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»Ah, Ecclesia militans!« grüsste ein schmaler, kränklicher, papierweisser Priester und lüpfte das Samtkäpplein auf dem Kahlkopf, als Carolus mit gezogenem, steifem Hut in die Kanzlei trat. Der Kanzler sprang von der Morgenpost, die hochgeschichtet auf seinem Sitzpult lag, dem alten Schulkameraden lebhaft entgegen. Aber das fadendünne Lächeln, das sein eingefallenes Gesicht noch erschreckender zeigte, schien dem ehrlichen Landpfarrer sogleich von diplomatischer Höflichkeit.
»Ecclesia titubans, salve!« erwiderte Carl schallend. »Lieber Klaus, wie hältst du’s nur aus in diesem Amt der tausend schiefen Ebenen und Rücksichten? Du bist doch immer ein gescheiter, ganzer Kerl gewesen. Wenn Athanasius solche Rücksichten getrieben hätte mit den verschiedenen Konstantin und Konstans ...«
»Konstantin der Grosse und Athanasius der Grosse in Lustigern! Unsere Diözese darf sich zu solcher Weltgeschichtlichkeit gratulieren,« meinte der Kanzler und zog Carl auf einen Sessel nieder. »Hast du übrigens gefrühstückt, Carli, du siehst mir nicht danach aus.«
Carolus verneinte. Nur bei einem Brunnen an der Uzliger Station habe er Wasser getrunken.
»Ach, natürlich, diese Heroen! An Essen, Schlafen, Schuh und Strümpfe ... an so was Alltägliches denken sie nicht.« Er drückte den Klingelknopf. »Einen Tee und Zwieback!« befahl er der Magd auf der Schwelle.
Carl blickte über die Hosenbeine hinunter. Wahrhaft seine niedrigen Schnallenschuhe waren nicht gewichst, und aus einem Strumpfloch gähnte der nackte Knöchel.
Beschämt strich er die Hosen hinunter. »Meine Peregrina ist alt und noch immer ohne rechte Aushilfe,« entschuldigte Carl. »Wenn ich den Hosenträger lockere, sieht man es nicht.«
»O was macht so ein Loch? Das stopft unser Bischof bald violett zu. Wie könnte er anders? Patriarchenstühle hat er keine zu vergeben, aber doch violette Strümpfe und Kragen, tröste dich! Es sind zwei leere Sitze im Kanonikat!«
Leise brummend ertrug Carl Bischof diese süssen Bosheiten, trank den Tee und ass die gebähten Brötchen. Butter und Honig liess er unberührt.
»Bleib’ mir mit Violett vom Leibe,« schimpfte er endlich. »Aber sorget ihr für ein wetterfestes, klerikales Schwarz, das wenigstens!«
»Da sind,« fiel Klaus Mull, der Kanzler, geschmeidig ein, »eben die Briefe des heiligen Franz von Sales erschienen.« Er zeigte auf einen kaum angeschnittenen dicken, broschierten Band. »Da kann man lernen, ob es keine Rücksichten im Evangelium gibt. Rücksicht, Vorsicht, Nachsicht, um nie die klare Sicht über das Ganze zu verlieren. Deinen Athanasius hat man doch zuletzt noch gerade wegen seinen evangelischen Rücksichten angefeindet, dieser Lucifer von Caglari und andere Luciferi! O die Luciferi! Das sind spassige Lichtbringer!«
»Du kommst mir selber etwas spassig vor, hast du ein Gelübde abgelegt, heute in jedem Satz zwei Witze loszuknallen? Klaus, Klaus, weisst du noch, wie wir im Seminar die Ghibellinen zusammenschlugen?«
»Was hatten wir anderes in unserer Begeisterung zu tun? Wir mussten uns einen Gegner erfinden. Aber jetzt haben wir ihrer so viele, die schon vor uns da waren, dass wir nicht auch noch Gerümpel aus dem Mittelalter hervorzuholen und abzustauben brauchen, gewiss nicht!«
»Gerümpel,« fuhr Carl halb im Zorn, halb wehmütig auf und setzte die Tasse ab. Fast reute ihn, von so einem Zehrung empfangen zu haben. »Gerümpel!« wiederholte er leiser. »Wohin, Freund, ist es mit dir gekommen?«
»Dahin,« versetzte ohne Pause und sehr ernst der Kanzler, »dahin, dass ich zuerst den Ghibellinen in mir selber unterwerfe. Jeder hat ein Stück davon, auch wenn er meint, der gehorsamste Welfe zu sein. Diese Sucht zu kommandieren, diese Freude an der Strenge, dieses Kleben an eigensinnigen Kleinigkeiten, diese Verehrung der Formen und dieses sich immer in die Mitte Stellen und sich mit Gott und der Wahrheit und Gerechtigkeit Verwechseln ... ohne nur einmal zu merken, dass die Selbstliebe in uns grösser ist als alle Gottesliebe und Nächstenliebe in uns zusammen ... o das ist das Ghibellinische in uns allerstrammsten und offiziellsten Welfen. Und da soll ich aus der Rumpelkammer des elften oder zwölften Jahrhunderts alte, rote Lappen holen, wo ich nicht genug Tag’ und Jahre habe, um mich und mein heutiges Leben und Amtieren in Ordnung zu halten!«
»Du bist ein Diplomat und drehst die Sache nach deiner Seite. Ich meine nichts als die Ehre Gottes.«
»Das meinen wir alle und im besten Meinen spinnen wir schon wieder an einem Lumpen eigner Ehre.«
Die Stadt, die nahe Regierung, die gegenseitigen Konzessionen und Komplimente, dachte Carl, und dann die juristischen Spitzfindigkeiten! »Kann ich sogleich zum gnädigen Herrn?« fragte er laut. Es schien ihm unmöglich, bei solcher Sophisterei länger Worte zu verlieren.
»Komm nur, wir spazieren im grossen Klostergang. Dann sehen wir gerade die Herren weggehen.«
»Welche Herren?« fragte Carl ärgerlich. »Tu doch nicht so grossartig bei einem Kartoffelpfarrer! Was weiss ich von Herren? du ... du ...!«
Ganz erstaunt sah Klaus Mull den Pfarrer an und schüttelte den Kahlkopf. »Du, pass auf! Mit solcher Wildheit lass ich dich nicht zum Bischof. Was hast du eigentlich? Bist du krank?«
»Nein, verzeih,« bat Carl sogleich reumütig, »schau, ich habe nicht geschlafen. Das Bett blieb unberührt. Jetzt merk’ ich’s ...«
»Armer du!« bemitleidete ihn der Kanzler und schob herzlich den Arm in den Ellenbogen seines Freundes. »Komm!« Und indem sie durch den geplättelten Hauptgang der ehemaligen Abtei mit den vielen, hohen Fenstern wandelten, an den Statuen der Gallus, Fridolin und Bruderklaus vorbei, die aus ihrem frommem Stein etwas Erhabenes vom Himmel und zugleich etwas Gemütliches von der kleinen Schweiz hervorschauen liessen, erzählte Klaus Mull, dass hochstehende Regierungsmänner beim Bischof seien, um ihn mit Komplimenten oder Drohungen für ihre antikirchlichen Pläne zu gewinnen, wenigstens sein Schweigen zu erkaufen.
»Siehst du!« bemerkte Carl empört.
»Distingue bene!« riet Klaus. »Hier ... aber ... schau, da kommen sie ja ...«
Aus einem engen Korridor, drei Stufen empor, schritten fünf Herren in langen Fräcken und den Zylinder noch in der Hand auf den weiten Flur hinaus, wo die beiden Kameraden spazierten. Sie hatten alle rote Ohren und die Hälse ordentlich in den Kragen gebogen. Einer fuhr mit weissem Nastuch über die Stelle, wo Stirne und Schädel haarlos ineinander fliessen. Sie sprachen keinen zusammenhängenden Satz, stiessen fast aneinander und äugten wie kurzsichtige Hühner über den breiten Gang, wo es wohl treppab gehe. Sie vergassen noch immer, ihre Hüte aufzusetzen. Einer zeigte mit dem Finger: hier! Ein anderer: nein, da geht es ins Münster hinab! Endlich kam der Schweisstrocknende, der Präsident wohl, der in der Audienz am meisten gegeben und empfangen haben mochte, zu den Zweien und fragte mit künstlich gehärteter Lippe: »Meine Herren, geht es da rechts oder links hinaus?«
Bei diesem sonderbar betonten Hinaus mussten beide Priester unwillkürlich lächeln. Sie fühlten es deutlich diesem Wort an, mit was für einer dringenden, wilden Sehnsucht diese Männer aus einer so dunkeln klerikalen Gewalt und Gebäulichkeit in die frische Luft hinaus zu entrinnen suchten.
»Links in der Mitte, Herr Nationalrat, führt die grosse Stiege in den Hof. Dort finden Sie sich dann schon wieder zurecht ...«
Er überhörte den Witz der letzten Worte. Im Nu waren die Fräcke verschwunden.
»Ecclesia titubans, wie?« neckte der Kanzler.
»Ach, Kläusli, hier wird so einem Provinzler, wie ich einer bin, ganz wirr. Bitte, führ’ mich rasch ad Celsissimum, so ist’s vorbei! Vielleicht treff’ ich’s jetzt gerade günstig!«
Der Kanzler pochte sehr laut an ein grünwattiertes Pförtlein im schmalen Seitengang, öffnete sofort und schob den gewaltigen Pfarrer über die Schwelle. In einer Mischung von Ernst und Heiterkeit stellte er vor: »Carolus Bischof, Parochus Allegriorensis, vulgo von Lustigern!«
Aber da stand in der Mitte der freundlichen Stube, zwischen Blumenstöcken, Tischen voll Schriften und alten Prälatenbildern mit Stab und Adelskrönlein, ein noch Gewaltigerer. Carolus geborner Bischof stand vor Gregorius von Gottes Gnaden Bischof. Der Kanzler verneigte sich tief, aber mit höfischer Eleganz und schloss von aussen die Türe.
Carl liess sich ehrerbietig aufs Knie nieder, küsste den Ring am bischöflichen Finger und fühlte sich sogleich von diesem einzigen Finger unwiderstehlich in die Höhe gehoben, so dass er nun Gesicht gegen Gesicht vor seinem Meister stand. Und wieder, wie jedesmal in dieser Lage, schoss der Einfall durch sein raschdenkendes Haupt: er trägt doch dünne violette Pantoffeln und ich stecke in Stiefeln mit Absatz und dicken Sohlen, und doch ist er mir noch um einen guten Zoll voraus ...
Bischof Gregorius blickte ihn mit seinem schönen Charakterkopf voll Majestät an. Aber das weisslichgelbe Elfenbein seines Antlitzes war so gelassen und mild, als hätte er eben in einem totenstillen Erbauungsbuch gelesen, nicht mit fünf heillosen Staatsomnipotenzen gekämpft. Ruhig floss das vornehme Violett seines Kleides zu Füssen nieder, während das seidene Solideo auf dem schneeweissen Haar glänzte wie das letzte zarte Abendrot auf einem Gletscherhaupt. Die Stirne wie ein Fels durchzogen feine Risse von allen Frösten und Blitzen des Amtes. Aber da war dennoch keine Spalte, noch Zerbröckelung. Diese Kerbe und Schnitte schienen das Gesicht eher zu festigen als zu lockern. Ein unbesiegliches Rechtsgefühl sprach sich in jeder Linie und Geste dieser hoheitsvollen Figur aus. Carl hatte sich absichtlich auf keine Rede vorbereitet. Er wusste, dass alles Vorgefasste sich hier in der ersten Sekunde verflüchtigte.
»Hochwürden kommen eine halbe Stunde zu spät!« begann die klare Stimme des Oberhirten.
Rechtfertigend blickte Carl zur Standuhr, die exakt die angezeigte zehnte Ziffer wies und das Pendel schwer, beinahe stöhnend hin und her schob.
Gregorius lächelte über diese Buchstäblichkeit. »Ich meine zu spät für die Ratsherren soeben, diese Kantonskönige!«
»Zaunkönige eher ...« entschlüpfte es Carl.
Verweisend pausierte der Bischof ein Weilchen. »Diesen Kantonskönigen, meine ich, hätten Sie prächtig Gelegenheit gefunden, Kirchenrecht zu dozieren. Hic Rhodus, hic salta!«
ein dumpfer Glaube stieg im Pfarrer auf, seine Sache beginne auf diese Art höchst unvorteilhaft. »Die Herren wollten,« stotterte er ...
»Papst und Kaiser in einer Haut sein!«
»Das möchte auch der Gemeindeammann von Lustigern.«
»Untersuchen wir den Kasus einmal,« entschied Gregorius kühl und lud den Pfarrer mit einer edelmännischen Geste ein, zu ihm an den Tisch zu sitzen. Gleichzeitig schob er sich ein Schock Papiere näher heran, entfaltete einen vergilbten Bogen und sagte mit seinem weichen, melodischen Bündnerdeutsch: »Erzählen Sie!«
Carl hatte einen Wald von Klagen gewusst, wo ein Gipfel über den andern hinausschlug. Jetzt, wo er fällen und Stamm für Stamm hertragen wollte, fand er plötzlich keine rechten Bäume mehr. Beim Zifferblatt hatte Corneli ungern, aber eben doch nachgegeben. Die Versetzung der Beichtstühle hatte der Kirchenrat vertagt und zur Abstimmung auf die Novembergemeinde verwiesen. Mehr war nicht geschehen. Dass Corneli dem Einzug des Pfarrers nur bis zum Egidihaus entgegenkam, erst dem toten Täler und dann dem neuen Pfarrer die Glocke zog, den Kaplan so manchen Donnerstag zum Jassen verlockte, ihm, dem Carl Bischof, auf dem Kirchweg den Arm entzog, das waren keine Klagepunkte. Der Kläger würde unsterblich lächerlich. Es war der Geist des Zuwiderseins, des staatlichen Hochmuts im Corneli, den er anschuldigen müsste. Aber dieser unleugbar pfarrfeindliche Geist hatte noch nichts Angreifbares gegen Carl unternommen.
»Ich habe das Gefühl, dass der Gemeindeammann Corne ...«
»Gefühle zählen hier nicht, Carissime; bringen Sie ein paar Tatsachen!« bat Gregorius und öffnete und überschaute ein zweites, altes Schreiben.
Carl setzte mit merkwürdigen Hemmungen der sonst so beredten Zunge auseinander, wie er nur schon für ein neues, notwendiges Zifferblatt am Turme kämpfen musste. Dann habe er die Beichtstühle, die stil- und rituswidrig im Chore standen, ins Kirchenschiff hinunterschaffen wollen. Apodiktisch ward das abgelehnt. Er, Carl, habe das Gefühl, dass ...
»Herr Pfarrer, ich bitte ...«
Nein, er wisse es geradezu, dass dieser störrische Greis überall, wo der Pfarrer etwas gutes, nützliches Neues vornehmen wolle, ihm das Bein dawider stellen werde. Da habe Carl gedacht, er müsse gleich dem Anfang wehren ... principiis obsta ... und zeigen, dass er diese andauernde, stille oder laute Opposition und Befehdung nicht leise, wenn nötig ihr mit Gewalt die Hörner breche.
»Die Hörner breche,« wiederholte der Bischof beinahe belustigt.
Der Ammann Corneli spalte im übrigen den Rappen drei-, viermal, schnüffle in die hinterste Kirchenlade, bekreuze sich vor jeder noch so geringen Reparatur und möchte am liebsten das ganze Kirchdorf in einem Kamin aufhängen und durch und durch räuchern, damit es so bleibe, wie es einmal ist, alt, dürr, russig, bis in die Enkel und Enkelsenkel hinunter ...
»Aber das sind noch immer keine Tatsachen,« spottete geduldig der Bischof und musterte raschäugig einen dritten Briefbogen. »Wissen Sie nichts andres als diese Beichtstühle und geräucherten Dörfer im Kamin?«
Carl begann zu schwitzen und zugleich unwirsch zu werden.
»Gnädiger Herr, es gibt Sachliches und Persönliches, das man nicht wie einen Stein in die Finger nehmen und als sichtbares Corpus delicti auf dem Tisch werfen und rufen kann: ecce homo! ... Sie Mentalität ...«
»O lassen Sie dieses Wort, ist das auch schon in Lustigern feil?« fiel Gregorius heiter ein. »Wenn Sie wüssten, was für einen Unsinn man hier in der Stadt mit dieser Mentalität treibt ...«
»So sage ich: das oppositionelle Gehabe, diese feindselige Amtsstubengesinnung des Corneli, sein dörflicher Cäsaropapismus, dieses Bevormunden der Kirche durch den Staat« ... jetzt kam Carl in Zug, »das alles sind Tatsachen, aber ich kann sie Euer Gnaden nicht aufs Pult legen. Ich, Sie müssen den Ausdruck erlauben, ich fühle sie nur, aber viel deutlicher und viel lastender als auf einem Pulte drücken sie mir auf Herz.« Ein Seufzer entfloh dem Ankläger, der wahrhaft nicht erkünstelt war.
Bischof Gregorius prüfte lange mit halbgeschlossenen Augen das robuste, saftige, aber nun sichtlich müde Gesicht seines Gegenübers und erfasste dann mit seiner kühlen, starken Hand die Rechte des Pfarrers.
»Was für heisse Hände Sie haben! Sie sind überhitzt. Sie schaffen sich künstliche Fieber und Stürme, wo nichts dergleichen sein müsste. Mein Sohn, das ist für Sie, für mich, für die ganze Herde ein ungutes Ding. Schauen Sie doch einmal die Sache so einfach an, wie sie ist! Sie haben doch so blaue helle Augen!«
Carl fühlte etwas Feuchtes, aber auch Widersprechendes in die Blicke steigen.
»In wie vielen Dörfern geht der Ammann zu Ostern nicht einmal zu den Sakramenten! Wie oft fehlt er sonntags in der Messe! Wie mancher schreibt wie Ihr Herr Hobis in Gons sogar gegen unser Heiliges in die Zeitungen und hetzt das Volk auf. Aber nun zeigen Sie mir den Pfarrer, der deswegen einen Krach im Dorf oder eine Gewalttätigkeit beginnt! Zeigen Sie mir nur einen, der das Gebot des guten Hirten so übel auffassen würde!«
Carl hielt die Pause nur mühsam aus. Die Bischöfe auf den Bildern sahen ihn gleichgültig an. Das Pendel ächzte schwer. Eine weisse Katze schlich vor den Fenstern zwischen den Geranien vorbei.
»Der Corneli – wie gut kenn’ ich ihn – geht sogar täglich zur Messe, kommuniziert monatlich, betet den Abendrosenkranz, hört jede Predigt und all das nicht wie eine Maschine, sondern mit dem Glauben eines Kindes und mit der Überzeugung eines Weisen. Ja, Carole mi, eines echten Weisen! Nur will er die Beichtstühle stehen lassen, wo sie von Anbeginn standen, der Altmodische! Bildet das nun ein grösseres Verbrechen, als wenn er wie ein Heide das ganze Jahr dem religiösen Gemeindeleben fernbliebe oder ein lauer Christ wäre? Ziehen Sie das vor?«
Wieder eine mühsame, wortlose Pause.
»Und wegen dieser so geringen Sache verüben Sie, der Diener der Sanftmut, eine Gewalttätigkeit, worüber jeder besonnene Christ den Kopf schütteln muss, verriegeln die Kirche, als ständen die Hunnen davor, mauern und schreinern drinnen, lassen den zitternden und empörten Greis vor der Schwelle stehen und meinen noch, weiss Gott wie viel Liebe für Gott und seine Kirche Sie mit dieser Heldentat in die Gemeinde gebracht hätten. Was Gegenteil ist wahr: Hass, Zank, Misstrauen, Unwillen und, geben Sie wohl acht, ein zersetzendes, giftiges, trübes Parteiwesen, das im innersten Herzen nichts mit dem Evangelium als ein paar fromme Wörter gemein hat, dringt so in Ihre Herde ... ach, lieber Pfarrer, was haben Sie getan!«
Der Bischof wurde jetzt richterlich ernst. Eine leichte Röte der Erregung überhauchte das Elfenbein seines wahrhaft fürstlichen Antlitzes.
»Sie handelten, wie man gegen einen Nero oder Diokletian, nicht gegen einen musterhaften, wenn auch etwas eigensinnigen katholischen Dorfpräsidenten handeln würde.«
Carl knickte in seinem Stuhle zusammen. Er suchte die Lehnen.
»Übrigens, wie viele meiner Kirchen haben die Beichtstühle noch im Chor und keine Flocke eines Schafes oder Böckleins ging deswegen verloren. Unbequem, ja, das kann der Geistliche sagen; aber Unfriede ist tausendmal unbequemer ... Und wie viele Kirchen sind nicht von Ost gegen West gebaut! Das wäre doch auch Vorschrift. Wie viele Kanzeln in meinem Bistum ... ja, wahrhaft, gerade die von Lustigern auch, ei, ei! ... erheben sich auf der Epistelseite des Schiffes! Haben Sie, scharfer Mann, noch nie an dieses Ungeheuerliche gedacht?« Ein feiner Spott huschte über das bischöfliche Elfenbein.
»Ich weiss nicht,« flüsterte Carl lautlos.
»Und doch wäre es ebenso exakte Weisung, dass die Kanzel auf der Evangelienseite stehe, und aus einem schönen heiligen Grunde!«
Kalt und warm überlief es den Pfarrer. Er sah hartnäckig auf seine zappeligen Finger, mit denen er an den kleinen, grünseidenen Troddeln der Stuhllehne zupfte. Eine hing nur noch lose an zwei, drei Fädchen. Dass man die nicht ganz abreisst! dachte er mitten in seinem grossen Kummer.
»Aber so ist es,« fuhr der Bischof über den schwarzen Pfarrerkopf hinweg, wie zu vielen andern, die weiser als die Weisheit Christi sein wollen, vorwurfsvoll zu reden, »unsere Kirche ist eine gelassene Mutter. In vielem kann sie nicht warten. Wo es heisst: entweder oder, Recht oder Unrecht, Leben oder Tod, da gibt es kein Verweilen. Aber in vielem kann sie wundervoll warten, besser als alle Völker und Regenten und gar als so ein lieber, aber hitziger Pfarrer da warten kann ...« Lächelnd streichelte der Bischof das rauhe, schwarze Kraushaar Carls...»Ihr gefiele wohl auch, wenn sie nicht so oft warten wüsste, wenn gleich alles hübsch korrekt da wäre. Aber so etwas gibt es in unserm unkorrekten Diesseits nicht. Da nimmt die Mutter denn vorab das Wichtigere in die Hände. Das weniger Wichtige später! Und so schadet ein geringes Mängelchen nicht einmal viel, wie es da weiter vegetiert, aber schadete heillos, wenn man’s nun gleich anpacken und ausreissen wollte. Dann sag’ ich: wozu antasten? Warum Unruhe schaffen? Solange noch tausend wichtigere Sachen nicht im Blei sind, ja, mein Sohn, auch bei dir, solange man noch hasst, verleumdet, stiehlt, lügt, Geiz und Unzucht hegt ... o dann lasset es, lasset es, dieses Unbedeutende! Ja, dann hör’ ich immer das Wort des Meisters auf die Frage der kleingläubigen Jünger, ob sie gleich hingehen und alles Unkraut ausreissen sollen: Nein, ... o welch ein Nein! ... Nein, damit ihr nicht mit dem Unkraut auch den Weizen ausreisset. Lasset beides wachsen ... Hörst du, Carole mi, dieses wundervolle, seelenruhige Lasset, Lasset! Gott allein kennt die Zeit des Unkrauts und des Weizens! Lasset! ... Und da sollten wir wegen einem einzigen Pflänzchen, mehr weil es uns, als weil es Gott unbequem ist, den Weizen des Friedens und der Liebe gefährden!«
Carl hörte die letzten Worte kaum mehr. Er hatte sich völlig in seine Niederlage ergeben. Wohl wühlte es noch mächtig und widerstrebend in ihm. Aber was konnte er gegen diese Weisheit vorbringen? Gut, gut, dachte er, ich will alles tun, was der Hochwürdigste befiehlt. Selbst die Beichtstühle will ich vor den Augen des Corneli auf dem eignen Buckel in den Chor zurücktragen. Mein Gewissen hat anders gefühlt, aber ich bin ein einzelner, und hier spricht die oberste Weisheit, das merk’ ich, das Gewissen eines Grössern ... die Kirche selber.
»Seht einmal diese Briefe an,« fuhr Bischof Gregorius nachlässiger fort. »Auf das gestrige Telegramm habe ich mit dem Kanzler die Lustigernlade gemustert, und wir fanden selbander manches hübsche Papier ...«
Der Diplomat! Dieser glatte Kläusi, dachte Carl und ahnte eine neue Schlappe, davon hat er mir wohlweislich nichts gesagt. In Gottes Namen, sag’ ich, wie unsre Bauern im Regen. Bin ich einmal nass, so mag es halt weiterschütten, mehr als nass kann ich nicht werden ...
»Zum Beispiel dies da! Bitte, lesen Sie das! ... Aber lesen Sie es laut! Ich höre Ihre markige Stimme so gerne!«
Es war die fleckige, enge, kleine Cornelischrift, mit geizigem Briefrand und genialem Ausnützen jedes freien, weissen Plätzchens auf dem Bogen.
Carl überflog hastig die ersten Zeilen und wand sich mit Rücken und Schultern vor Unlust.
»Laut, Hochwürden! Ich hör’ das gerne nochmals und am liebsten aus Ihrem Munde.«
»An die Vergrösserung unsers Gottesackers,« las nun Carolus Bischof bitter, »gelobe ich, Cornelius Bölsch, zur Zeit Ammann von Lustigern, zweitausendfünfhundert schwere Schweizerfranken ...«
»Schwere Schweizerfranken,« scherzte der Bischof, »ohne dieses Epitheton zählt er kein Geld auf, das ist wahr! Der Franken drückt ihn schwerer als unsereinen ... Umso schwerer wiegt auch die Gabe! Fahren Sie weiter!«
»Schwere Schweizerfranken, sofern die Diözesankasse uns auch mit einem Mindestbetrag von tausend Franken unter die Arme greift ... Unser Dorf ist arm, der Friedhof viel zu eng, die anstossende Nachbarschaft ...«
»Genug,« fiel Gregorius ein. »Ein Profitler ist er noch, wenn er schenkt ... Nun dieses Blatt ... hier ... Lesen Sie einmal von der Zeile an: da Dekan Rüdli ... hier!«
»Da Dekan Rüdli wegen einer langen, schweren Gelenkentzündung genötigt war, durch viele Monate einen Hilfsgeistlichen zu unterhalten, habe ich, Cornelius Bölsch, im Einverständnis mit dem Rat eine Hauskollekte veranlasst und füge dem Beträgnis zweihundert schwere Schweizerfranken hinzu, die nämlich, welche ich, wie Euer Gnaden wissen, dem Gallusverein pro ersten Dezember 1865 zugedacht hatte, in der Meinung, niemand habe zur Zeit diesen Geldstupf nötiger als ein alternder, verdienstvoller Dorfpfarrer, dem wir Lustiger das froheste Pastorieren noch auf die längste Zukunft wünschen ...«
»Danke,« bemerkte der Bischof und nickte anerkennend zur tapfern Haltung des Vorlesers. »Geldstupf! Ein echter Corneli!«
Carl wischte sich in der kleinen Pause die Schläfen und Stirnhaare trocken. Eine so sauere Lektüre war ihm nicht einmal das Hebräisch im Seminar gewesen.
»Nur noch dieses Scriptum!« gebot der Bischof. »Ich vermute, es stammt von ganz neuerlich! Bitte, welches Datum?«
»16. September 1898 ...« Wie, anni currentis? Da war ich ja längst Pfarrer in Lustigern, dachte Carl. Was kann es noch geben? Mir ist, ich ertrinke im Purpur der Scham ... Purpur der Scham, was sag’ ich da? Das stammt von Massillon ... Gott, wie bin ich verwirrt ... Fort mit französischer Eloquenz, jetzt hab’ ich’s mit mir allein zu tun, dem armen, nackten, vernichteten Carl Bischof von Lustigern ...
»Laut, Herr Pfarrer, bitte, recht laut!«
Trinken wir diesen Essig flink fertig, beschloss Carl und begann rasch und fast mit Galgenhumor: »Da ich und mein ehrsam Weib Cecilie umsonst auf die Gottesgnade eines Kindes gehofft und sonach unser Dorf ein bisschen in Kindeshut genommen haben, schien es uns letztlich doch geziemend, etwas Besonderes, Kinderfreundliches über unser baldiges Grab hinaus für alle Zukunft zu beschliessen. Wir vergaben also jährlich zweihundertvierzig schwere Schweizerfranken, um den Erstkommunikanten von Lustigern, die auswärts wohnen oder die arm oder sonst ohne fröhliche Gelegenheit sind, davon im Schulhaussaal ein gutes Frühstück mit zwei viertellitrigen Ohrlappentassen Milch, einem rechtschaffenen Stück Butter und Käse, zwei Suppenlöffeln Bienenhonig von meinen Waben und einem halbpfündigen Birnenwecken aus der Ilge zu verabfolgen ...«
»Ein Herr Genau und Exakt, das ist er schon,« gab der Violette zu.
»Sodann stifte ich eine kleine, sechszentrige, versilberte Kinderglocke in unsern Turm. Sie soll eine Terz höher als unsere Schutzengelglocke klingen und werde geläutet bei Kindstaufen, Kindsbegräbnissen, am Fest der unschuldigen Kinder und bei allen frommen Gelegenheiten, wo das Kind die Hauptperson ist ... Sie soll Sankt ... Car ... li ... Glocke heissen, zu Ehren des grossen Kardinals, der unzweifelhaft unser Dorf berührt und ein Blöscherkind, wie die Dorftradition behauptet, getauft hat ... Carliglocke auch zur Freude ... unseres neuen Pfarrers und ...«
»Satis!« erlaubte jetzt der Bischof dem schwierigen Leser, der gar nicht mehr aufzublicken wagte und selbst nur noch mit schwacher Kinderstimme gelesen hatte. »Sie sehen, Hochwürden, so ganz von Stein oder Holz oder so ein schnaubender Kirchenverfolger ist Ihr bitterer Gegner doch nicht gewesen.«
»Euer Gnaden,« stammelte Carl, »ich bin ganz ausser Fassung. Mir ist wahrhaft, ich träume. In dieser Art ... weichen Art ... hat sich Corneli mir nie geoffenbart ...«
»Sie suchten es wohl auch nicht, Lieber Parochus!«
»Doch, doch,« wehrte sich Carl wie verzweifelt um diesen setzten Strohhalm von Recht, »doch, einmal wenigstens schon ...« und der Pfarrer erzählte, abgebrochen und wenig geschickt Cornelis sauern Gang zur Messe und den abgewiesenen Arm des Helfers. »Stolz und hart hat er mich weggestossen ... Führen ist besser als geführt werden, versetzte er. Und es war sein Namenstag, wie ich erst in der Sakristei merkte. Aber gratuliert hab’ ich dann nicht mehr ...«
»Aber der Corneli hat dafür gratuliert! Sehen Sie das Datum auf dem Briefe: 16. September. Das ist gerade der Corneliustag.«
Carl betrachtete das Datum. In der Tat, an diesem Tage des weggestossenen Armes hatte er die Sankt-Carl-Glocke gestiftet. Alles Blut fuhr dem Pfarrer unters Haar.
Der Bischof legte einen Augenblick seine Hände um das prachtvolle Brustkreuz, wie er gern tat, wenn ihm etwas unklar wurde, und sann mit gesenkten Augen ein Weilchen vor sich hin. Ist es vielleicht doch nicht der rechte Posten für diesen Riesen, zweifelte er einen Moment. Doch da lässt sich vorläufig nichts ändern, entschied er streng wie ein unerbittlicher Schachspieler. Und wirklich sah er jetzt, wie schon so oft, sein Bistum als ein grosses Schachbrett vor sich, mit heikeln und ruhigen Feldern und einem bunten Gefecht darüber hin. Jeden Zug hatte er erwogen, jeden Geistlichen mit Bedacht auf sein Quadrat gesetzt, und er konnte nun nicht wegen ein bisschen mehr oder weniger Not der einen Figur den ganzen heiligen Operationsplan zerstören, dieser Figur etwa einen andern Posten geben und damit einen allgemeinen, ungünstigen Platzwechsel inszenieren. Es soll jeder Priester wissen, dass er in Gottes Heilsplan nichts bedeutet als so eine Figur, einen Läufer oder Turm oder Springer oder gar nur ein Bäuerlein, und dass er für sich kein andres Recht und Wohlsein heischen darf, als seinen Platz in dieser Gesamtheit zu behaupten und ganz nur im Belieben des göttlichen Schachspielers vom Posten vor- oder rückwärts zu schreiten. Carolus Bischof bleibt einstweilen in Lustigern!
Gebieterisch reckte sich der Violette in die Höhe und bekam etwas von jener Ritterlichkeit der Fürstbischöfe an der Wand, die zeitweise über das blaue Mäntelchen einen Panzer oder ein Lederkoller schnüren mussten. »Was geschehen ist, ist geschehen, lieber Herr Pfarrer,« erklärte er langsam und fest. »Wir können nun nicht in den Chor zurückkrebsen. Aber ich werde dem Ammann, diesem alten, verdienten, beleidigten Manne, persönlich ein paar Zeilen der Hochachtung schreiben und im nächsten Frühling firme ich ja bei Euch. Dann besuch’ ich den Greis. Wir müssen solche erprobte Katholiken in den religiösen Schwindeleien und Heucheleien von heute fest an unsrer Seite behalten ... Das, Herr Pfarrer, nehm’ ich also auf mich.«
Carolus verbeugte sich.
»Eine kleine Busse und Genugtuung darf ich Ihnen freilich nicht ersparen. So befehle ich denn: Silentium! Reden Sie kein Wort mehr über diese Angelegenheit, weder im guten, noch minder guten Sinne, nicht laut, noch leise! Tadelt man Sie oder lobt man oder fragt Sie aus, so antworten Sie nichts als: der Bischof weiss alles. Das genügt. Man wird Sie und den Corneli sofort in Ruhe lassen ...
Aber nun wollen wir beide nie mehr so zusammenkommen wie heute, nie!«
Indem er das sagte, fasste der Siebziger mit beiden strammen Händen den Pfarrer an den Ellbogen und sah dem so viel jüngern Priester sorgenvoll in die blauen Augen. »Nie mehr so!« wiederholte er. »Je älter ich werde, umso mehr seh’ ich, dass Liebe alles kann. Packen Sie den Corneli mit Liebe, an jedem Tag, besonders wo es niemand sieht, mit einer neuen, starken Bruderliebe an, und wenn er brummt und widersetzlich tut, dann mit doppelter und dreifacher Liebe. Erkämpfen Sie das, Sie sind ja so stark! Auch ich muss täglich damit wie neu beginnen. O es lohnt sich! Versprechen Sie das Ihrem Bischof?«
Pfarrer Carl Bischof bog tief das Haupt. Es würgte und schluchzte ein Ja die Kehle herauf, das man eher erriet als verstand. Er hustete, um Atem und Stimme zu gewinnen.
»Einst war ich so kindisch,« erzählte der Bischof nun mehr wie ein Bruder als wie ein Oberer, »mich über meinen Namen zu ärgern, nämlich über das eine überzählige R. Das R kam mir wie ein Hemmschuh, wie ein stetes Hindern und Einschüchtern auf dem Wege durchs Leben vor. Ich hätte Georg heissen mögen, nicht Gregor. Georg, der lanzenschwingende, drachentötende, dem Teufel auf die Gurgel tretende Ritter Georg oder der eherne Michael. Jetzt bin ich klüger und lasse den Speer und das Schildgetöse und Gurgeltreten gerne dem Ritter oder Engel. Mir scheint, ich erreiche mehr mit Gabriel, dem Botschafter der Liebe, dem Lilienträger...«
Er blickte über die Reihe der alten Fürstbischöfe an der Wand, von denen einige weltliche Gesichter und Waffen trugen, und es kam dem zerknirschten Carl vor, als ob in dem Augenblick, wo Gregorius das Wort Lilie aussprach, diese alten Herren ihre Schwerter und Adelskrönlein und sogar die Krummstäbe fallen liessen und die Arme aus den Rahmen herausstreckten nach so einer weissen, friedbringenden Blume.
»Leben Sie wohl,« schloss der Violette, gegen die Türe weisend, wo man schüchtern pochte. »Empfangen Sie meinen Segen! Machen wir es kurz, Kinder warten!« So zeichnete er denn nur ein Kreuz mit dem Daumen auf Carls Stirne und rief: »Pax tecum! ...« Die Türe ging auf. Der errötende Pfarrer geriet im Verneigen und Rückwärtsschreiten in einen Wolkenschwall von weissgekleideten Mädchen, in deren Mitte lächelnd eine kohlschwarze barmherzige Schwester stand.
Es waren die Waisenkinder vom Barmsthaus, einer Stiftung des Bischofs, und wie im Mai um einen alten Holunder es wieder blütenweiss schäumt und von Goldkäfern und Bienen schimmert und flattert und summt, so musizierte es jetzt von einer frühlingsweissen und honigsüssen Kindlichkeit um den bischöflichen Greis, und Carl hörte lachen und deklamieren und singen: wir gratulieren! Viel, viel Glück! Es lebe unser hochwürdigster Vater!
Was feiert er heut? dachte Carl und sah noch zuletzt, wie der weissgelockte herrliche Prälat das kleinste der Kinder, sicher nur ein dreijähriges Höckerchen, auf den Arm nahm und hoch zum Bild des Gekreuzigten hob. Und der Gott am Kreuz und der alte Bischof und das in die Hände klatschende Büblein schienen in der gleichen kindlichen Verklärung von Unschuld und Liebe sozusagen ineinander zu fliessen.
Es muss sein Geburtstag sein, dachte Carl, als er mit müdem Kopf und versagenden Knien die drei Stufen vom Bischofsgängchen in den grossen Fensterkorridor hinausstieg. Sein fünfundsiebzigster! Aber wie jung ist er noch. Und mir scheint heute, ich trage schon hundert Jahre auf dem Buckel. Genau so verwirrt und verzagt wie jene fünf Staatsomnipotenzen vor einer halben Stunde äugte er selber jetzt nach einem Ausgang, und vergass ... oder war es Absicht? ... den Regenschirm, den er in der Kanzlei hatte stehen lassen, abzuholen, und merkte erst auf der Strasse, dass er den Hut wie ein Buch unter dem Arme trug. Als er dann endlich die verkrampfte linke Hand öffnete, fiel ein grünseidenes Tröddelchen heraus. Er betrachtete es nachdenklich und seufzte: »Nun hab’ ich es doch abgerissen.«