Lebens ist. Selbst wenn der Gedanke an meinen Tod, d. h. an mein Nichtsein ein der Zeit nach begründeter ist, so ist er doch immer noch logisch ein unbegründeter; und wenn ich mich daher genötigt sehe, den unerträglichen Gedanken meines Nichtseins durch den Gedanken eines nach dem Tode fortgesetzten Seins zu überwinden, so bestätige ich dadurch nur die Wahrheit der naturgemäßen, freilich nicht christlichen, spekulativen Logik, daß es ein unvernünftiger Widerspruch ist, mit dem Sein den Gedanken des Nichtseins zu verbinden, seiend sich als nicht seiend, lebend sich als tot zu denken. Die Unsterblichkeit ist daher eigentlich nur eine Angelegenheit für Träumer und Müßiggänger. Der tätige, mit den Gegenständen des menschlichen Lebens beschäftigte Mensch hat keine Zeit, an den Tod zu denken, und folglich kein Bedürfnis der Unsterblichkeit; denkt er ja an den Tod, so erblickt er in ihm nur die Mahnung, das ihm zu Teil gewordene Lebenskapital weise anzulegen, die kostbare Zeit nicht an nichtswürdige Dinge zu verschwenden, sondern nur auf Vollendung der Lebensaufgabe, die er sich gesetzt, zu verwenden. Wer dagegen seine Zeit nur dazu verwendet, um an sein Nichtsein zu denken, wer über diesem nichtsnutzigen Gedanken das wirkliche Sein vergißt und verliert, der muß freilich sein vorgestelltes Nichtsein durch ein wieder vorgestelltes, erträumtes Sein ergänzen, sein Leben, sei's nun als gläubiger oder spekulativer Tor, nicht mit Beweisen wirklichen Lebens, sondern mit Beweisen des zukünftigen Lebens hinbringen.
Nirgends zeigt sich daher die Unvernunft und Verderblichkeit des Christentums deutlicher, als darin, daß es die Unsterblichkeit, die selbst den träumerischsten Weisen des Altertums immer etwas Zweifelhaftes, Ungewisses blieb, für etwas Gewisses, ja das Allergewisseste ausgegeben, und so den Gedanken an ein künftiges, besseres Leben zum angelegentlichen Gedanken der Menschheit gemacht hat. Der Mensch soll allerdings nicht, wenigstens wenn ihm dieser Gedanke das Leben verbittert, an sein Ende, sein Nichtsein denken; aber töricht, ja verderblich ist es, dem Menschen ein besseres Leben nach dem Tode zu versprechen; denn »das Bessere ist der größte Feind des Guten.« Genießt das Gute des Lebens und verringert nach Kräften die Übel desselben! Glaubt, daß es besser sein kann auf der Erde, als es ist; dann wird es auch besser werden. Erwartet das Bessere nicht von dem Tode, sondern von euch selbst! Nicht den Tod schafft aus der Welt; die Übel schafft weg die Übel, die aufhebbar sind, die Übel, die nur in der Faulheit, Schlechtigkeit und Unwissenheit der Menschen ihren Grund haben, und gerade diese Übel sind die schrecklichsten. Der naturgemäße Tod, der Tod, als Resultat der vollendeten Lebensentwickelung ist kein Übel; aber wohl der Tod, der eine Folge der Not, des Lasters, des Verbrechens, der Unwissenheit, der Rohheit ist. Diesen Tod schafft aus der Welt, oder sucht ihn wenigstens so viel als möglich zu beschränken! So spricht die Vernunft zum Menschen. Anders das Christentum, welches, um ein eingebildetes Übel zu beseitigen, die wirklichen Übel des Lebens unangefochten bestehen ließ; welches, um den Tod zum Leben zu machen, das Leben uns zum Tode gemacht hat, welches, um übernatürliche, phantastische, luxuriöse Wünsche des Menschen zu befriedigen, den Menschen gegen die Befriedigung der nächsten, notwendigsten natürlichen Bedürfnisse und Wünsche gleichgültig gemacht hat. Das Christentum hat dem Menschen mehr geben wollen, als er selber in Wahrheit verlangt; es hat sich die Erfüllung der unerreichbaren Wünsche zum Ziel gesetzt, aber eben deswegen nicht die erreichbaren Wünsche erfüllt. Das Christentum ist so wenig der klassische, vollendete Ausdruck der menschlichen Natur, daß es vielmehr nur auf den Schein derselben, nur auf dem Widerspruch des menschlichen Bewußtseins mit dem menschlichen Wesen gegründet ist. Die Unsterblichkeit ist ein Wunsch der menschlichen Einbildung, aber nicht des menschlichen Wesens. Das Christentum hat mit der Unsterblichkeit dem Menschen eine Schmeichelei gesagt, an die abnorme Fälle und solche Menschen abgerechnet, bei welchen die Macht der Einbildung die Stimme der menschlichen Natur übertäubt hat im Grunde seines Wesens, d. h. in der Tat und Wahrheit, kein Mensch glaubt Höchst merkwürdig sind auch in dieser Beziehung die Selbstbekenntnisse Luthers, dieses christlich germanischen Glaubenshelden. Er bekennt an unzähligen Stellen, daß eigentlich kein Mensch die Verheißungen des Christentums glaubt und glauben kann, weil sie für ihn zu hoch, zu überschwänglich, d. h. mit anderen Worten, weil sie nicht wahr, weil sie übertriebene Schmeicheleien sind. So sich selbst widersprechend ist das Christentum! Während es einerseits, d. h. in der Wirklichkeit, dem Menschen alles nimmt und abspricht, den Menschen aufs Tiefste erniedrigt und entwürdigt, verspricht es ihm andererseits, d. h. im Himmel der Einbildung, Seligkeit, Unsterblichkeit, Gottheit., wie unter anderem die Tatsache beweist, daß die Unsterblichkeitsgläubigen ebenso ungern sterben, als die Todesgläubigen, dieses Leben solange als möglich zu behaupten und festzuhalten sich bestreben. Es gibt Wünsche, deren geheimer Wunsch ist, nicht erfüllt zu werden, denn die Erfüllung würde sie kompromittieren, sie entlarven, zeigen, daß sie bloß auf Täuschung beruhen, Wünsche also, die nichts anderes sein und bleiben wollen, als Wünsche. Ein solcher Wunsch ist vor allen der Wunsch eines ewigen Lebens. Es hat nur Wert in der Einbildung; würde es wirklich, so würde der Mensch inne werden, daß er es nur im Widerspruch mit seiner wahren Natur verlangt, daß er sich in und über sich getäuscht, daß er sich selbst mißverstanden hat; denn es würde das ewige Leben, wenn es auch von anderer Beschaffenheit wäre, als dieses, endlich satt bekommen; es ist daher nur eingebildeter, illusorischer, kein ernstlich gemeinter Wunsch.
Lediglich in Beziehung auf die Zeit gedacht, ist die Vorstellung des ewigen Lebens dem Menschen ein Bedürfnis im Gegensatz gegen die Vorstellung der Kürze dieses Lebens. Aber auch diese Vorstellung steht mit der Wahrheit und Wirklichkeit in Widerspruch. Das Leben ist lang, aber erscheint uns in der Vorstellung kurz. Warum? weil wir die Vergangenheit nicht mehr zu uns rechnen, vergangenes Sein gleich Nichtsein anschlagen. Unsere Selbstliebe interessiert nur die Zukunft, nicht die Vergangenheit. Wir machen es mit unserer Lebenszeit, wie der Geizhals, der, während er in der Wirklichkeit die Kästen voll Geld, in seiner Vorstellung doch nichts hat; denn die Vorstellung ist unbeschränkt; in der Vorstellung kann ich immer noch mehr haben, als ich wirklich habe; die Wirklichkeit bleibt immer hinter ihr zurück. So ist auch das wirkliche Leben immer kurz gegen die Vorstellung gehalten; wir können es uns unbegrenzt denken; wir vergessen über dem Möglichen das Wirkliche. Wenn daher auch dem Menschen sein Wunsch gewährt würde, wenn er Jahrtausende, ja ewig fortlebte, so würde er doch damit nichts gewinnen; Jahrtausende würden in seiner Erinnerung in Tage, in Stunden, in Minuten zusammenschmelzen; er würde die Vergangenheit immer als verloren betrachten, sich selbst eben so, wie jetzt, als eine Ephemere, als ein Tagesgeschöpf erscheinen. Wie wir der Natur der Abstraktion, des Geistes gemäß alles abrevieren, verkürzen, verallgemeinern, das Wirkliche mit Weglassung seiner unendlichen Einzelheiten und Verschiedenheiten in ein Bild, eine Vorstellung, einen Begriff zusammenfassen; so fassen wir auch in der Vorstellung das unendlich reiche, langwierige und oft sehr langweilige Leben in ein verschwindendes Nu zusammen, und ergänzen daher diese eingebildete Kürze durch eine eben so eingebildete Dauer.
Wenn wir in unsere Vergangenheit zurückblicken und sie gehörig überdenken, so können wir uns auch überzeugen, wie roh und oberflächlich der denkt, welcher den Tod, wenn er als wirkliches Ende des Menschen gedacht wird, als eine krasse, despotische Vernichtung sich vorstellt. So wenig unsere teilweise Vergänglichkeit eine rohe, gewaltsame Vernichtung ist, so wenig ist es unsere vollständige, obgleich sie nicht einmal eine vollständige ist; denn wenn ich sterbe, so stirbt ja nur das, was ich jetzt noch bin; ich sterbe ja, wenn mein Tod ein normaler ist und dieser kommt nur hier in Betracht, denn der Unsterblichkeitsglaube beanstandet nicht den gewaltsamen, sondern natürlichen Tod, den Tod als Tod nicht als Jüngling, nicht als Mann, nicht in der Blüte, sondern als Greis. Der Tod fällt nicht mit der Tür in das Haus; er wird eingeleitet, bevorwortet, begründet. Er ist eine vermittelte Verneinung; die Vermittlung nimmt aber der Verneinung ihren Stachel. Und diese Vermittlung des Todes ist das Leben selbst. Jede neue Lebensstufe ist der Tod der früheren. Wo ist die Seele meiner Kindheit, meiner Jugend? Bei Gott im Himmel oder auf einem Stern? Nein! sie ist so wenig mehr, als ich selbst einst nach meinem Tode noch sein werde. Der Tod ist nicht mehr negativ, vernichtend gegen mich, als ich als Mann vernichtend bin gegen mich, als Kind und Jüngling. Das Kind hält nur sein Leben für Leben, ebenso der Jüngling. Nimm dem Kinde seine Spiele, und du nimmst ihm sein Leben. Nimm dem Jüngling sein Burschenband, seine Turnhose, seinen Arndt und Jahn, seinen deutschen Kaiser, und das Nichtsein dieses seines jetzigen Seins und Wesens ist für ihn eine eben so schreckliche Vernichtung, als für dich der Tod. Gleichwohl verneint der Jüngling das Kind, der Mann den Jüngling; es ist ihm nichts mehr, was ihm einst alles war. So natürlich es nun ist, daß wir als Jünglinge, als Kinder vergehen, so wenig wir über diese Vergänglichkeit uns entsetzen, so wenig haben wir Grund, die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen, weil wir endlich sterben. So wenig bösartig die Vergänglichkeit überhaupt, so wenig ist es der Tod. Oder: so gleichgültig es uns ist, daß wir nicht mehr sind, was wir einst mit allem Jugendfeuer waren (und nota bene! immer sein wollten), so gleichgültig, so wohlbegründet, so wenig schrecklich und empörend ist unser einstiges Nichtmehrsein. Freilich lassen wir aus Egoismus diesen Schluß nicht gelten, so wenig als überhaupt die Schlüsse von der Historie auf die Gegenwart, wenn gleich derselbe Fall vorliegt; denn die Anerkennung einer Wahrheit in der Vergangenheit geht uns nicht zu Leibe, während ihre Anwendung auf den gegenwärtigen Fall uns höchst empfindlich und lästig ist. Darum haben wir nichts dagegen, daß das Herz des Kindes, das Herz des Jünglings mit dem Traume seiner Unsterblichkeit zu Grunde gegangen ist; aber daß es unserem jetzigen alten verstockten Philisterherz mit der Einbildung seiner Unsterblichkeit eben so ergehen soll, das können wir uns nicht gefallen lassen, das ist ein anderer Kasus. Wo unser Egoismus beginnt, da gelten die Gesetze der Logik nicht mehr.
Die phantastischen Vorstellungen des Christentums haben seit Jahrhunderten die Menschen so sehr des Gebrauchs ihrer fünf Sinne entwöhnt, daß sie, wenn man sie aus ihren Träumen aufweckt, und ihnen die Augen öffnet, wie die Blinden, wenn sie sehend werden, in dem Lichte der wirklichen Welt nichts sehen, daß ihnen die Zurückführung des Menschen auf die Reichtümer der Wirklichkeit für Pauperismus, für Nihilismus gilt. So erscheint ihnen auch, wenn man sie aus dem Traume ihres ewigen Lebens und himmlischen Jenseits aufschreckt, das Leben auf den elenden Tropfen des gegenwärtigen Augenblicks zusammengeschwunden, die Verneinung des Jenseits daher als eine unpraktische Lehre, die namentlich für die Jugend verderblich sei, den Menschen alles Schwunges, aller ihm doch so notwendigen Erhebung über die engen Schranken der Gegenwart berauben. Sie sehen nicht, die Toren, daß das Jenseits der Gegenwart schon in das Diesseits fällt, daß der Mensch, um über ihre Schranken sich zu erheben, nicht nötig hat, sich ein himmlisches Jenseits zu erträumen; daß er nur einen Blick in seine eigene, in die menschliche Zukunft zu werfen braucht, daß der Gedanke der menschlich-geschichtlichen Fortdauer und Unsterblichkeit unendlich mehr geeignet ist, den Menschen zu großen Gesinnungen und Taten zu begeistern, als der Traum der theologischen himmlischen Unsterblichkeit. Ja, es ist nicht einmal notwendig, über den Lebenskreis des Individuums in das Gebiet der Geschichte auszuschweifen: das Leben des einen und selben Individuums ist selbst schon so reichhaltig, daß in seine eigene Zukunft die Verneinung der Schranken seiner Gegenwart fällt. Was der Mensch noch einst im Laufe seines Lebens wird, das ist ebensogut ein Gegenstand der Einbildung, der Ahnung, der Poesie, liegt ebenso, ja noch mehr jenseits seines gegenwärtigen Bewußtseins und Gesichtskreises, als das himmlische Jenseits; denn eben weil unsere irdische Zukunft unbekannt und ungewiß ist, weil wir jeden Moment als unseren letzten vorstellen können und nach den Lehren des wahren Christentums vorstellen sollen, setzen wir an die Stelle dieser dunkeln Zukunft die gemalte Zukunft des Jenseits.
Das Jenseits ist daher in dieser Beziehung, seiner psychologischen Genesis und Notwendigkeit nach, nichts anderes, als die Vorstellung der Zukunft, die aber der Mensch als einen von der wirklichen Zukunft unterschiedenen Zustand hypostasiert, verselbständigt, gleichwie er die von der Natur abgezogenen und aus ihrem Zusammenhang mit der Materie herausgerissenen Verstandesgesetze in einem von der Natur unterschiedenen Verstandeswesen verselbständigt. Eben hieraus, weil das Jenseits nichts anderes ausdrückt, als die Vorstellung der Zukunft, ergibt sich auch, warum der Mensch es sich schöner denkt als das Diesseits, die Wirklichkeit. Die Übel der Gegenwart fühle ich, aber nicht die der Zukunft; die Zukunft hängt von meinen Wünschen ab; sie ist ganz in der Gewalt meiner Phantasie; sie leistet ihr keinen Widerstand, wie die materielle Gegenwart; sie beschränkt mich nicht; in ihr ist alles möglich; in ihr ist der Bettler Millionär, der Korporal Kaiser, der Mensch Gott.
Aber wie, wenn nun der Mensch wirklich keine Zukunft mehr vor sich hat, aber gleichwohl noch sich eine vorstellt, ist diese Vorstellung nicht der Beweis noch eines jenseitigen Jenseits oder wenigstens seiner Notwendigkeit? Für den allerdings, der seine Vorstellungen zum Maßstab des Seins macht, der aus dem Gedanken, dem Worte, dem Geiste die Welt erschafft, hat es keinen Anstand, aus dieser Vorstellung künftige Welten zu erbauen. Aber für den, der kein gläubiger oder spekulativer Wundertäter ist, ist diese Vorstellung nur ein Beweis und Ausdruck der Natur der Vorstellungstätigkeit. Ich kann in der Vorstellung, wenn ich anders noch zu leben wünsche, mein Leben unbeschränkt und ungehindert bis in alle Ewigkeit hin ausdehnen, aber es ist eben wegen dieser Unbeschränktheit auch nur ein vorgestelltes. Übrigens ist gerade da, wo der Mensch keine Zukunft mehr vor sich hat, wo er sich seinem Lebensende nähert, wo also gerade der meiste Grund zur Vorstellung der Zukunft vorhanden wäre, diese ihm am wenigsten Bedürfnis Übrigens gibt es bekanntlich auch Krankheiten, wo gerade die Vorstellung und Hoffnung einer besseren Zukunft, d. h. hier der Genesung, ein Symptom des nahen Todes ist eine Erscheinung, die, wie andere verwandte, die superstitiösen Psychologen zu ihrem Besten ausgebeutet haben, die Physiologie aber ganz einfach erklärt. Mit dem Gesagten widerspricht auch nicht eine andere psychologische Erscheinung, die ich wenigstens an mir erfahren und in folgendem ungedruckten Aphorismus niedergelegt habe: »Je mehr sich der Mensch der Zeit nach dem Tode nähert, desto ferner stellt er ihn vor, desto mehr schiebt er ihn hinaus; je ferner er dagegen wirklich dem Tode steht, wie in der Jugend, desto näher denkt er sich ihn.« Denn diese Erscheinung hat nur darin ihren Grund, daß die Jugend sich gern mit bloßen Möglichkeiten, Vorstellungen, Träumen beschäftigt, während das reife Alter nur der Gegenwart lebt.; denn seinem Ende nähert sich der Mensch gewöhnlich durch Krankheiten und Leiden; aber in Leiden, wenigstens in schweren, vergehen dem Menschen alle poetischen oder vielmehr scheinbar poetischen Vorstellungen der Zukunft, hat er keinen anderen Wunsch, als von seinen Leiden erlöst zu werden, und sollte er auch diese Erlösung um den Preis des Nichtseins erkaufen. Es ist daher nur ein eitler Vorwand, wenn man das Jenseits lediglich nur um der Armen, der Leidenden, der Unglücklichen willen nicht angefochten wissen will. Der Unglückliche will nichts als das Ende seines Unglücks. Der Tod aber ist das Ende aller Leiden; der Tod ist daher der Wunsch der Not, des Elends, die Unsterblichkeit aber der Wunsch der Üppigkeit, des Luxus. Die Not ist ein Materialist, der Luxus ein Idealist. Die Not verlangt tatsächliche, materielle, zeitige Hilfe; kann ihr diese nicht gewährt werden, so ist ihr Wunsch nicht der geile Wunsch himmlischer Wollüste, sondern nur der bescheidene, negative Wunsch, nicht zu sein, aufzuhören. Der Unglückliche hat kein anderes Bewußtsein mehr, als das Bewußtsein seines Unglücks. Er erblickt daher in dem Tode einen Wohltäter, indem er ihm mit seinem Selbstbewußtsein nichts anderes nimmt, als das Bewußtsein seines Unglücks.
Das Jenseits hat aber nicht nur zeitliche, sondern auch räumliche Bedeutung. Das Jenseits ist das Jenseits dieses Orts; es ist die räumliche Ferne. Der Glaube an das Jenseits ist insofern ein ganz natürlicher, notwendiger, allgemeiner Glaube, denn er ergänzt die Beschränktheit des örtlichen Standpunktes, an den jede menschliche Existenz gebunden ist; er hat also zunächst keine andere, als geographische Bedeutung. Wenn rohe Völker ihr Jenseits in Sonne, Mond und Sterne versetzen, so verlassen sie damit nicht die Erde, denn sie wissen ja nichts von ihrer wahren Entfernung; sie gehören für sie in denselben Raum, den sie bewohnen, nur daß jene oben, nicht mit den Händen erreichbar, sie aber unten sind. Die Frage, wie der Mensch zur Vorstellung eines Jenseits kommt, beantwortet sich also einfach dadurch, daß es jenseits seines Ortes noch andere Orte gibt. Aber die Sinnlichkeit, die Anschauung, gibt ihm nur den Raum; er sieht, daß es immer weiter geht, oder sein Auge reicht wenigstens weiter als sein örtlicher Standpunkt; er ist da mit dem Auge, wo er nicht mit dem Leibe ist. Als ein bloßes Objekt des Auges ist es daher für ihn ein bloßes Objekt der Vorstellung, der Phantasie, der Poesie; als dieses ein schönerer Ort, als der Ort seiner wirklichen, leiblichen Existenz. So wenig der christliche Rationalist bedenkt, daß, wenn die Sterne lebensfähige Körper sind, sie auch bereits von lebenden, ihrer Individualität entsprechenden Wesen erfüllt sind, also kein Platz für fremde Gäste da ist; so wenig bedenkt oder weiß der Unkultivierte, daß diese fernen Gegenden ihre eigenen Bewohner schon haben, die ebenso, wie sie, Wesen von Fleisch und Bein, vielleicht ihr Jenseits gerade an den Ort setzen, der für sie das traurige Diesseits ist. So macht der Mensch die Ferne zum Tummelplatz seiner Wünsche und Phantasien. Was jenseits seiner nächsten Umgebung und ihrer fühlbaren Mängel liegt und welcher Ort, welches Klima ist frei von Unannehmlichkeiten? hält er für etwas besseres; aber wohlgemerkt! nur in der Einbildung; denn in der wirklichen Entfernung von seinem Heimatland ergreift den Menschen gewöhnlich das Heimweh; in der Ferne erblickt er nur die Lichtseiten seiner Heimat, wie in der Nähe nur ihre Schattenseiten.
Wie kommt nun aber der Mensch dazu, in diese Ferne auch seine Toten, und folglich, da er sich mit seinen Toten identifiziert, auch seine eigene ferne Zukunft zu verlegen? Der Mensch weiß, wie schon oben bemerkt wurde, ursprünglich nichts von einem Grunde, einer Notwendigkeit des Todes; er kann sich nicht erklären, warum der Mensch gestorben ist; er hatte ja alles, was er wünschte. Die Toten sind daher für ihn nur verreist, sie haben sich nur entfernt. Wohin sollten sie aber gegangen sein, als eben dorthin in die Ferne, jenseits der Berge oder des Meeres, oder dort hinauf zu den Sternen? Die Toten sind ja nur noch Wesen der Vorstellung, der Phantasie; wo sollten sie also noch sein, als an jenem Ort, der zwar seinem Dasein nach ein Gegenstand des Sinnes, seinem Wesen nach aber nur ein Gegenstand der Vorstellung, der Phantasie ist? Der Ort, der nur der sinnliche Ausdruck der menschlichen Unwissenheit ist, ist der geeignetste Ort für die Wesen, die der Tod aus dem Gebiete der Handgreiflichkeit in das Gebiet der Unwissenheit versetzt hat. Der Ort der Unwissenheit ist ein leerer Raum. Aber der Mensch hat weit mehr als die Natur einen horror vacui, einen Abscheu vor der Leere; er weiß nichts und will doch allwissend sein. So füllt er den leeren Raum seiner Unwissenheit mit den Gestalten seiner Phantasie aus. Aber was sind die ersten reinen Wesen der Phantasie für den Menschen? Die Toten. Der Tod, als die für den noch ungebildeten Naturmenschen unbegreiflichste und zugleich erschrecklichste Erscheinung der Natur, ist daher eigentlich erst die Geburtsstätte der Phantasie und folglich der Religion; denn die Religion ist nichts anderes als die Ergänzung oder vielmehr Vergötterung der menschlichen Unwissenheit durch die Einbildungskraft. Wo das gewisse Wesen aufhört, fängt das vorgestellte, eingebildete Wesen an das Wesen der Religion. Wie das göttliche Wesen, seinem theoretischen Ursprung nach, nichts anderes ist, als die von der Phantasie vergötterte unbekannte Ursache einer natürlichen Erscheinung, so ist das Jenseits nichts anderes, als die von der Phantasie vergötterte unbekannte Ferne.
Diese Bedeutung und Entstehung des Jenseits zeigt sich selbst noch in der philosophischen Vorstellung der Griechen oder Römer, welche die Toten nicht mehr in ein irdisches oder unterirdisches Schattenreich, sondern in den Himmel, in die Sterne versetzte. Die Sterne sind für den Menschen, ehe er sich auf den Standpunkt der empirischen, wissenschaftlichen Anschauung der Natur erhebt als unantastbare, unfühlbare, nur optische, nur als Licht dem Auge sich offenbarende Wesen rein geistige, übermenschliche, göttliche Wesen, d. h. Wesen der Phantasie. Wie die Gegenstände dem Menschen erscheinen, so sind sie für ihn; wie sie für ihn, so sind sie an sich; das Subjektive gilt ihm unbedenklich für das Objektive. Die Sterne sind aber für ihn unkörperliche Wesen; sie sind den groben, materiellen Sinnen entrückt; sie schweben über der Erde, über dem Gebiete der Handgreiflichkeit; sie entziehen sich also den Experimenten der profanen Kritik des Tastsinns; sie sind darum für ihn an sich selbst unkörperliche, höhere, überirdische, himmlische, göttliche Wesen, d. h. eben Wesen der Illusion, Wesen der Phantasie Sonne, Mond und Sterne sich als höhere, überirdische, übermenschliche, himmlische, geistige Wesen zu denken, das ist der Menschheit auf dem Standpunkt der kindlich ästhetischen Anschauung so notwendig, als es ihr auf dem Standpunkt des christlichen Egoismus, welcher die Welt samt Sonne, Mond und Sterne zu einem Wohnhaus des Menschen erniedrigt hat, notwendig ist, sich einen persönlichen, absichtlichen Schöpfer der Natur zu denken, als es ihr aus dem Standpunkt des abstrakten, spekulativen, der Natur entfremdeten, sich selbst überlassnen Denkens notwendig ist, die Logik oder sonst ein spekulatives Gedankending der Natur als Grund vorauszusetzen. Nichts ist daher törichter, als aus der Denknotwendigkeit auf die Seinsnotwendigkeit zu schließen. Wenn deswegen ein Gott ist, weil der Mensch auf einem gewissen Standpunkt ihn als notwendig denkt, so ist auch die Bewegung der Planeten die kreisförmige, nicht die elliptische, denn die menschliche Vernunft denkt notwendig, ehe sie sich durch die Anschauung von dem Gegenteil überzeugt, die Kreisbewegung als die vollkommenste, naturgemäßeste. Man vergleiche hierzu, was Lichtenberg in seinem Nicolaus Copernicus sagt.. Als solche sinnlich geistige oder geistig sinnliche Wesen sind sie aber die entsprechendsten Orte, Ausdrücke, Bilder für die Toten, welche ja von gleicher Natur und Beschaffenheit mit den Sternen sind. Sie sind ja, wie die Sterne, entrückt den materiellen Sinnen, entledigt aller groben Bestandteile, entkörpert; sie schweben nur noch im Äther der Phantasie, sind nur noch dem geistigen Auge sichtbar.
Es liegt übrigens dieser Versetzung der Toten in den Himmel zugleich der Trieb zugrunde, sie zu verherrlichen, daher sie zuerst auch nur besonders ausgezeichneten Menschen zuteil wird So bei den Griechen den Heroen, den Helden. Vom Herakles heißt es bekanntlich bei Homer, daß sein Schatten in der Unterwelt, er selbst aber im Kreis der unsterblichen Götter weile. Was ist dieser Selbst? »Sein Geist.« Was ist aber Geist? Der durch seine Taten berühmte, geschichtliche oder mystische, im Himmel der Phantasie noch lebende Herakles; der andere aber ist ein Schatten, d. i. tot.. Die Bewunderung, die Verehrung, die Dankbarkeit, die Liebe und welchen Wesen gelten diese Empfindungen mehr, als ausgezeichneten, um das Wohl der Menschheit verdienten Menschen? sind poetische Affekte, sind die Homere und Hesiode im Menschen, die seine Götter, wenigstens die Götter, die nicht bloß Furcht und Schrecken ausdrücken, geschaffen haben; denn sie halten nicht Maß und Ziel in ihren Lobpreisungen; sie sind unerschöpflich an Superlativen, sind nur befriedigt, wenn sie die Eigenschaften ihres Gegenstandes auf den höchsten, denkbaren, das Maß der menschlichen Natur übersteigenden Grad steigern. Und sie sind um so überschwenglicher und unmäßiger, je weniger sie noch imstande sind, dem verherrlichten Wesen wirkliche Dienste zu leisten also dann, wenn der Mensch gestorben ist. So lange überhaupt der Mensch am Leben ist, so ist er ja, sei er auch noch so ausgezeichnet, ein gemeines, empirisches Wesen; jeder dünkt sich ihm gleich; er hat ja alles mit uns gemein; er ist ja unser Landsmann; der ist so gut wie ich Mensch, Jude, Grieche; was soll ich mich ihm unterordnen? Der Prophet gilt nichts in seinem Vaterlande, d. h. der Lebende nichts unter den Lebenden. Aber der Tod entrückt ihn der Gemeinschaft mit uns und folglich der Gemeinheit. Jetzt erst gehen mir daher die Augen auf; jetzt erst kann ich ungehindert von meiner Eitelkeit und Selbstsucht ihn fassen und würdigen; mit seiner Individualität, d. h. seiner Wirklichkeit, ist die Scheidewand zwischen mir und ihm, seinem Wesen, seinen Werken, seinen Worten gefallen. Was ich dem Lebenden versagte, das räume ich im Übermaße dem Toten ein. Lebendige sind immer aufeinander pikiert; sie stoßen sich gegenseitig an den Ecken und Kanten ihrer scharf ausgeprägten Individualität; der Tod aber schleift diese Ecken ab; der Tod stiftet Frieden und Versöhnung. Der Tote hat keine Leidenschaften, keine persönlichen Interessen, keinen Egoismus mehr; er regt daher auch unsere Galle nicht mehr auf; er ist für uns nicht mehr Anlaß und Gegenstand egoistischer Leidenschaften; er ist nur noch Objekt der reinsten menschlichen Gefühle, d. h. eben nur noch Gegenstand der Religion Religion im besten, im menschlichen, allein wahren Sinn. Der Tod läßt uns nur das reine Wesen, das Gute übrig; die Schattenseiten, die Mängel, die Schranken des Individuums vergessen wir. Kurz, im Tode stirbt der Mensch als Mensch, als ein Wesen der gemeinen, sinnlichen, ungläubigen Anschauung, um im Geiste, im Gemüt und Andenken der Menschen als Gott, Genius, Schutzgeist er umschwebt uns ja wirklich noch schützend durch Lehre und Beispiel wieder aufzustehen.
Wo wir einem Wesen nichts mehr tun können, da wollen wir ihm gerade alles tun. Das Unvermögen, dem Toten wirkliche Wohltaten erweisen zu können, entschädigt sich nur in seiner Apotheose. Je drückender für uns das Gefühl des Mangels ist, daß wir dem Toten nichts mehr sein und tun können, desto höher schwingen wir uns mit der Phantasie, um die Last von unserem Herzen hinwegzuwälzen. Und je mehr wir den Tod als eine Verneinung empfinden, je tiefer wir den Toten beklagen, daß er sich nicht mehr des Lebenslichtes erfreuen kann, desto heller sehen wir gerade seine Verdienste und Eigenschaften strahlen. Je weniger der Tote selbst empfindet, desto mehr empfinden wir für ihn. Wie natürlich ist es nun, daß das Licht, in dem der Tote in der Phantasie strahlt, in dem Sternenlichte seinen sinnlichen, gegenständlichen Ausdruck findet; wie natürlich, daß im Verherrlichungsdrang seiner Empfindung der Mensch zu dem höchsten und herrlichsten, was er außer sich kennt, seine Zuflucht nimmt, um darin seiner vergötternden Liebe und Verehrung den entsprechenden genugtuenden Ausdruck zu geben!
Diese himmlische, religiöse Bedeutung kommt aber nur den Sternen zu, solange sie Gegenstände der Phantasie sind. Es erhellt daher hieraus, wie oberflächlich, sich selbst widersprechend und töricht das moderne rationalistische Christentum ist, wenn es jetzt noch die Sterne, nachdem sie aus nur optischen und phantastischen Wesen zu mittelbar tastbaren, d. i. wägbaren, körperlichen, irdischen, empirischen Wesen degradiert sind, zur Basis, zum Stütz- und Anhaltspunkt seines phantastischen Jenseits macht. Auf die Sterne, wie sie Gegenstände der Empirie sind, das Jenseits gründen, das heißt den Unglauben zum Fundament des Glaubens, den Zweifel zum Anker der Hoffnung, die sinnliche Wahrheit des Todes, folglich Unwahrheit der Unsterblichkeit, zum Beweisgrund ihrer Wahrheit machen; denn derselbe Standpunkt, der mir die Wahrheit der modernen Astronomie verbürgt, der Standpunkt der Empirie, verbürgt mir auch die Wahrheit des Todes; derselbe Standpunkt, der den Sternen ihre jenseitige, himmlische Natur abspricht, spricht auch den Menschen ihr jenseitiges, unsterbliches Wesen und Leben ab.
Die Vorstellung des Jenseits in der bisher entwickelten Bedeutung, die allein seine wahre, ist nur da am Platze, notwendig, gerechtfertigt, wo der Mensch noch lediglich auf einen bestimmten Ort, eine bestimmte Zeit beschränkt ist und beschränkt sich fühlt. So wie sich der Gesichtskreis des Menschen erweitert, so tritt an die Stelle des Seins im Jenseits das Sein mit der Erinnerung in der Vergangenheit oder mit der Hoffnung in der geschichtlichen Zukunft, an die Stelle der anderen Welt die übrige bisher unbekannte Welt. Das Jenseits findet daher seine wahre Realisation in der Kultur. Die Kultur hebt die Schranken der Zeit und des Raumes auf, sie erhebt mich über die Gegenwart, versetzt mich in die Zeiten der fernsten Vergangenheit, befähigt mich, die Jahrtausende, die ich mit Nichtstun, Nichtswissen und Nichtssein verdämmerte, nachträglich kursorisch durchzuleben, und die kommenden Jahrtausende, wo ich gleichfalls nichts mehr bin, auf Grund der Analogie kompendiarisch zu antizipieren. Ebenso versetzt sie die Genüsse der fernsten Länder in meine Heimat, klärt mir nicht nur den Kopf, sondern auch den Himmel über meinem Kopfe auf, indem sie durch Ausrottung von Wäldern und Morästen die Wolken und Regenbildung vermindert, tilgt so die Schranken meines Aufenthaltsortes, die in mir eben das Verlangen nach einem Jenseits hervorrufen; kurz die Kultur realisiert die Wünsche und Phantasien eines anderen, besseren Seins. Aber freilich kann der Mensch immer noch mehr sich wünschen, als er hat, und alles noch tausendmal schöner und herrlicher sich einbilden, als es wirklich ist. Er träumt sich daher auch jetzt noch ein Jenseits. Aber wenn der Mensch ursprünglich aus Not, Armut, Beschränktheit an ein Jenseits glaubte, so glaubt er jetzt daran ohne Not und Grund, nur aus Luxus; denn er hat ja das Jenseits schon auf Erden, materiell in den Genüssen des Lebens, geistig in den Schätzen der Künste und Wissenschaften. Der Mensch bewahrt überhaupt auch im Fortgang der Kultur die Reste seiner Unkultur, er macht sich ein Gewissen daraus, sie aufzugeben. Dieser heilige Rest, dieses von Geschlecht zu Geschlecht sich forterbende Fideikommis der ursprünglichen Roheit, Barbarei und Abergläubischkeit des Menschengeschlechts ist die Religion, welche, wie die Geschichte augenfällig zeigt, bei allen Völkern in den Zeiten der Kultur nichts anderes ist, als der Götzendienst der Vergangenheit, die Pietät gegen die Vorstellungen und Gebräuche des Altertums, ein deutlicher Beweis, daß die Religion nur in der Gefühls- und Vorstellungsweise der unkultivierten Menschheit ihren Ursprung und ihr Wesen hat. Der Fortschritt der Kultur in betreff der Religion, freilich auch anderer Dinge, bestand, wenigstens bis jetzt, immer nur darin, daß man die religiösen Vorstellungen und Gebräuche der Bildung akkommodierte, sie polierte, das augenfällig Rohe, den gebildeten Menschen Beleidigende abzog; aber den Grund, die Sache, das Wesen läßt man unangefochten bestehen. So hat das Christentum das blutige Menschenopfer abgeschafft, aber es hat an dessen Stelle das psychologische Menschenopfer gesetzt. Der Christ opfert seinem Gotte nicht den menschlichen Leib wenigstens direkt, gewaltsam aber er opfert ihm dafür die Seele, d. h. die menschlichen Triebe und Neigungen, das menschliche Gefühl, den menschlichen Verstand. So haben die modernen Christen längst ihrem Gotte alle sogenannten unmittelbaren Wirkungen, alle Wunder, d. h. alle augenfällig die Vernunft beleidigenden Zeichen und Beweise seiner Existenz abgesprochen; aber sie haben ihm dessenungeachtet nicht die Existenz selbst abgesprochen; sie haben sie nur in die Ferne hinausgeschoben, an den Anfang der Welt, d. h. an den Anfang der menschlichen Kultur, in das Gebiet der menschlichen Unkultur, Unwissenheit und Gedankenlosigkeit. So haben sie denn auch längst die Beschaffenheiten des alten religiösen Jenseits aufgegeben, die augenfällig der Astronomie und überhaupt fortgeschrittenen Kultur widersprechen Beschaffenheiten, die übrigens gerade die richtigen sind, wie denn überhaupt immer nur die alten religiösen Vorstellungen die wahren ( scilicet!) religiösen Vorstellungen sind, eben weil die Religion nur in der Denk- und Gefühlsweise des Altertums, d. h. des Menschen in seiner Kindheit oder Roheit wurzelt; aber gleichwohl haben sie nicht das Jenseits aufgegeben. Es ist zwar nur noch eine bodenlose Vorstellung; die Kultur hat ja den Grund desselben hinweggeräumt; es existiert nur noch, wie einst das Jenseits der Griechen, nachdem es infolge der Erweiterung ihrer geographischen Kenntnisse seine irdische, d. h. wirkliche Existenz verloren, im blauen Dunst des Himmels der Phantasie; aber gleichwohl ist es noch heilig als eine Reliquie aus der guten alten Zeit. Manche Menschen heben bis in ihr spätes Alter die Kleider und Spielzeuge ihrer Kindheit auf; sie können nicht von dem sich trennen, was einst für sie Wert und Bedeutung hatte, wenn es gleich längst für sie unbrauchbar geworden. So macht es die Menschheit mit ihren religiösen Vorstellungen und Gebräuchen. Die Kultur dringt überhaupt bei den meisten sogenannten Gebildeten nur bis auf die Oberfläche; sie räumen ihr nur soviel Platz ein, daß immer noch die gemütliche Roheit und Unwissenheit neben ihr hinlänglich Raum hat; sie lassen sie nur soweit gelten, als sie nicht ihrem Egoismus, ihren persönlichen Interessen widerspricht; sie halten sie daher fern von ihren religiösen Vorstellungen, denn diese hängen aufs tiefste mit ihrem Egoismus zusammen, der aber natürlich nur unter dem heiligen Schutze der Religion das Privilegium hat, nicht für Egoismus zu gelten, indem er seine Furcht vor dem Verlust seines lieben Ichs und Lebens als Gottesfurcht vergegenständlicht und vergöttert. Ja! gerade je weniger Grund und Notwendigkeit zu einem Glauben noch vorhanden ist, je mehr er nur noch Sache der Einbildung, nur Gespenst, nur Ausdruck luxuriöser Rokokoliebhaberei ist, desto mehr flüchtet er sich hinter den Nimbus der Heiligkeit, desto mehr gilt er in der Meinung für das Palladium der Menschheit, desto empfindlicher werden seine Vertreter, wenn man ihre Luftgebilde angreift. So sind auch die Menschen oft weit empfindlicher, wenn man ihnen eingebildete Verdienste und Talente, als wenn man ihnen ihre wirklichen Verdienste und Talente abspricht oder herabsetzt.