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Am Sonntag darauf stritten zwei heimliche Brautpaare unter den Haustüren miteinander auf ganz seltsame Weise.
Das eine stand auf der holprigen Schwelle des Tälerhauses, und Heli, viel schmucker als ehedem gekleidet, sagte zu Lorli: »Jetzt gehen wir wieder so in die Kirche?« – und er deutete auf das Knötlein in Lorlis Stirne. – »Wie soll ich da beten können? Wenn mir immer dieser hübsche Teufel in deiner Mappe in den Sinn kommt, wo man doch wie ein Engel tun sollte!«
Er zitterte über die ganze breite Gestalt. Da steifte Lorli ihre Schultern, nahm ihn an der Hand und führte ihn in den Stickkeller zurück. Einmal musste es ja sein. So nahm sie Papier und Stift, lehnte sich an ihn und erzählte kurz, oft nur mit Mienen und Gesten, dabei aber immer enger an ihn geschmiegt, das Folgende:
Hier sei alles so rein, wenigstens meine sie es. Aber sie sei unrein und komme sich immer mehr wie ein Dieb in diesem Hause vor. Aber wie schwer wäre es fortzugehen! Lieber bekennen, obwohl auch das ihr bis jetzt unmöglich schien.
Er wisse schon, wie sie als Kind herumgeworfen worden, eine Waise und ohne sich mit Worten und Horchen wehren zu können. Wie viel Wüstes habe sie gesehen, als sie es noch gar nicht verstand! Ach und dann habe man sie in alle möglichen Häuser verdingt zu allerlei Diensten; und da habe sie sich extra blöd gestellt und oft weder gewaschen, noch gekämmt, weil sie früh sah, wie man ihre Mädchenschaft, so unreif sie war, schon verderben wollte. Man habe sie geküsst und liebkost, vielmals. Aber Schlimmeres habe sie doch immer verhindern können, da sie wie eine Eidechse wegschlüpfen oder, wenn man ihr den Weg versperrte, grunzen konnte wie ein ungeheures Schwein. Ob er’s hören wolle?
Da wurde er furchtbar neugierig, aber sagte doch: »Ein andermal, Schatz!«
Dann habe die, fünfzehnjährig, einen Posten bekommen als Kammerjungfer. Gerade weil die stumm und taub war und keinen Dreck fürchtete, habe man sie andern vorgezogen. Und allen sei sie hässlich vorgekommen. – »Oh, oh!« machte Heli. –
Sie habe eine Art, die Stirne zu knoten und Mund und Nase herunterzuziehen, dass jeder Zierbengel davon laufe. Ob er’s mal sehen wolle?
Wieder packte ihn eine grässliche Neugier, wie denn das sei oder ob sie jetzt lüge, und wieder überwand er sich und sagte: »Später einmal recht gern! Aber ich würde nur näher kommen.«
Doch in jenem nobeln Hause, wo es im übrigen recht flott und leicht zuging, sei jener Jüngling im hintersten Zimmer krank gelegen, den sie später vor Heimweh so oft aus dem Gedächtnis abgezeichnet habe. Er trug eine scheussliche Wunde am Knie, litt oft furchtbar, aber verbiss den Schmerz grossartig, war nie stolz gegen sie wie die andern, sondern zeigte grosses Interesse an ihr, hatte Mitleid mit ihrem Übel und zwang sie geradezu, besser schreiben und lesen zu lernen, unterhielt sich den ganzen Tag mit ihr, sagte, sie habe einen sehr gescheiten tiefen Kopf und gab ihr wundervolle Märchen zu lesen, und sie meinte, ihr Leben sei jetzt selber eines.
Er sagte zuerst, sie habe eine Hand zum Zeichnen und ein famoses Gefühl, was und wie man etwas schildern sollte. Er zeichnete selbst gar fein. Obwohl sie ihn nicht reden hören konnte, merkte sie doch aus allem, dass er eine ganz andere, schönere Sprache besitze, als sie bisher kannte. Ja, er habe ihr das Lesen vom Munde beigebracht. – Jetzt wurde Lorli rot, denn sie wusste, wie doppelsinnig das klang und auch wahrhaft doppelsinnig sich ergeben hatte. Rasch schilderte sie weiter, wie er zehnmal das gleiche Wort aussprach und sie, der er es vorher aufs Papier notiert hatte, nun Buchstaben für Buchstaben von der Lippe abnehmen musste. So ging es bald von den einfachen zu den schwierigern Wörtern. Er hatte eine scharf geschwungene, herrische Oberlippe, aber die Unterlippe hing sanft herunter wie beim Pfarrer, wie ein Rosenblatt, nur viel bleicher.
Heli knurrte und rutschte ein wenig auf dem Sitz. Sie klebte sich noch heimeliger an ihn, dass sie fast nicht mehr schreiben konnte.
Immer habe sie diesen armen blassen Mund, der fast keine Speisen mehr aufnahm, betrachten, bewundern, zuletzt innig, innig lieben müssen. Es wäre andere unmöglich gewesen. Und mit dem Munde liebte sie auch das andere, vor allem die Augen, die wie weiches Harz leuchteten und die Stirne voll Schatten und den ganzen edeln Menschen. Ja, Heli, ich darf nicht lügen, sonst hat das Beichten keinen Sinn, ich liebte diesen Jungen wie Himmel und Erde zusammen. Er war mir schier ein Gott. Du wirst noch sehen, wie ich lieben kann. Alles musst du wissen. Aber rutsche und bocke nicht so herum, oder ich schweige! Das ist ja jetzt alles vorbei.
Täglich musste ich ihm die Wunde am Knie säubern. Alle andern ekelte der Eiter in der schauerlichen Wunde; nicht einmal die Mutter vermochte zuzusehen. Es roch nach Fäulnis und ging auch mir wider das Blut. Aber nach und nach tat ich’s sogar gern, und der Kranke sagte, selbst der Arzt mache es nicht so gut. Dann beim Auswaschen und Verbinden sah ich, wie furchtbar er litt. Aber er lächelte eigen und sagte: »Nur weiter, ‘s tut gut so!«
So gewannen sie sich nach und nach über alles lieb. Er fing an sie zu küssen und lange, lange an seiner weissen und doch so heissen Wange zu halten. Und sie dachte, so möchte sie es immer haben. Sie fühlte nichts Unerlaubtes dabei. Sie hatte auf der ganzen Welt nur ihn.
Da wurde er nach und nach herrischer, und eines Tages sagte er, fromme Frauen hätten den Pestkranken sogar die Beulen ausgesogen. »Bitte küsse mir die Wunde einmal, dann glaub’ ich, dass du mich lieb hast, und dann heiraten wir uns, wenn ich gesund werde.«
Heli ergrauste. – Und nun solle er hören, wie sie einmal geliebt habe. Sie habe ihm zu willen getan, und er habe ganz selig gelacht und gesagt: nun gesunde er sicher.
Sie fuhr sich über den Mund, als wische sie etwa weg. »Ach, Heli, noch heute weiss ich nicht, soll ich mich darüber schämen oder stolz sein. Verzeih mir, Heli, aber ihn hab’ ich fast zu Tode geliebt.«
»Weiter, weiter,« verlangte der Jüngling und schnaufte gewaltig wie ein Mann.
»Nichts weiter. Wir blieben so. Aber eines Abends griff der Brand plötzlich um sich, noch in der Nacht musste der Arme in die Klinik. Das Bein wurde abgesägt und er starb, noch bevor er’s wusste, am Herzschlag. Ich starb fast mit.«
Sie musste eine Pause machen, auch Heli war aufs tiefste erschüttert.
Aber dann war sie abgehärtet oder verweichlicht, wie soll sie’s nennen? Sie fürchtete die Männer nicht mehr, und das war ihr Unheil. Aber was konnte sie anfangen? Um nicht zu verhungern, musste sie vieles dulden. Zweimal entlief sie einem garstigen Hause, aber einmal fiel sie der Gewalt anheim ... ja, einmal ... Sie barg das Gesicht in Helis Ärmel. – Und daher die Runzel. Für ihr ganzes Leben sei sie eine Unreine, kein strammer, sauberer Mensch würde mehr mit ihr etwas haben wollen. In kein reinliches Haus dürfe sie ihren Schmutz tragen. Auch in Helis nicht? ... oder ... »Ach ... ich möchte doch so rein, o so rein sein wie dein herrliches Mili ...« Mit brennenden Augen hing sie an ihm ...
»Du liebe, liebe, liebe ... Gans!« konnte er nur sagen. Er musste sich mit einem groben Wort schirmen. Er hätte lieber etwas Feineres gesagt. Dafür küsste er sie nun und liebkoste sie und gar nicht ungeschickt, obwohl es sein erster Versuch im Leben war. Und er half ihr Haar und Gewändlein glätten und leicht, als ginge es auf silbernen Rädlein, eilten die zwei zur Kirche. Aber kurz vor dem Tore fragte sie: »Und für wie alt hältst du mich?« und sie zitterte, wie beim vorigen Geständnis nie. »Siebzehn doch nach allem,« sagte er. Da steifte sie nochmals wie zu einem Todessprung ihr niedliches Figürchen und versetzte: »Zwanzig! Und jetzt läufst du weg! o Gott!«
O über solche Evchen! Wenn nicht die vielen Kirchgänger gewesen wären, er hätte sie nochmals umfangen und ihr zwanzig Küsse hintereinander gegeben. So aber sagte er nur ein zweites Mal: »Gans!« –
Ganz anders war der Streit auf der untersten Haustreppe in der Ilge, wo das Mili bei der nun ganz verstörten Bas’ Ida Nachtwache gehalten hatte.
»Diesmal gehen wir miteinander in die Kirche,« gebot Sigi ungestüm. »Arm in Arm. Man soll wissen, dass wir verlobt sind.«
Aber Mili sträubte sich, so sehr ihre ganze Seele Ja, Ja sagte. Ihr Stirnhaar flog golden auf, sie blies und schnob leise in den Flaum der Oberlippe und beharrte dabei, es sei ihr noch unmöglich. – Ob sie sich denn schäme? – Torheit, stolzieren würde sie mit ihm. – »Nun also denn!« schrie er wütend. – Es sei etwas in ihr, das dagegen stehe, sie wisse nicht was, vielleicht weil die Mutter drinnen so schwer krank liege und mit ihrem Irrereden ihm, dem Mili selber, den Sinn fast verrückt habe. Immer wieder habe sie vom Turm gefabelt; er falle auf euer Haus und töte. – »Entsetzlich war das zu hören. Und immer wollte sie ›Sigi‹ sagen und konnt’ es nicht recht. Immer schien es, sie sehe dich stürzen zusammen mit dem Turm. Mir krachten die Ohren vom Gerede.«
Einen Augenblick stutzte Sigi und die Augen verschwammen ihm im Schwindel, so dass er rasch nach der Lehne tastete. Was war nun das? Ein Sturzgefühl wie damals am Fenstergesimse, als er dem Johannes oben am Zifferblatt zusah, fuhr ihm schaudernd die Beine hinauf. Aber er ermunterte sich sogleich, stülpte das Pagodendächlein trotzig auf und sagte, jedes Wort mit seinen gepressten gelben Zähnen markierend: »Nun erst recht müssen wir zusammengehen, bevor der Turm umfällt und uns mausetot tötet. Die Leute müssen uns wenigstens einmal als Brautpaar gesehen haben.«
Da legte Mili beide Hände auf ihre Brust. Das tat sie nur, wenn ihr dringend schwer war. »Sigi,« flehte sie, »um Gottes Willen, nur heute noch nicht. Lass mich so, für mich allein, bitte, bitte! ... oder noch besser, ich bleibe bei der Mutter ...« Und hastig schlug sie den Arm um ihn, drückte ihm, sehe es, wer es wolle, einen tiefen Kuss auf die rechte, in die Stirne hinaufgezückte Braue und verhuschte hinter der Türe des Krankenzimmers.
Sie ist noch nicht mein, fuhr es Sigi geheimnisvoll durch den Kopf. Da spukt etwas herum, Herrgott, was ist es denn? ... Und er fuhr sich über die Stirne, als wäre er in ein Spinnetz geraten. Wie er auch rieb, immer noch fühlte er einen unbequemen Faden hier und einen dort. Es muss im Kopfe selber sein, murrte er. Bald weiss ich nicht mehr, was innen und was aussen ist.
Dann strich er die hübsche Haarscheitel zurecht, zupfte die Krawatte glatt, besah die Bügelfalten und glänzenden Schuhspitzen und ging langsam in die Kirche. Darf man beten, betete er, um eine baldige Heirat, zu dir, o Gott? Oder ist das etwas zu Kleines für deine Majestät? Wenn man darf, so gib mir das Mili rasch oder dann lass mich noch rascher von deiner bittern Welt abfahren!
Als nun der Kaplan das Evangelium falsch und heiser wie immer gesungen hatte, schritt Carolus in Chorrock und Stola, das Barett in der Hand, feierlich auf die Kanzel. Es war etwas Geläutertes, Helles über seinem tiefroten Apfelgesicht. Er hatte diesen Morgen früh eine ungewöhnlich grosse Schar Frauen und Halbwüchsige um seinen Beichtstuhl getroffen, und was er da unter dem heiligen Siegel der Verschwiegenheit vernahm, machte ihn noch viel milder und demütiger, als er an diesem Morgen ohnehin war. Ach, wie begriff er alles, alles, diesen Argwohn, diese Unruhe, diese Zanklust und Rechthaberei, diese Missverständnisse und Gehässigkeiten, auch gegen ihn, ja, gegen ihn ganz besonders. Wohl flüsterten Frauen durchs Gitter und Kinder; aber gerade so erfuhr er ja am unbefangensten, wie in einer Abspiegelung, die Nöte der Männer, die zwischen Frau und Kindern ihre Tage schwerer und leichter durchhauen. Wie verzeihlich war alles in diesem engen, gedrückten Arbeitsleben. Fast konnte es nicht anders sein.
Die vielen Weiber und Kinder hatten ohne Zweifel ihrem Seelsorger in seiner Kümmernis diese heimliche sakramentale Freude bereiten wollen. Einigen Müttern hing ein Tautropfen reinsten Mitleids an den Wimpern, etliche Kinder hatten jenes junge wunderbare Lächeln auf den Lippen, als er ihnen die Hostie reichte, jenes himmlische Lächeln, das beschwört: alles sei schön und lieb und gut, und nach dem Herrgott sei der herrliche blauäugige Riese da vor ihnen in seinem weissen Chorhemd, mit der goldfunkelnden Stola und dem prachtvollen Kelch und mit seiner so vertrauten Stimme, auch wenn sie Latein redet, der beste und schönste und liebste aller Menschen.
Nein, ich bin nicht verlassen, dachte Carl. Diese Kinder ahnen schon mein Leid, und diese Frauen vergeben auch mein Verschulden. Gut ist deine Welt und Menschheit, o heiliger Gott, geschaffen.
Aber auch einige ergraute Männer und Sigi waren zum Altar getreten; dieser Sigi, der jetzt täglich zu Carl ins Pfarrhaus kam, seine schlechten Witze losbrannte und wider Willen im weitern Gespräch unter viel Trübem und Eitlem ganze Blöcke seines tiefsten, heimlichsten Goldgrundes emporschaffte. Sobald er’s dann rein auffunkeln sah, ward er unwirsch und schüttete das Streusand neuer Spöttereien darüber. Aber es war nur Sand. Wohl dutzendmal im Tage heischte er vom Pfarrer, er solle dieses Volk doch nicht so ernst nehmen; sondern sich einprägen, dass die gleichen Menschen ihn im Hui siebenmal hassen und siebenmal lieben können. Was habe dann so ein Stürmchen auf sich! Nur der Himmel kenne wohl eine Liebe ohne Anfang und Ende. Er, Sigi, nicht einmal den Anfang recht ... Kurz, dieser Jüngling war in wenigen Tagen Carls sonderbarer, neckender, widerspruchsvoller und im Grunde doch erquicklicher Freund geworden.
Carl stand jetzt hoch auf der Kanzel und bemerkte sofort vorne in der Bank Sigi mit dem eleganten Haarschnitt und tadellosen Rock, und neben ihm als Gegenspiel den Matthias Minz, den »billigen« Sargmacher und Brettermeister am Turm. Er hatte Augen so schwarz wie seine Särge und stand auch im schwarzen Kleid so steif und düster in der Bank wie ein aufgestellter Totenbaum. Aber er schien auch so treu und dunkelgütig zu sein wie der Sarg, dieses bei aller Härte so gastliche Haus aller, gar aller, auch derjenigen, denen sich jedes andere, selbst das elendste Hüttlein verweigert hatte. Eine solche harte, grausame, unheimliche, aber bestimmte Güte lag deutlich über dem hölzernen Gesicht des Matthias. –
Der Kaplan sass im Messkleid am Seitenaltar und horchte gespannt, wie der Pfarrer in den von ihm mitredigierten Passus überleiten werde. Die Backenmuskeln in seinem mageren Gesicht zuckten fieberhaft. Stumpf und gleichmütig, dünkte ihn, füllten die Männer die rechte Seite des Schiffes und taten, als hören sie der Predigt nur zu, weil sie eben nicht anders dürfen. O sie werden die Ohren bald gehörig spitzen. Der Corneli ragte wie ein Schneegipfel in den Voralpen aus allem Volk heraus. Kalt und fromm stand er da und betete. Der Pfarrer hob mit seinem einzig schönen Bass an; dem Kaplan fing das Herz unter der steifen Kirchenseide stürmisch an zu klopfen.
Nachdem Carl vom Guten Hirten und von seinen folgsamen und verirrten Schafen gesprochen, lenkte er über, es gäbe nur einen wirklich guten Hirten. Alle andern, seine Unterhirten, seien fehlerhaft und genau wie bei den Lämmern gäbe es bessere, mittelmässige und sogar etwa auch einen ganz schlechten Hirten. Dann fuhr er mit einer plötzlich veränderten, leisern, aber noch bestimmtern Stimme fort: »Ich bin wahrhaft keiner von den bessern Hirten. Doch ich möchte es gerne sein. Aber da hab’ ich schon einen Fehler begangen, als ich in die Pfarrei kan. Ich meinte, ich könne alles allein machen. Ich meinte so, weil ich in meinem früheren Sprengel sozusagen musste alles allein machen. Aber das ist keine Entschuldigung, und mein Erstes hier hätte sein sollen, euch anzugehen, dass ihr mir helft, ein besserer Hirte zu werden, wie ich euch heile, bessere Schafe zu werden.«
Jetzt passte alles auf, man stupfte sogar die Schläfer, dass sie aufhorchen; da tönte es sonderbar von der Kanzel.
»Das also habe ich unterlassen,« rief der majestätische Bass von der Höhe. »Ich glaubte immer, ich könne vieles allein machen, was man eigentlich doch nur miteinander recht gut machen kann. So ging es mir mit diesem Gotteshaus. Mich verzehrte fast die Sehnsucht, Gott dem Herrn sein irdisches Heim recht würdig zu gestalten, vor allem ihm einen höheren Turm zu geben und damit unser Heimweh nach jenen Höhen auszusprechen, wo allein der wahre Friede ist. Und wieder glaubte ich, das besser allein zu schaffen. Ich wusste, dass ihr in euern vielen nüchternen Tagessorgen es weit schwieriger habt, diesem Gedanken zu folgen. Aber darum hätte ich es doch nicht allein besorgen, nicht gegen euch erzwingen sollen. Ich musste geduldig warten, warten, warten, bis ich euch nach und nach mit dem gleichen Weine der Begeisterung erfüllt und mitgerissen hätte. Das war wieder mein Fehler.
Wenn ich nun einem oder vielen von euch damit weh getan habe, so bitte ich alle diese von diesem heiligen Platze aus, der weder Lüge noch List leidet, verzeiht mir! Es geschah ohne bösen Willen. Und wenn einer unter euch ist, gegen den ich besonders hart schien, weil ich ihn als unbelehrbaren Gegner betrachtete, so bitte ich diesen lieben Bruder noch ganz besonders um Verzeihung ...
Und endlich, meine Brüder, wenn ich mit dem Ambrosiusbilde über der Kirchentüre schuld an einer unfreundlichen oder sogar kränkenden Auslegung bin, so bitte ich vor allem den, der am meisten darunter litt, es mir nicht nachtragen zu wollen. Eines ist ja wahr, ich wollte mit diesem Bilde alle warnen, die der Kirche zu nahe treten. Aber es wäre ein Irrtum gewesen, euch und eure Führer, die der Kirche so treue Kinder geblieben sind, mir darunter vorzustellen. Wenn je ein solch schwarzer Gedanke mich beschlich, er ist längst wie ein giftiges Insekt und für immer verscheucht. In diesem Fresko am Eingang sehe ich von heute an nichts anderes als die Freundschaft zwischen Kirche und Staat, die Bruderliebe zwischen Geistlich und Weltlich, den Händedruck zwischen Hirt und Herde, wie ja auch Ambrosius und Theodosius die zärtlichsten Freunde geblieben sind ...«
Ausgezeichnet, dachte der Kaplan, und nun sag’ sofort Almen. – Ausgezeichnet, dachte auch Sigi, und wie tapfer! Aber unsere Plebejer können diese Höhe nicht fassen. Heil und Lorli aber begriffen nichts. Ihnen schien, heute müsse die ganze Menschheit ein Herz und eine Seele sein.
Cornelius traute zuerst seinen Ohren nicht. Aber wahrhaft, so scholl es: »Den, der am meisten darunter litt.« ... Eine Hitzewelle überschwemmte ihn vom Kopf zu Fuss. Diese laute deutliche Abbitte kitzelte ihm das kühle Herz unendlich wohlig. Scham, Triumph, Rührung wollten ihn überwältigen und machten seine Lippen zucken.
Aber wird er Wort halten? »Den, der am meisten darunter litt,« solches ist flink gesagt. Aber sagt er auch etwas vom Gutmachen? Ruft er die Kirchenräte zu sich? Liefert er ihnen jene schwere unkontrollierbare Geldkatze aus? Hört er mit dem Turmbau auf? Keine Silbe davon. Wir sollen verzeihen und er soll weitersündigen! O ja, es wird im alten Takt weitergespielt. Er ist und bleibt ein schlauer Appenzeller ...
Links und rechst sah Carl indessen doch die Männer vom Wehen seiner Rede erfasst sich ins Haar greifen, an den Hosen kratzen und kaum noch wagen, zur Kanzel empor zu blinzeln.
Inzwischen aber hatte Carl, ermutigt von diesem Wald von windgebeugten Köpfen tief unter ihm, gegen alle Verabredung mit Eusebi, sich von seinem seelsorgerlichen Herzen fortreissen lassen und fuhr nun im Stegreif fort:
»Nun aber, ihr lieben Pfarrkinder, wenn der Vater sich cor euch wegen seiner Schwachheit neiget, so neiget auch euch in eurer Schwachheit vor ihm! Gegen wen von euch habe ich denn eigentlich gesündigt? Wo hab’ ich mit Wissen etwas verübt, was euch verletzen oder schädigen sollte? Gegen einen einzigen von euch bin ich schuldig, und schuldig nicht in der Art eines Feindes, sondern eines ehrlichen Gegners. Aber jetzt lasset mich eure Ehrlichkeit gegen Gottes Sonne halten und ihre Fäden prüfen. Sind das ehrliche Gegner, die gestern schimpften, ich hätte das Geld für den Turm verschleudert, und die heute alles täten, um den Bau zu hindern? Was wird diese Sorte morgen probieren? ...«
Ach, Mensch bleibt Mensch. Die ganze Bedrängnis und Bitterkeit, die sich seit Wochen in diesem schönen apfelroten Haupte angesammelt hatte, entlud sich jetzt. »Oder sind das ehrliche Gegner, die wissen, dass ich auf die Goldstücke lache wie auf Kieselsteine und oft meinen letzten Franken aus der Tasche gebe, und die dennoch munkeln, dass man mir kein Geld anvertrauen dürfe, ohne Tag und Nacht einen Sperber darauf zu setzen, damit ich keine langen Finger mache? ...«
Bravo, bravo, schrie Sigis Herz. Das ist der alte Haudegen. Den brauchen die Spiesser hier. Und Sigi suchte die aufloderndes Augen des Pfarrers mit seinen heissen grünen Blicken zu treffen und noch wilder zu entfachen. Aber der Kaplan wand sich auf seinem Samtstühlchen vor Leid hin und her und betete leise: Piano, Carl, piano! O Gott hilf, er reisst wieder alles nieder! – Nur der Matthias lächelte still und düster bald den hitzigen Pfarrer oben, bald den noch hitzigeren Sigi an. Dieses dunkle starre Lächeln schien zu fragen: Wozu diese komische Aufregung. Ich sarg’ euch doch einmal wie stumme, steife Puppen in meine sechs Bretter hinein.
»Sind das ehrliche Gegner, die mir in der Grippe die Hand küssten und mir ewigen Dank gelobten und die ein paar Wochen später am Bierglas maulten, man sollte mich auf einem Schubkarren je bälder je besser zur Gemeinde hinausschieben? Oh ihr, die es trifft! ... Ehrlichkeit, Ehrlichkeit! Die härtesten Gegner finden sich einmal in Liebe, aber mit Unehrlichen gibt es keinen Frieden.«
Lenk ein, Carl, lenk ein, flehte Eusebius heimlich und rutschte in furchtbarer Not auf dem Polster umher. Lenk ein, wenn es noch möglich ist, du Sturmwind ohnegleichen. Ach nein, nun ist alles verloren.
»Seien wir ehrlich, Freunde,« rief Carolus gewaltig. »Nichts ist ehrlicher als Gott, und nichts Unehrliches lässt er zu sich. Von heute an sei darum die Ehrlichkeit unsere Losung. Ehrlichkeit im Glauben und Lieben, Ehrlichkeit in jedem Gedanken und Wort, aber auch im Widerwort, in der Kritik, in der Gegnerschaft, Ehrlichkeit immer und überall! Nie tut diese schöne heilige Ehrlichkeit weh, sondern sie macht das Kranke gesund, das Gesunde heilig, das Heilige selig. Diese scheinbar so kalte, aber im Grunde so heissblütige Tugend, die ja nichts anderes ist als die Sancta et Pia Justitia des Evangeliums, möge uns in einer aufrichtigen, treuen Familie zusammenschweissen und über den holperigen Erdenpfad dereinst zum ewigen Vater führen, Amen!«
Den Männern geschah, als hätte man sie ein Weilchen über die Backen gestreichelt und ihnen dann eine heillose Maulschelle versetzt. Waren sie hart in die Kirche gekommen, noch viel härter gingen sie hinaus. Nun leugnet er uns noch die Ehrlichkeit, grollte es dumpf, stempelt uns zu Lügnern und Diebsseelen. Aber wer riegelte plötzlich, ohne ein Wort zu sagen, die sämtlichen drei Türen der Kirche, um im Dunkel seine Querköpfigkeit durchzusetzen? – Ehrlich! Warum will er dann eine Geldkasse ohne Kontrolle? Warum scheut er alles öffentliche Hantieren mit dem Kirchenrat? Ehrlich, leicht gesagt, schwer getan!
Nun gut, wenn morgen am Turme keine Zuber auf- und niedergezogen werden, keine Schaufeln klatschen, kein lebendiges Bein im Gerüste herumklettert, wenn morgen der Pfarrer seine Gelder in unsere öffentliche Kirchenkasse schüttet und dem Corneli die Rechnungen und Verträge des Turmbaues sauber auf den Tisch legt: dann wollen wir dem Appenzeller wieder glauben, sonst ... bei Gott, geht es so nicht weiter. –
Aber am Montag lief es rege seilauf seilab, die Kalkgrube dampfte, die Steinblöcke klirrten, Matthias Säge kratzte schaurig durchs Bretterholz und die Befehle Fornis, halb deutsch, halb welsch, polterten gröber all sonst durch das Gestänge und Gemäuer. Auch rollten keine Goldstücke aus dem Pfarrhof. Nichts, gar nichts schien sich trotz der pompösen Predigt geändert zu haben, und die dumpfe Gärung wuchs und suchte wie ein wildes Schluchtwasser nach dem donnernden Ausgang.
Und wie in solchen gewitterschwangeren Zeiten Krähen und anderes finsteres Gevögel nahe fliegt und uns mit ihrem Krächzen fast den Kopf streift und die Stechmücken uns unheimlich bedrängen und unser Blut siedet und alle Vernunft überschwillt, so zogen jetzt eine Menge Gerüchte herum, wovon ein jedes die Unruhe mehrte und die Spannung der Gemüter noch steigerte. So hiess es, der Geiger Schül sei vom Chef wegen seinem Schlendrian von heute auf morgen aufs Pflaster gesetzt worden. Die Siria sei nachts im Dorfe gewesen, habe umsonst am Pfarrhofe gepocht, sei dann ihrem geliebten Vagabunden ins Elend nachgerannt. Fast die volle Hinterlage sei an den Pfarrer zurückgegangen. Der schwimme jetzt im Fett, während jene zwei Unseligen seinethalben im Staub und Laster verkommen. So etwas! Und da werden Himmel und Hölle gegen einen schlichten kleinen Dorftanz geläutet! – Und weiter: Der Bischof habe Carl mehrmals geboten, vom Posten abzutreten. Aber Carl sage jedesmal: nein! Und so einer will Gehorsam! – Und die Ilgenwirtin schreie in ihrer Verrücktheit von nichts als vom Turm. der Turm habe ihren Geist verstört. Man bringe sie nicht vom Fenster weg. Da sitze sie und starre am Turm empor und sei wie eine Bildsäule. Dann plötzlich schrecke sie auf, zerre den Flügel auf und schreie den Leuten auf der Gasse die unmöglichsten Dinge ins Gesicht, kenne sie und kenne sie handkehrum nicht mehr und lache und weine und nicke wieder wie eine Schlafende ein. Aber auch mit dem blitzblanken Sigi soll es im Kopf hapern. – Und fragt man, woher all diese Grausamkeiten, so zeigen hundert Finger zum Pfarrhaus, wo Carolus in dicken Büchern liest, den Rosenkranz betet und von all dem nichts zu wissen scheint.