Heinrich Federer
Papst und Kaiser im Dorf
Heinrich Federer

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Kapitel 14

Zwei Tage darauf zitierte Cornelius den Schül in die Amtsstube, blieb kalt und aufrecht im Stuhl sitzen, als der Geiger hereintänzelte, sah von einem alten Buche auf, musterte ihn eine gute Weile, ohne den Gruss zu erwidern, und sagte endlich mit geringschätzigem Ton: »Immer noch der gleiche Laffe!«

»Ihr beleidigt mich!« versetzte Julius Täler theatralisch. »Lustigsein ist das Gescheiteste. Glaubt nur, mit leeren Hosensäcken hab’ ich schon mehr Spass vom Leben gehabt als Ihr in allen achtzig Jahren auf Euren Truhen.«

Corneli wischte etwas Sonderbares, das ihn öfters wie ein spätes, buntes, schmerzliches Baumblatt anwehte, von der Stirne, ward sofort wieder der Altgestrenge und sagte: »Wohl bekomm’s! Aber die andern? Was Spass hatten die von dir, Lumpazi? Bist schon am Grab vom armen Marx gewesen? Fünftausend Franken, alles Ersparte, das waren Nägel in seinen Sarg!«

Das genügte. Dem weichherzigen Leichtfuss schwollen sogleich die Augen rot an.

»Na lassen wir das, er kommt nicht zurück, dich am Ohr zu packen. – Aber was gibt uns die Ehre deines Besuches? Hast kein Loch mehr zum Unterschlupf? Sind dir die Hunde auf der Spur? Meinst, wir wüssten nicht, dass ein Vogel nur hereinfliegt, wenn er gar kein anderes Nest mehr auftreibt ... Und du brauchst gerade jetzt eins ... Wenn man Eier legen will!« ...

Bei diesem Worte ging eine leichte Röte über das Leichenfeld seines mächtigen Antlitzes. Er schämte sich solcher Ausdrücke, sie dünkten ihn unkeusch. Aber die Empörung über »diesen Schandkerl« riss ihn über alle Bedächtigkeit hinweg.

»Es ist mein gute Recht, mit Frau und Kind in meiner Stube zu sitzen, und alle Ammänner der Welt können mir hinten und vorne dazu pfeifen.«

»Sachte, sachte, Bürschchen. Deine Stube! Die ist längst gegen die fünftausend Franken Bürgschaft drauf gegangen. Du hast keinen Hobelspan Eigenes mehr am Heimwesen.«

»Das wäre,« schrie Julius, an beiden Schnauzzipfeln reissend. »Hübsche Neuigkeiten!«

»Nein, ganz alte Geschichten und ganz trockene Zahlen! Die Steuerbehörde hat das Gut auf elftausend Franken gewertet. Davon zieh’ ich die Grundschulden und Hypotheken Eures Vaters selig ab, also gemeinsame, ererbte Schulden: sechstausenddreihundert Franken. Bleibt ein Bestand von viertausendsiebenhundert Franken. Halbiert gibt das für dich zweitausenddreihundertfünfzig Franken. Nun schuldest du dem Jeremi und seinen Erben neben allen Zinsen seit zwölf Jahren, die er für beide allein zahlte, fünftausend, also bist du noch mit zweitausendsiebenhundert Franken beim Johannes, Mili und Heli tief genug angekreidet. Die Jungen könnten dich jeden Augenblick zur Türe hinauswerfen. Verstanden?«

Ob er verstand? er, der nie rechnete? dem diese Tausender des Ammanns wie Schneeflocken um den Kopf flogen und sogleich zerflossen? Hopla, stand es so? Keinen Span Eigenes! Zur Türe hinauswerfen!

Er blickte frech-verlegen um sich, griff, da ihn niemand einlud, selbst nach dem nächsten Stuhl und fühlte sich auf dem Sitz etwas stärker. Das scheine ihm, bemerkte er leichthin, eine Gesetzesverdrehung. Bürgschaft sei Bürgschaft und Erbe sei Erbe. Das gehe nicht ineinander.

Freilich gehe es, erklärte Corneli kalt. Der Julius schulde einfach die Fünftausend, gleichviel woher, und der Bruderteil dürfe sich nach dem kantonalen Zivilrecht an der Habe des Schuldners bezahlt machen. Er pochte aufs offene Blatt des Gesetzbuches mit dem zutreffenden Paragraphen.

»Aber nicht an dem, was zum Leben unbedingt nötig ist,« fuhr Julius rasch dazwischen. »Wie sagt ihr Gesetzesdreher und –Verdreher nur auf Latein? die Competentia, nicht! Die kann kein Gläubiger antasten. Und dazu gehört Bett und Dach und Feuerstatt!«

Er irre, das stehe nicht buchstäblich da. Das gelte für so ausgesprochene Schuldfälle nicht; überdies habe Julius, als die fünftausend verloren gingen, und der Marx sofort den Bruderteil in Besitz nahm und er, Julius, durch acht Jahre weder heimkam, noch protestierte, stillschweigend diese Schadloshaltung – diese ganz ungenügende! – gebilligt. Das ganze Dorf habe es so verstanden.

Er verstehe das nicht so, erklärte Julius und erhob sich.

»Ich rate dir so,« bestimmte nun Cornelius, »du bleibst, bis deine Frau oder Kebse geboren hat und leidlich abreisen kan. Inzwischen arbeitest du. Das Okulieren verstehst du ja ordentlich. Ich sorge dir für Stoff. Kannst morgen in meiner Oberwiese anfangen.«

»Ich bleibe, solange mir behagt, und was das Oku ...«

»Du weisst, wir sind hier stramm katholisch. Uns ist dir Ehe nur eine Ehe, wenn sie am Altar mit sakramentaler Weihe vollzogen wird. Alles andere dünkt uns ein Konkubinat, die Kinder gelten uns als unehelich, die Mütter als Konkubinen. Solche Dinge können wir nicht dulden in einem ehrsamen Dorf. Ja, wenn du dich bessern könntest! Wenn du diese Verletzung gutmachen und dich kirchlich trauen liessest! Aber du glaubst ja nichts. Wie kannst du ein Sakrament empfangen, wenn du nichts glaubst. ‘s wär’ ein Spott.«

»Vielleicht glaub’ ich mehr und bin ein besserer Christ als ihr alle, Pfarrer und Ammann mitgerechnet,« sagte Julius gespreizt und wichtig. »Habt Ihr mir weiter nichts zu sagen?«

»Keine Silbe.«

»Und von der Armenkasse, bekomm’ ich was?«

»Ich glaub’ kaum, du bist ja hier nicht ansässig.«

»Dann reklamier’ ich in St. Gallen.«

»Probier’!«

»Letztes Wort?«

»Letztes Wort!«

»Guten Abend!«

»Guten Abend!«

Aber an diesem Abend war es dem Corneli nicht gut zumute. Ihm schien, er habe etwas, am Ende gar das Wichtigste, vergessen. Doch konnte er sich auf gar keine Vergesslichkeit besinnen. Wie er auch die Unterredung im Gedächtnis überprüfte, alles klappte. Es machte ihm trotzdem keine Freude wie sonst, die Kassenbücher vor dem Schlafengehen zu beschauen und die Schlüssel behaglich zweimal im eisernen Mauerschrank zu drehen. Etwas mangelte. Aber das Mitleid ist eine do bescheidene Person, dass sie sich nicht selbst anmeldet.

Julius jedoch sass zur selben Abendstunde im Rücken des Hauses, gegen den stillen Hügel zu, und strich die Geige. Wild und ordnungslos phantasierte er zuerst, kam dann in eine besinnliche, schwere Melodie hinein, zog sie immer tiefer ins Dunkel von Sehnsucht und Schwärmerei hinab und ertrank sozusagen darin. Über allen Himmeln leuchtete es, als würden ununterbrochen Sterne gesäet, ein silberner Nebel rauchte aus dem Gras und blieb in halber Manneshöhe schwankend stehen, die Bäume tropften von süsser Feuchtigkeit, vom Dorf gelangte kein Geräusch daher als ein halber Stundenschlag.

Siria lehnte sich an die Holzwand, schloss die Augen, lauschte selig und summte hie und da ein paar Noten mit. »Jetzt kommt das Weisse,« flüsterte sie und stupfte Schül. Er nickte und ging mit bald flehenden, bald lockenden, bald frechen Tönen etwas Grossem, Hellem nach. Das Spiel wuchs und wurde wie Kampf. Signale des Sieges jauchzten in die Luft. »Der Hirsch!« rief die Frau leise. Wieder nickte er. »Du hast ihn, ja, das ist der Hirsch,« sang sie melodisch in seinen Strich, »mit goldenen Flammen an jedem Zacken des Geweihs, den Glückshirsch. Mir ist, mein Kleines rege sich vor Freude. Spiel, spiel, es soll ein grosser Musikant werden ...«

Vom Küchenfenster hörte das Mili am Gesimse zu. Es ging nun abends oft heim, redete wenig, lachte selten, schien ein anderes Geschöpf geworden. Neben ihm sass Bruder Heli, trunken von der Violine, und sah die wunderbarsten Ornamente darin. Johannes strich irgendwo mit Sigi herum, ihr kalter, geliebter Götze Johannes, um dessentwillen allein sie sich vom Krankenbett der Bas’ Ida gerissen hatte.

Inzwischen brach der Mond über den Wildbergtannen hervor. »Schau, schau,« sagte Schül zum Weibe, »da wirft uns der Herrgott sein schönstes Spielzeug ins Gesicht! Und die Sterne gelten nichts mehr und verstecken sich ...« Der auf und nieder wallende Nebel ward nun wie eine schimmernde See, in der die Bäume und Hügel bis ans Knie badeten und lüstern nach noch mehr Licht ihre Häupter gegen den Mond reckten. Eine allgemeine, unaussprechliche Sehnsucht schwärmte durch diese Oktobernacht. Das Paar vergass seine vielen Schuldzettel und gerichtlichen Vorladungen, die zerrissenen Hemden und durchlöcherten Schuhe, seine Amt- und Verdienstlosigkeit und Bettelarmut vom Scheitel bis zur Sohle. Es dachte an keine Sorgen und Plagen. Alles wird sich von selbst geben. Es sah nur jenen weissen leuchtenden Glückshirsch, von dem Julius von Kindsbeinen auf träumte, an den er fest glaubte und von dem er seinem Weibe hundertmal erzählte, wie sie ihn einmal ohne Schweiss und Schwindel in die Arme auffangen und dann die üppigsten und vergnüglichsten Herrschaften würden.

»Was hast, Mili?« fragte Heli in der Küche zutraulich. »Bist wohl furchtbar müd’?«

»Ja, schon.«

»Schier gar krank bist! Sag’ mir, wo’s fehlt!«

»Vielleicht hab’ ich etwas von der Grippe in mir.«

Eine Weile schwiegen sie im Küchendunkel. Von draussen klang die Geige mit betörender Zudringlichkeit zum Fenster herein. Man konnte nicht stille bleiben. Diese Geige quälte, suchte, schlüpfte in die Seele und fragte sie noch viel heftiger aus als der gute, plumpe und doch so gescheite Heli. Mili hatte noch nie solche Musik und solche süsse Marter gefühlt.

»Ich weiss alles,« kam es nun geduldig aus der Ecke, wo Heli bei einem Glas Most sass. »Du musst mir nichts sagen.«

Nun schoss die Jungfer auf. »Was alles? wo nichts ist! Mach nicht den Superklugen!«

»Aber Mili!«

Diese zwei Worte wurden so weich, so rührend lieb und so überzeugt gesagt, dass die Schwester aufstand, die Ecke suchte, wo Heli sass und sich im Dunkel an ihn wie an einen Helfer schmiegte. Aber da sagte der Bruder ebenso ehrlich: »Ich kann dir nicht helfen, du Gutes!«

Wieder wollte sie trotzen. Aber sofort ward sie schwach. Diese Wochen in der Krankenstube mit allem Drum und Dran wegen Sigi, die wachsende Sehnsucht nach Johannes und die Qual, dass er selbst sie gar nicht vermisse, am meisten aber die Siria, die so wunderbar liebt, dass sie sich völlig vergisst und ganz für den leichtsinnigen, wetterwendischen Julius opfert, obwohl er im Grunde ganz wie Johannes nur sich liebt und schon in den ersten Tagen bald diesem, bald jenem Mädchen schön getan hatte, das alles war für diese starke Jungfer denn doch zu stark. Zu rasch war alles gekommen. Sie hatte sich nicht vorbereiten können, es erdrückte sie.

Mit Unwillen hatte sie das Vagabundenpaar aufgenommen und fast einen Ekel vor dem nahenden Kindlein verspürt. Das konnte nicht lange so dauern. Pfarrer und Ammann verlangten Aufschluss über den zivilehelichen Akt, und Schül gab keine Papiere. War es gar eine wilde Ehe? Die wäre auch von Staats wegen nicht geduldet, und hier suchte Carolus nun eine rasche Handhabe, um das Paar auszuweisen.

Wie gewissenlos von dieser grossen, starken Siria, sich einem solchen Fant ohne Gesetz und Sakrament zu ergeben! Dennoch, so sündhaft Mili sich dabei vorkam, wie musste sie dieses Weib bewundern! Jeden Augenblick konnte die allerschwerste Stunde ihres Lebens schlagen. Andere Mütter werden hässlich, seufzen, tun grämlich vor der Geburt oder ängstigen sich über alles Mass. Diese blühte wie eine Kornblume so licht, lächelte, schwankte dienstfertig mit ihrer lebendigen Last hin und her, statt bedient zu werden, war folgsam wie ein Hund auf Schüls Winke, schmiegte sich an ihn, wenn er’s liebte, hielt sich fern, wenn er’s vorzog, lebte und webte nur in ihm und sah nichts und hörte nichts, als was er sah und hörte. Tansendmal besser ist sie als ich, dachte das Mili und verglich in aller geschämigen Heimlichkeit, ob sie dem Johannes auch bis auf diesen Tupf und Punkt so zu Willen sein könnte. Und doch war Johannes hundertmal wertvoller als der Onkel Schül, schöner, besser, klüger, freilich auch kälter, ein Eiszapfen, der nur sich selber Wärme gab.

Ach wohl, ich glaub’, ich lieb’ ihn um so mehr, weil er so kalt ist. Auch Siria ist um so verliebter, je herrischer Julius sich benimmt. Wenn sie uns befehlen, diese Besonderen, Herrlichen, möchte man sie küssen; wenn sie aber uns anbetteln, möchte man ausspucken. Das waren nicht ihre Worte. Wie könnte sie solches erfinden! Das hatte die Bas’ in der Ilge gesagt, und so ist es. Ich kann ohne Johannes fast nicht mehr leben. Welch ein Winter, wenn er nach Zürich an die Zeichenschule geht. Ins gleiche Babel wie dieser Sigi!

Vorher war sie und war alles um sie klar gewesen. Und jetzt auf einmal diese Verirrung und Verwirrung.

Sie hatte Siria bald mächtig lieb gewonnen, tat ihr hundert kleine Gefälligkeiten, rüstete ihr vor Tag die Mahlzeiten zurecht, dass die Schwangere zur Essenszeit nur noch kleine Mühe hatte. Sogar die Späne schnitt sie ihr, dann das Knieholz und legte alles mit den Klötzen, die lange brennen, auf eine Bank, dass Siria sich nicht bücken müsse. Dem Sandmeitli schob sie manchen Batzen zu, dass es von Zeit zu Zeit hinübergehe, nachsehe, aushelfe. Obwohl Mili fürchtete, es sei ein Unrecht, mit einer Kebse so vertraut zu tun, sass sie doch, so oft sie konnte, ganz nahe zu ihr, hörte ihren Gesprächen zu, wie sie eine flatterhafte Waise gewesen, den Pflegeeltern entsprungen, als Sängerin und Tänzerin in Spelunken gesessen sei, viel genascht und liebkost und auch in mancher Nacht obdachlos herumgebummelt habe, bis die Jacke Schüls, so eine liebe, süsse Zwangsjacke, sie zum rechten Verstand und Lieben gebracht habe. Aber sie habe jetzt genug von der Strasse. Hier möchte sie immer bleiben. Nirgends hätte sie so eine Ruhe gesehen. Wenn nur der fürchterliche Pfarrer ...! Sie glaube doch auch an den Herrgott! Im andern müsse man doch Geduld mit ihr haben. – Sobald sie sich von der Geburt erholt habe, wolle sie das Hauswesen reinlich besorgen, damit das Mili in der Ilge und im Pfarrhof schalten und verdienen könne. Dann wolle sie nebenbei Arbeit suchen, etwa Hüte neu aufrichten und schmücken, dazu habe sie Geschick. Ob man das hier brauche? und Kranke pflegen. Das täte sie besonders gerne. Ihre grauen, weiten Augen leuchteten wie ein ganzes Spital voll Hilfe und Mitleid.

»Wenn das so ist, gibt dir Gott Gnade und du kannst noch in unsern Glauben kommen,« versicherte das Mili.

»O Mili, mir ist Gott genug. Was kann ich mehr bekommen?«

»Ihn näher bekommen, deutlicher, dass du ihn spürst ... Andere brave Leute sind ihm, glaub’ ich, am Knie und noch näher, und die können uns mitnehmen und ...«

»Mili, Mili, ich spür’ ihn beim Kindlein da, ich spür’ ihn, wenn Schül so herrlich geigt, dass man dabei weinen muss. Ich spürt’ ihn deutlich, als du mich auf den Rasen zu dir legtest und jenes Stotterkind sagte: da, hab’ nichts verschütt’ ... Ich spürt’ ihn näher als Luft und Atem ... o Gott ist schön und tut wohl!«

Mili konnte nichts als den Kopf schütteln und die Frau auf den Mund küssen. Dann erschrak sie. War das nicht Sünde?

»Aber das Kindlein lasset ihr taufen.«

»Warum nicht, der Vater ist doch katholisch.«

Katholisch! Sollte Mili dieser seligen Unwissenheit widersprechen? Sie schwieg.

»Hat er dich denn auch gern?« fragte Mili wieder. »Ganz, und gar gern? lieb wie Himmel und Erde? Bist du ihm das Liebste gleich nach unserm Herrgott?« ... Das stürzte wie ein Bach vom Munde. Sie redete ja halb für sich. »Sag’, sag’,« drängte Mili.

»Ich weiss nicht!«

»Siria, du weisst nicht? Verstehst du mich?«

»Als er mir die Jacke gab und sich für mich auslachen liess, und wo er mir geigte und mich zu sich nahm, da schien es so. Nein, er hat mich gern, jetzt noch. Aber nicht mich allein! nicht mich immer zuerst und am meisten. Aber darf ich so was von ihm verlangen? Wäre es nicht schlecht? hochmütig? Nein, Mili, ich frage nie, wie stark er mich liebe, und liebe alle, die er liebt. Zuletzt, ja, kam er immer wieder zu mir. Aber wenn er nicht käme, ich liebte ihn kein Zipfelchen weniger ... glaub’s nur!«

Mili fuhr sich übers Gesicht, so heiss und wirr wurde ihr. »Das ist, das ist,« stotterte sie, »doch sicher nicht ... eine rechte Liebe.«

»Ich denke immer,« antwortete Siria ruhig, »dass unser Herrgott auch so liebt. Und besser als er können wir es nicht machen.«

»Nein, nein, das darfst du nicht sagen,« fuhr das Mili auf. »Das ist sündig. Ganz anders liebt uns Gott, schöner, freier, wie ein Vater, wie ... ach, ich kann es dir nicht erklären, aber ganz anders.«

»Behalt’ du deines, ich meines!« meinte Siria freundlich. – Das konnte Mili nie vergessen.

Wie ein Psalm betete jetz die Geige vor dem Hause. Der Mond fiel durch die Mitte der Küche. Das Mili schmiegte sich an Heli und fragte: »Was sagtest du noch eben?«

»Ich kann dir nicht helfen. Du bist verliebt, exakt wie die Frau drüben. Du musst dir selber helfen können. Du bist ja unser gescheites, kluges Mili!«

»Wie kann ich mir helfen, Heli!«

»Wir haben den Johannes immer verwöhnt und vergötzt. Weil er so ein herrlicher Bursch’ ist. Und so ein geschickter ...! Da ...«

»Du bist viel geschickter,« trotzte Mili.

»Ich?« Heli schnaufte auf vor ehrlichem Staunen.

»Du, du, du!«

»Ich, der keine Nase, keine Blume, nicht einmal einen Stern zeichnen kann!«

»Aber du hast die guten Gedanken. Ihm kommt nichts in den Sinn. Er hat nur Hand. Du hast den Kopf oder das Herz oder was weiss ich. Du hast alles erfunden. Er kann nur abhorchen und abmalen. Inwendig, ach, Heli, inwendig hat er nicht viel.« Es schien ihr eine Erleichterung, ihren Liebsten recht herunterzumachen.

»Jetzt redest du ganz dumm! Viele merken das Schöne; o, viele haben da drin einen Himmel voll Bilder. Aber wenn keine Hand käme, Mili, wenn kein Johannes es aufzeichnete, wär’s vergraben. Er macht’s erst lebendig. Ich muss immer staunen, wie er mich errät und dann mit dem Bleistift anfängt, rund; wenn ich sag’ rund, und weich, wenn ich sag’ weich, und leis, wenn ich’s leis seh’, fast nur gehaucht, ach, Mili, was der Johannes kann!«

Da merkte Mili, dass der Heli auf seine Art so verliebt war in den blassen Jüngling wie sie. Noch mehr, der Heli war blind. Er unterschätzte seine Kraft recht wie eine Knechteseele und überschätzte die des Johannes wie eines Herrn.

»Aber auswendig kann er keine Katze zeichnen und kein Schaf. Alles muss er vor dem Aug’ haben. Der ... ach ja ... wer nur? sagte: er sei kein Zeichner, nur ein Abzeichner ... Das sei viel weniger. Und dann kommst du und zeigst noch, wie er’s besser zusammenricht’ ... Ach Gott, und doch, wie lieb’ ich ihn!«

Sie bog sich gegen Heli, hielt das Gesicht an seinen groben Kittel, und zum ersten Mal in ihrem jungen Leben rieselten zwei Bächlein aus ihren Augen, die gleichzeitig unendlich süss und bitter schmeckten.

Draussen zog die Geige ganze Ketten von kleinen, glänzenden Trillern auf und nieder. Es war aus der Trauer ein Lachen geworden.

Heli, der viel zu wenig von sich selbst und viel zu viel von den andern hielt, aber dabei doch eine grosse Selbständigkeit des Herzens behauptete, Heli bedauerte seine Schwester aus ganzer Seele, konnte aber einen gewissen Ärger nicht recht hinunterschlucken. Das Mili, das im ganzen Dorf gepriesene, untadelige Mili, fällt in eine solche verzagte, ja, sag’ ich’s nur, unwürdige Verliebtheit! Wo man eine gute, solide Schwester sein sollte, spukt nun so was! Warte sie doch, bis Johannes aus der Kinderei geschlüpft ist. Das bare Kind ist er ja noch. Und halte sie sich doch auch ein wenig hoch und wert. Sie kommen dann schon, die hübschen Buben, da ist kein Zweifel, und der Johannes nicht zuletzt. Sie wird dann wohl sieben bessere finden ...

Laut sagte er mit einem fast groben und harten Ton im Wort: »Mili, nur du allein kannst mit dir fertig werden. Ich sag’ nur: sei keine Magd zum Auslachen, zum Lecken und Schlecken wie das Siriaweib da drüben! Warum flennen, wenn du liebst? Lieb’ doch nur! Aber liebe wie ... wie ein gerader Mensch, nicht wie ... ein Hund!«

Das traf wie eine Peitsche. Dir Jungfer riss sich von Heli los. Eine kurze Pause entstand. Die Geige drüben kicherte und schäkerte und riss mit einem komischen Zickzack von Tönen wie mit einem Witz plötzlich ab. Sogleich ward es sehr still. Da sagte das Mili und suchte den Arm Helis aufs neue: »Du hast ganz recht. Das war ein Wort. Ganz anders soll mich der Hannes nun kennen und lieben lernen. Nicht wahr, Heli, du ...« Sie malte ein Kreuz über den Mund. Mitten im Mondstrahl stand sie jetzt, schlank, hoch, das Haar wie gegossenes Gold.

Es glitzerte noch etwa ein Pfannendeckel oder ein Zinnteller verstohlen aus dem Dunkel, und in der Herdasche glommen noch einige Glütlein. Aber das war alles nichts gegen dieses junge, frische, tapfere Mädchen, das sich im vollen Monde reckte, höher und höher, so dass Heli meinte, im nächsten Augenblicke wandle es auf den gelben Strahlen empor, himmelwärts, ein Engel, eine weisse Wolke oder die schöne heilige Liebe selber.

Zwei Tage später genas Siria eines schmalen, dunkeln Bübleins, das man gerade noch zum Taufstein tragen und mit dem Christennamen Christoph schmücken konnte, ehe es das letzte Schnäufchen tat. Auf dem Heimweg sagte Patin Mili zur Hebamme: »Dass es auch gar nicht schreit! Gebt es mir ein bisschen in die Arme!« ... Das war recht schlau. Denn Pate und Patin geben sich den Arm und gehen mit Kranz und Blumenstrauss hinter der Hebamme zum Wirtshaus, wo der »Göttiwein« getrunken wird. Nun hatte sich Sigi zum Götti anerboten und damit war dem Mili der ohnehin missdeutete Weg noch viel mühseliger gemacht. So löste es sich denn gleich an der Kirchentüre vom Paten los und nahm den jungen, stillen Christ in die Arme. Da sah man, dass er eine eiskalte Stirne und steife Händchen hatte. Man trug eine Leiche.

Zornig bleckte Sigi seine Raucherzähne. Denn wer wollte jetzt mit dem Toten in die Gaststube zum Göttiwein kommen. Er wäre neben der hübschen Gotte gesessen, hätte ihr den Göttikuss geben dürfen, hätte ihr zugetrunken vom allerstärksten Wein, wäre näher und näher gerückt und hatte sich schon die ganze Zweisprache mit ihr schlau zurechtgelegt. Der glühe Wein, die warme Stube und Festlichkeit und seine Wörtlein, so wie er sie brav und innig gemodelt hatte, das müsste ihn endlich ihr nahe bringen. Aus dem offiziellen Kusse wäre vielleicht ein unoffizieller heisser Privatkuss geworden. Wenn er sie nur einmal küssen konnte! Wie manche hatte spröde und stolz getan, bevor sie seine Lippe fühlte. Dann war sie verzaubert. Diesem Wein halten wenige stand. Und er hat ihn seit Wochen stark und wild gekocht. Zum Teufel, wenn er nicht so viel Macht hat. Dieses Mädchen quält ihn nachgerade mit blutsaugender Bosheit. Es ist nicht länger zu ertragen.

Wie ein Engel so unschuldig, aber viel verschmitzter, als er sich die Engel vorstellt, stand sie am Becken, antwortete dem Kaplan, der für den Pfarrer amtierte, flink und tapfer, muffte das Würmchen nach der Salbung wieder wundervoll warm in die Tücher und Kissen ein und blies ihm von ihrem Munde Wärme ans Näschen. Ach, welch ein unbeschreiblich Wunder ist doch so ein unbesiegt schönes Mädchen. Und welch ein Wunderwunder, es zu besiegen.

Aber an der Ilgentüre, wo der Vater des Kindes schon mit einem gehörigen Weingeruch auf die Gäste wartete, sagte Mili schroff: »Onkel, der Christoph ist tot. Wir tragen ihn sogleich heim. Ich brächte keinen Schluck hinunter. Kommt, Hebamme! Ade, schöner Vetter Götti.« Damit schwenkte sie um und eilte hurtig weg. Julius verfiel in einen Krampf von Weinen, schlotterte die Stiege hinauf und ertränkte den Schmerz mit zwei Flaschen vom besten Bernanger. Sigi jedoch rief den Hausknecht in sein Stüblein hinauf und befahl, er solle ihm sogleich den Koffer für Zürich packen, die Bücher und Schuhe zu unterst und die Röcke und Beinkleider mit den Spannern, Klammern, Schulterhaltern und Zubehör in die obere Lage. Rasch!

Es ging ein Gemunkel durchs Dorf, warum nicht Carolus selbst getauft habe. Dieses fröhliche Sakrament liess er sich sonst nicht nehmen. Offenbar wollte er damit das Missfallen der Kirche über solche wilde Ehen und ihre wilden Sprösslinge ausdrücken. Man musste zeigen, dass Ordnung und Unordnung, Gesetz und Willkür nicht das gleiche sei. Dennoch fragten sich viele: aber der kleine Christoph, was kann er dafür? Verdient er nicht doppeltes Mitleid, doppelte Liebe, doppelte Ehre, weil ihn, den Schuldlosen, die Eltern zum vornherein so arg verunehren? Wenn Gott an ihm trotz der Elternsünde das grosse Mirakel tut, an ihm das Leben anzündet, das nur er, der Schöpfer alles Atems, anzünden kann – sonst gäb’ es weit und breit nur Asche – sollen die Menschen dann sozusagen göttlicher als Gott tun, erhabener als der Erhabenste und sich für das kleine Drecklein zu gut halten wollen, ei, ei! – Bei seiner zweiten Flasche erklärte Schül den paar Mittrinkern, dass mit diesem schwarzen Bürschchen der Welt ein grosser Musikant Gottes verloren gegangen sei, ein Genie voll Melodie, ein Mozart oder Beethoven, und dass nicht bloss so ein enger Dorfpfarrer, sondern selbst ein weiser, erlauchter Bischof, wie der regierende in St. Gallen, es sich hätte zur Ehre anrechnen müssen, das Taufwasser über eine solche begnadete Kindesstirne zu schütten.

Siria war untröstlich. Das Kind hatte ihr als Unterpfand einer besseren Zukunft gegolten. Es würde dem herumschweifenden Vater ein Punkt der Ruhe werden. Nam hätte sich an die Lustigernstube gewöhnt und endlich ein stilles Familienglück genossen. Wo das Büblein lachte und weinte, hätte man sich immer fester angebaut. Nun sind sie wieder die zwei Zigeuner von vordem, vom Wind herumgeschlagen, verloren auf fernen, müden Strassen, und nur ihre grenzenlose Liebe hilft ihr auch darüber hinweg. Aber wie lange noch? Sie fühlt eine Müdigkeit in sich, die um so schwerer drückt, je stiller und friedlicher es sich auf dem Bänklein hinterm Dorfe sitzt, gegen den Hügel und die schönen, kühlen Tannen in der Höhe, im leisen, fernen Tosen des Flusses, wobei man an die stürmischen Gänge der Vergangenheit denkt, die nun weit zurückliegen, so dass kaum noch ein laues Erinnern übrig bleibt.

Als Siria vom Bette aufstand, begann sie durchs ganze Haus zu putzen und zu Ordnen, die Küche zu führen, dem Heli zu fädeln und sich überall nützlich zu machen. Sie sang nicht mehr. Aber als eines Abends das Mili auf dem Küchenstuhl fast zusammenbrach, sagte Siria, als wären die Rollen getauscht: »Der Pfarrer sag’, was er will, morgen geh’ ich zu den Kranken, wenigstens in die Ilge und zu Spätzlis und zu den Kindern des Lehrers Peder. Du reibst dich so auf. Jetzt kommandier’ ich.«

»O wie langweilig bist du geworden, Siria,« jammerte der Gemahl, »aus einer Lerche ein Hausspatz! Es tät uns bald gut, wieder die Flügel zu spannen und aus diesem Nest zu fliehen.«

Aber er selbst machte hierzu keine Anstalten, sei es aus Tälereigensinn, den Behörden zu trotzen, ihnen, die ihn mit irgendeinem Gesetzt von der Nase scheuchen wollten, mit einem noch stärkern Gesetzt gerade vor diese Nase sich hinzupflanzen und zu sagen: ich bleibe! – sei es aus Mangel an Geld und aus Faulenzerei. Denn man lebte hier einstweilen auch als Habenichtse bequem. Alle Zwetschgenbäume hingen übervoll von reifen Früchten, man brauchte nur ins Laub zu langen. Alle Dörröfen rösteten Birnen- und Äpfelschnitze und brannten freilich auch famose Winterschnäpse. Zwei, drei solche Schnäpse, wenn es keinen Wein gab, einen Krug Most über Tag, Brot und eine dicke Milchsuppe, mehr brauchte Schül nicht, um zu leben und zu geigen. Abends sass er gern in den fünf Pinten des Dorfes, las die Zeitungen, liess sich mit einem Schoppen Wein beschenken und gab dafür Tänze zum besten. An Samstagabenden, bei verhängten Fenstern und einem Spion am Strässlein, wurde in der Wirtschaft zum Kranz, etwas abseits vom Weichbild, geradezu getanzt. Das war seit gut zwanzig Jahren in Lustigern nicht mehr vorgekommen. Der Corneli sah es ungern, und der Pfarrer Zelblein, Carls Vorgänger, hatte mit List und Liebe, indem er immer andere neue Kurzweil auf den Plan rückte, das letzte Tanzbein zum Stillstand verurteilt. Die jungen Leute konnten wirklich nicht tanzen, nur die Fünfziger und Sechziger pfiffen etwa noch einen Schottisch oder Galopp.

Als Carolus trotz aller Vorsicht der Übeltäter dem Ding auf die Spur kam, färbten sich seine runden Ohrschnecken purpurn. Da war höchste Gefahr. Der blödeste Tingeltangel in seinem stillen Dorf, die kreisenden, schwitzenden, ihrer Sinne nicht mehr mächtigen Paare, der strömende Wein, die roten Augen, die erwachenden, tierischen Gelüste, der Lärm und die Frechheit der sonst so geordneten Seelen, das Küssen und Drücken und Heimgehen unter dem Schutz der Hehlerin Nacht, nein, das muss im ersten Versuch, wie ein junges Schlangennest, vertilgt werden.

Carl wusste sehr gut, dass der Corneli aus Gründen der Sparsamkeit und Ordnung schon vor vierzig und fünfzig Jahren, als an der Kirchweih und Fastnacht in Lustigern noch munter getanzt und sogar vor dem Betläuten um sechs Uhr den Kindern ein Ringelreihen unter elterlicher Aufsicht gestattet wurde, gegen diese hopsenden Festlichkeiten heftig geeifert hatte. Und doch, wie viel ehrbarer war es dazumal auf dem Tanzboden zugegangen als heutzutage! Der Ammann wäre also sein mächtigster Mitkämpe. Aber seit dem Klopfen an der verriegelten Kirchentüre zeigte Corneli dem Pfarrer ein ebenso zugeriegeltes Wesen. Umsonst stand Carl davor und klopfte. Er hatte ihm ein Brieflein geschrieben wegen dem unehelichen, liederlichen Paar und seinen Rat verlangt. Die Antwort war: »Der Gemeinderat wird die bürgerliche Seite dieser Sache (bürgerlich unterstrichen!) nach Gesetz regeln.« Ein zweites Brieflein des Pfarrers bat, der Ammann möchte bei seinem unbestrittenen Ansehen dem Julius Täler eine Unterhaltungssumme aus der Armenkasse ausrichten, mit nicht zu kargem Schäufelchen, hatte er spassig beigefügt, unter der Bedingung, dass Siria sich in die kantonale Frauenklinik und Julius ausser Landes begebe. – Darauf ward ihm nicht einmal geantwortet. So rostig und grausam kann ein Riegel vor der wichtigsten Türe sein! War das nicht die Rache des Herrn?

Nein, sie mussten einzeln gehen, jeder in seinem Schritt. Aber freilich, wie viel weniger richtete so jeder aus, ja, wie nur zu leicht setzten sie sich beide mit ihren gesonderten Schachzügen matt!

Die Spaltung wurde noch grösser wegen Johannes. Der Corneli mit seinem gesunden, nüchternen Sinn hatte sofort das Starke und Schwache am Buben herausgefunden und wollte ihn mit Recht zum Musterzeichnen bestimmen. Aber er tat es unpädagogisch. Er stritt ihm alles andere, sogar das tatsächliche Kopiervermögen von Köpfen und Figuren ab, wurde barsch, kommandierte und verdarb es mit dem eiteln, selbstsüchtigen, naiven Jüngling total. Carl hingegen besass kein Auge für Zeichnung und Malerei. Wenn es nur in starken Farben und in grossen Gestalten von der Leinwand schrie. Zwischen Malen und Nachmalen, zwischen schöpferisch einwerfen und bettelhaft Auflesen einer Idee, zwischen lebendig Machen und tot Nachahmen sah er den Unterschied nicht. Er bat Johannes, ihm einen Ambrosius übers Pfarrhoftor zu malen. Heli und Johannes durchstöberten nun die illustrierten Heiligenlegenden und akkurat wie Paul Rubens einen Ambrosius entworfen hatte, mit Bischofstab, Taube und einem Bienenschwarm um den Kopf, so malte ihn Johannes übers Tor, wobei er die Sakristeigewänder für die Farben beriet. Vielen gefiel das saftige Bild, am meisten dem Besteller. Er mit seinen grossen, lebensvollen, blauen Augen merkte nicht, wie der Blick des Kirchenlehrers so leblos, oder wenn es doch Leben war, ein so entlehntes, unechtes, unwirksames Leben war. Die grosse Gestalt, der majestätische Mantel, der weisse Bart, der silberne Stab, das wallende solomonische Greisenhaar und die rosige Gesichtsfarbe, war das nicht prächtig? Konnte man sich einen frömmern und stattlichern Ambrosius vorstellen?

Darauf erwirkte Carl vom Kanton ein mässiges Stipendium für den hübschen Künstler und von der Diözesankasse auch noch zwei blaue Scheine, so dass die Börse des Jünglings für ein volles Züricher Studienjahr schwer genug wog.

Das traf Corneli mehr, als er sehen liess. Er verdirbt den Burschen, er macht einen zweiten Julius aus ihm, schalt der Ammann bitter auf die Gasse hinaus. Wir hätten eine famose Kraft für die Stickerei bekommen; nun werdet ihr sehen, was für ein Schwindler aus ihm wird. Gleicht er doch sonst schon in gar zu vielen Stücken dem saubern Onkel!

Die Stickerei ging flau. Sie schwamm mühsam über Wasser, wie ein windloses Segel. Warum wohl? Man suchte überall Gründe, in Amerika, in England, in den Fabriken, in der Weltpolitik, nur nicht am nächsten Ort, im eigenen Kopfe. Diese Industrie altertümelte, ward grau und schlaff. Es fehlte einer, der ihr neue Ideen und Windstösse in die Segel blies. Vor allem neue Bilder, neue Ornamente, neue Einfälle. Das Leben hinein! Und mehr als er’s beweisen könnte, ahnte Corneli, dass Johannes hierfür der neue meisterliche Segler wäre. Seine drei, vier Muster hatten Aufsehen und Nachahmung erweckt, wie nur etwas Überraschendes, noch nicht Dagewesenes. Von Lustigern, seiner Gemeinde, noch mehr von seinem Patenkind wäre Hilfe gekommen, die Industrie der Maschen und Stiche hätte ganz gewiss einen flotten Stupf bekommen; wer weiss, es hätte eine Lustigern Stickerschule, eine Lustigern Richtung und eine besondere Schätzung der Lustigern Erzeugnisse gegeben. Geld wäre ins dürftige Dorf geflossen und man hätte sich damit Anlagen und Sicherungen für Zeiten des Niederganges oder einer neuen, lohnenden Industrie verschafft.

Da kommt diese Appenzeller Kilbi, diese Appenzeller Phantasie, dieser Appenzeller Eigensinn und macht gottsträflich die klügsten Pläne zunichte!

Und nun will dieser Mann an der Novembergemeinde auch noch in die Kirchenverwaltung gewählt werden, will gar auf Cornelis angestammten Präsidentenstuhl sitzen! Er hat die jungen Leute für sich. Es wird einen harten, wüsten Strauss geben.

In den meisten Häusern wurde der Pfarrer seit der Grippe Gutfreund. Denn es ist unerhört, wie er sich mit Leib und Seele schonungslos hingab. Das bewundert auch der Corneli. Aber mit dem gleichen Feuer wirft sich Carl leider auch ins weltliche Geschäft. Er riebe sich die Hände und Füsse ab, um noch mit dem Stummel zu regieren. Nein, solchem Ausgreifen muss man zeitig Schloss und Riegel setzen.

Corneli fühlt, dass ein erkältender, feindlicher Wind weht, und dass es ihm, dem Kirchenpräsidenten, gilt. Noch mehr, einer von den fünf Räten muss doch dem Pfarrer Platz machen. Wer soll nun weg? etwa der Jüngste, eine Hoffnung? der Älteste sicher, ein Hindernis, eine Ruine. Wir gönnen Ihnen einen stillen Feierabend! Ja, so tönt es. Er, der ehrwürdige Greis, der siebenundfünfzig Jahre lang die Gemeinde durch die Gewitter der Kantonspolitik und durch die Krisen der Weltwirtschaft führte, er, der lange vor Bismarck und dem dritten Napoleon schon der oberste Mann in seinem Dorfreich war, er, der den Krimkrieg noch erlebte und sieben Päpsten die Krone aufsetzen und wieder nehmen sah, er soll von einem Heisssporn, der sein Enkel sein könnte und grün und wild wie junges Unkraut aufschiesst, entsetzt und entwurzelt werden. Das nicht! Alles ginge drunter und drüber mit diesem dunkelblütigen Präsidium. Das Geld rollte nur so aus den Sparkassen. Da würde gemalt, geschnitzt, gebaut und unser lieber Herrgott in eine vergoldete Eitelkeit hineingezerrt, dass er sich nach dem Stall zu Bethlehem und nach der Hobelwerkstatt zu Nazareth inniglich zurücksehnte. –

- So begann der sozusagen unterirdische Kampf zwischen den zwei grossen C, die das Alphabet regieren wollen, wie der Ilgenwirt scherzte, zwischen Corneli und Carolus. Man sah keine Fäuste, und es flogen keine Fehdebriefe herum. Die zwei Majestäten hätten es unter ihrer Würde gehalten, in den Staub eines rohen Kampfes hinunterzusteigen. Sie liessen ihre Anhänger schalten und taten, als duldeten sie nur ungern, dass ihr Name in einen Wahlstreit getragen würde. Sie redeten nie davon. Aber es gab Zeichen und Winke, ein Lächeln, eine gerunzelte Stirne, ein abgestuftes Grüssen und Kopfnicken, womit deutlicher als mit Bitten oder Befehlen gesprochen und korrespondiert wurde. Und die Leute machten sich ja so gerne zutunlich und wichtig. Wer sich mehr Vorteil vom Pfarrer versprach, nickte dorthin; wer vom Ammann abhing, hielt sich da fest. Höhere, edlere Gründe, um sich für den einen oder andern aus schwerer Seele zu entscheiden, gab es nicht. Der Corneli war vielleicht ein bisschen geizig, aber gegenüber der Kirche immer ein frommer, treuer Freund, der beste Kamerad der frühern Pfarrherren gewesen. Und doch wollte ihn der Pfarrer wegräumen! – Und der Pfarrer war doch wahrhaft auch ein Muster von Eifer, Frömmigkeit und unermüdlicher Seelsorge; etwas Böses war ihm nicht zuzutrauen. Es handelte sich da also nicht um Himmel und Hölle, und gerade das verwirrte das Lustiger Völklein. Um was handelte es sich nun? Man kratzte hinter den ihren, man schielte auf die Seite und flüsterte: »’s ist halt der Beste ein schwacher Mensch und kann nicht aus der Adamshaut heraus. Nach einem Apfel gelüstet den Frömmsten.« – »Reichsapfel«, witzelte der Ilgenwirt. »Jawohl, zwei so Grosse sind sich leicht im Wege. Regieren ist so hässlich zu zweit wie herrlich als einziger!«

Von den heissen Idealen, um die es Carl zu tun war, von der bittern Einsicht, dass ihm hinten und vorne aller Schwung genommen sei, wenn dieser Alte immer und überall hineinmeistere, von den Seelenkämpfen mit sich selbst und von den dutzendfachen Versuchen, sich friedlich schiedlich mit dem Widerpart zu einigen, davon wusste niemand etwas. Man dachte einfach an eine fröhliche, fromme Schwäche der beiden Herren und hatte nun erst recht kein Gewissen, seine eigenen Schwachheiten recht profitabel als Parteimann des einen oder andern Rivalen in den Dienst zu stellen.


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