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Lustigern hat nie einen eigenen Arzt gehabt. Die Herren Doktoren kommen, wenn sie jung sind, auf dem Velo, die Dreissiger zu Fuss und die Vierziger mit dem Einspänner von Uzli, Wyla oder Batzig daher und tadeln alle, man rufe sie immer zu spät und meist in der Nacht ins entlegene Dorf. Wenn Dr. Grendel in Uzli von der Hausschelle erwacht und noch müde von her gestrigen aufopferungsvollen Praxis der Frau ruft: »Geh und horch am Fenster, ‘s ist zwei Uhr, das kann nur ein Lustiger sein,« so täuscht er sich selten einmal.
Aber jetzt begegneten sich zwei und oft drei Ärzte am hellichten Tage auf der Lustigern Dorfstrasse. Es war falsch, man rief sie nicht zu spät. Aber diese Frauen und Männer kennen nichts als Arbeit und Mühe vom Morgen- bis zum Abendstern und karge Erquickung und Aushalten und Ausharren wie Zugpferde in den Deichseln. Sie bleiben gesund. Aber nach und nach zehrt sich ihre Lebenskraft auf, und kommt dann eine Erkältung an der Zugluft, wenn man vor Hacken und Schaufeln sich bachnass geschwitzt hat, oder eine Ansteckung wie die giftige Grippe, dann finden diese Zerstörerinnen eine abgebrauchte, müde Maschine, wo schier auf einen Fingerdruck die ganze Mechanik zusammenkracht.
So starben denn vor allem die Alten. Cecili hüllte ihren Corneli in dicke Schärpen, aber den täglichen Messgang konnte sie ihm nicht verbieten, und einen Mantel kauften sie beide nach achtzig mantellosen Jahren nicht mehr.
Den Kaplan und Pfarrers Peregrina warf es am gleichen Tage ins Bett. Das Mili und Lorli kamen und halfen. Siria aber ging in die ärmsten und elendesten Wohnungen wie eine patentierte Krankenschwester. Ihr Tee war gut, ihr Mitleid tat noch besser, aber am meisten half den Kranken auf, wenn sie mit ihrer singenden Stimme ein Kirchenlied und hernach einen frischen Jodel sang. Ja, besonders der Jodel schien eine eigene Heilkraft zu besitzen.
Eines Tages fuhren drei Särge am gleichen Morgen zum Friedhof. So etwas war noch nie in Lustigern vorgekommen. Als Carl diese drei langen schwarzen Gehäuse sah, fielen ihm die sechs Bretter ein, die er zweimal am Waldhüttlein des Matthias Minz erlebt hatte. Er fühlte sich durchaus wohl. Es war kalt und wirbelte einen bissigen Aprilschnee über die schwarzen Kleider und weissen Chorröcke. Dennoch ging ein sonderbares Bangen durch seine Glieder. Mit den Dreien, die da steif und gefroren in den Särgen lagen, hatte er vor wenigen Stunden noch gebetet, die bittersten Augenblicke gleichsam mitgerungen, ihren letzten Seufzer entgegengenommen. Seit vier Wochen war er so Tag und Nacht auf dem Plan gestanden, immer im Atem Kranker, im Wimmern Sterbender, im Hilfeschrei solcher, die leben, ach so gerne noch leben wollten, und müssten sie noch dreimal härter als bisher das Brot für jeden Tag und den Schlaf für jede Nacht erkämpfen. Carl war allgegenwärtig. Eben hatte man ihn oben, eben unten im Dorf gesehen, am Fenster der Schreiberfrau Mathis, bei der Ilgenwirtin, im Schulhaus, auf der Strasse nach Schwarzenboden. Er verdreifachte sich sozusagen, die Ärzte staunten über seine herrische Kraft, die Kranken vergötterten ihn. Er wachte nächtelang bei einem Jüngling, dessen grünes Holz sich bog und krachte und doch erst nach sieben mal sieben Sensenhieben martervoll zerbrach. Aber das war die Niederlistube, wo der letzte Tanz getobt hatte. Carl sagte kein Wort, segnete, betete, tröstete, scherzte in Minuten der Erleichterung, richtete das Selbstvertrauen auf, erzählte Geschichtlein, die mit den Füssen auf der lustigen Erde steckten, aber den Kopf in den noch viel lustigeren Himmel strecken. Im Hause des Sägemeisters Weibel und am Bett des gewaltig fiebernden Ilgenwirts liess er nicht ein Tröpfchen Unmut über ihre Feindseligkeiten bei der Kirchgemeinde, nicht eine leise Runzel über ihre Tanzfrechheiten merken. Er verzieh und vergass das alles, wurde in diesen breiten Schatten des Todes selber interesseloser für irdische Geschäfte und Sorgen, seine Stirne war nicht mehr ganz glatt, an den Schläfen fing das kecke Kraushaar an, mäusegrau zu werden, seine herrliche Augenbläue umwitterte etwas wie Ewigkeitsluft. Welch ein Priester! lobte man. Ein Seelsorger, wie wir noch keinen gehabt! Dass er uns doch lange erhalten bleibe! Nur ganz in der Tiefe der kritischen Seele fügten die gelasseneren Männer hinzu: wenn er doch nur in seinem Chorrock bliebe, da ist er ein Held und Heiliger!
Aber Carolus kannte jetzt seine Leute. An jenem Abend in der Fastnacht hatte das Runzelig- und Grauwerden begonnen. Er traute nicht mehr. Das Fleisch ist zu schwach. Ging diese Geissel vorüber, so erwachte der alte Hang, die alte Lockung, die alte Schlangenlust. Mit dem öffentlichen Tanz ist es für lange aus. Aber in den Häusern kann es wieder aufflackern und in der Ecke, wo der Grossvater sich im letzten Röcheln streckte, kann nach wenigen Wochen wieder der Schül mit der Geige sitzen. Der Schül hat noch keine Antwort. Er ist nicht widerlegt. Keine Gründe können ihn widerlegen, wenn Predigt, Erfahrung und Tod ihn nicht widerlegen. Da nützt der Geist nichts, da nützt nur robustes, praktisches Vorgehen. Schül muss um jeden Preis fort; selbst wenn Siria, die eine so gelehrige und willige Tochter seines Unterrichtes geworden ist, mitzieht und neuerdings den Staub der Erde zu schlucken beginnt. Zuerst und vor allem ist die Seele des Dorfes zu retten.
Als Carl nun an diesem fünften April vor den drei Särgen stand, vom Winter umflockt, als könnte es gar keinen Frühling mehr geben, da umfing ihn eine grosse Traurigkeit. Die Röte wich aus seinem Gesicht, die Augen netzten sich, er musste mehrmals im Totenpsalm absetzen. Kaum konnte er die Leichenrede anheben. Vom Aufjammern der Leidleute, vom vielen Husten der Schulkinder und von seinen eigenen sonderbaren Ängsten oft unterbrochen, erzählte er langsam, wie die Drei hier den letzten Schritt in die Ewigkeit getan hätten. Meinrad Eicher, der im längsten Sarg, habe ihm noch zum Turmbau drei gefällte Eichen vom Torwald geschenkt und gesagt, die Eichen des Wildbergers Alberti, der auch im Sterben lag, gäben nicht so solides Holz. Da habe der Alberti noch zwei Beigen Tannenbretter vermacht, für die Gerüstböden sei Eiche zu schwer. Aber die zwei Greise selbst seien standhafter als Tanne und Eiche gewesen; denn jene Bäume zittern unter der Todesaxt, sie aber hätten der Welt beinahe lachend Gutnacht und dem Himmel Guttag gesagt. Im schmälsten Sarg aber liege der gute heftige Jakob Weber, der immer so grosse runde Augen gemacht habe, wenn er etwas Neues oder Merkwürdiges sah. Wie der sanft geworden sei und gegen Morgen fünf Uhr, als das Betläuten anhob, den Pfarrer nochmals an beiden Händen gefasst, mit kalten schwitzenden dünnen Fingern gefasst und geflüstert habe: Nicht wahr, Pfarrer, es geht nicht mehr lange! – Und dann habe er ihn umklammert, wie man ein Ruder im Sturm umklammert, habe die Augen wunderbar gross und schön aufgetan und gelispelt: Da ... da ... sind die ...! und sei ihm leblos auf den Arm gefallen. Da sind sie! Er höre es noch. Jakob habe es fast gesungen. Welche sie? O gewiss die Engel des Herrn, um so einen Lieben im schönsten Schwung ins Paradies zu tragen! – Ach, rief dann Carolus, schauen wir doch nichts mit den Mäuseaugen der Erde an. Tun wir die grossen Augen dieses Jünglings ins Ewige auf, dann wissen wir Ernst und Eitelkeit zu unterscheiden, dann zuckt es in keinem Muskel mehr zum Tanz, dann bauen wir mit unsterblichem Tannen- und Eichenholz am Turm, von dem aus wir in den Himmel sehen und einst mit einem fröhlichen Satz auch in den Himmel springen.
Und reden kann er, hiess es nachher. Wie ein Papst! Kein Zweifel, den nimmt uns der Bischof bald genug weg. Solche vergrauen nicht zuhinterst im Land. Die Stadt wurd ihn wollen. Er bekommt den Domherrenstuhl und weiss Gott noch den Bischofstab zu guter Letzt, kommt unsere Kleinen zu firmen und zwinkert mit den Augen, wenn er am »Silberfisch« vorbeigeht. Und wenn dann alles Volk in den Staub sinkt vor dem violetten Mann und seinem apostolischen Segen, dann scherzt er vielleicht: So seid ihr nicht immer abgekniet, ihr lieben Leutchen! – dann erwidern wir: Doch, doch! gnädiger Herr, immer sind wir vor unserm Seelsorger so niedergekniet. Ihr habt es nur nicht immer recht merken wollen.
Am Nachmittag machte der Pfarrer einen Besuch in der Kaplanei. »Wie bring’ ich nur den Geiger fort?« fragte Carl seinen Kaplan, der noch sehr gebrechlich im Bette lag, aber die ganze Decke mit Abschriften von Dokumenten, alten Briefen, einer gesiegelten Urkunde und einer handgeschriebenen Chronik überstreut hatte.
»Gib ihm ein paar Tausend Franken, und er pfeift wie der Biswind davon.«
»Woher nehmen?«
»Vom Turmfonds! oder wie die deine geheimnisvolle Kasse nennst.«
Carl starrte den Eusebius verblüfft an.
»Es fragt sich nur,« betonte der Kaplan, »ob ein solcher Geldverbrauch noch im Sinne der Schenker läge.«
»Das schon, o das schon. ‘Zur freien Verfügung des Pfarramtes für gutscheinende Bedürfnisse der Pfarrei’, steht deutlich auf dem Deckel. Anders nahm ich keinen Fünfbätzler an. Aber, aber ... das andere ... nein, das geht nicht.«
»Was geht nicht, Carl, mein Herz? was?«
»Ich muss mit dem Turmbau beginnen. Nach Ostern darf keine Stunde gezaudert werden.«
»Wieso pressiert das so, du Grosser?«
»Hör’, Kleiner, aber red’ mir nicht drein, bis ich fertig geredet! Ich bin ein bisschen Thomas. Ich muss sehen, greifen. Ich glaube auch ohne das, aber recht mutig und tüchtig und sicher werd’ ich erst, wenn mir die fünf Sinne beistehen. Es ist eine Schwäche, aber es ist so. Und darum den hohen Turm her! Nun sind aber die Lustiger noch viel ärgere Thomasse als ich. Beweise so hell wie Glas und Widerlegungen so stark wie Stiere ... oh ... das ...« Carl schlug sich auf den Mund.
»Was hast du?«
»Nichts, nichts!« – Aber auf einmal stand hell das Wort des Bischofs vor ihm: Nicht mit dem Horn des Stiers, mit dem geduldigen Zahn der Maus ...
»Also, Argumente so scharf wie Mäuschenzähne, geduldige, frommen ihnen keinen Deut. Sie müssen alles gröblich sehen, hören, betasten können. Ich arbeite an ihrer innerlichen Erbauung; diese Grippe hilft mit. Sie ist eine schreckliche Gnade, aber doch eine Gnade. Dennoch wird erst der augenfällige Ausbau des Turmes sie recht begeistern und ganz für meine Pastoraten gewinnen. Tatsachen wollen sie haben. Dieser gen Himmel strebende Turm wird eine Tatsache sein, die auch ihre eigenen Türmchen reckt. Sie können dann nicht anders. Ich habe jetzt fast neuntausend Franken beisammen, Holz wird schon nächste Woche auf den Platz geliefert, Steine, Sand, Kalk, Zugtier, alles ist bestellt. Am Osterdienstag beginnen wir.«
Eusebius überschaute seinen Carolus von Kopf zu Fuss. Welch ein herrlicher Mann, selber stand er da wie ein Turm.
»Bist du dir denn nicht selbst Turm genug?«
»Du hast es ja gesehen,« entgegnete Carl bitter, »wie dieser Turm an der Kirchgemeinde und wieder am Fastnachtabend Risse bekommen hat. Wenn ich noch lange warte, gibt es einen schiefen Turm von Lustigern.« Er lachte sein lautes, gezwungenes Lachen.
»Und ist dir Gott nicht Turm genug?«
»Ach, da fängt es wieder an,« zürnte Carl; »du willst nicht verstehen.«
»Dann rede das Siegel da!« sprach Euseb und wies auf die grosse graue Urkunde neben sich. »Schau, es ist eine Urkunde des Abtes von St. Gallen, als man ihm einen Haufen Rechte und Gewalten beschnitten hatte. Von da an siegelte er mit diesem Satz und blieb der seligste Mensch.«
»Amor turris meus«, las Carl. »Jeder auf seine Weise, Eusebi. Dem ist die Liebe, mir ist der Glaube Turm.«
»Aber ohne Liebe wäre es ein Turm ohne Fundament. Paulus, Korinther ...«
»Habe ich keine Liebe? Eusebi, alter Freund, kennst du mich nicht besser? Du weisst gar nicht, wie ich die Lustiger liebe. Alle möchte ich zusammen in meinen Hosensack, ach nein, das ist dumm,« verbesserte er sich sehr ernst, »alle möchte ich sie zusammen in den Tabernakel zu Jesus einschliessen, und mich damit, und gar nie mehr herausgehen in diesen Winter der Welt. Frag’ die Kranken, ob ich keine Liebe habe. Aber ich kann nicht streicheln und schmeicheln und Süssholz raspeln. Liebe ist nicht Liebelei.«
Eusebius seufzte leise. Zugleich öffnete sich die Türe und Marianne steckte den Haselnusskopf herein und rief: »Herr Pfarrer, kann ich die Siria hereinlassen? Sie bittet recht darum.«
»Ich selbst habe sie ja hierher bestellt,« murrte Carolus, »damit es weniger auffällt. Nur herein! Eusebi, hilf mir um Gottes willen ein bisschen!«
Siria, das grosse, grobgebaute, aber von einer Zartheit des Herzens so lieblich verschönte Weib, trat beinahe furchtsam und mit schwitzender Stirne herein und blieb an der Türe stehen. »Nicht, nicht,« bat sie, als der Pfarrer ihr die Hand bot. »Ich habe ein wenig Fieber. Das Sandmeitli ist erkrankt und bekam eine böse Nacht. Es hat mir einigemal mitten ins Gesicht gehustet, es konnt’ nicht anders, das arme, es erstickt ja beinah. Ich sitze hier ab. Aber, Herr Pfarrer, mir ist angst. Bitte, sagt nichts Hartes gegen Schül. Gestern hat er mit mir das ganze Vaterunser gebetet. Wir fürchteten, er bekomme die Grippe. O wie schön hat er gesagt: vergib uns unsere Schulden! Nein, der ist nicht arg in der Seel’.«
»Und heut fühlt er sich wieder wohl?«
»Ganz gesund, gottlob.«
»So, dann könnt Ihr aufs nächste Vaterunser lange warten. Schon heut fiedelt er Euch eine Polka.«
»Ach, Hochwürden ...«
»Nein, nein, Ihr seid schlecht und recht die richtige, weiche, liebe, unlogische Eva, wie sie im Büchlein steht. Ihr schaut nicht weiter als zur hübschen Nasenspitze Eures Schül. Ich aber muss über die Köpfe und Seelen dieser Pfarrei wachen; auf einen einzigen Mann und auf eine noch so brave Siria kann ich nicht Rücksicht nehmen. Einer Karte zulieb darf man nicht das ganze Spiel verlieren, oder, Herr Jasskaplan?«
Eusebius lächelte ein ungewisses Nein. –
»Christlich ordnen wollt Ihr Euer wildes Beisammensein nicht,« schalt Carolus möglichst sanft, »er aus Unglaube, Ihr aus blinder Anhänglichkeit zu ihm. Diesen Zustand darf ich nicht länger stillschweigend dulden.«
»Geduld, Herr Pfarrer, ich bete ja so viel, dass ...« Es schüttelte ihren Körper vor Fieberschauer oder vor seelischer Not. »Gott wartet, Gott ist so gut, Gott ...«
»Gott wartet? Wie könnt Ihr das behaupten, wo so oft und unerwartet die Totenglocke schallt. Und wenn Gott wartet, heisst das, wir dürfen auch ganz bequem warten?«
»Nein, aber nicht so bitter pressieren, so ...«
»Es gibt nichts Pressanteres als unsere liebe arme Seele, glaubet mir.« Carl sprach das mit einer unnennbaren Ergriffenheit und drückte die breite rote Hand an seine Brust. Ihm war, es töne da drinnen: ja, ja, nichts Pressanteres! Pressiere du nur auch!
Die Türe ging auf, der Haselnusskopf der Marianne schob sich wieder und hernach ihr räderweiter Rock mit den unsichtbaren Pantoffeln ohne Exküsi herein. Sie trug ein Teebrett, stellte es vor Siria auf das Ziertischchen und sagte: »Da ist Enzian und Zucker und Zitrone im heissen Wasser. Das trinkt. Gleich wird Euch besser.« – Und zu den Herren: »Die arme Frau hat fast nicht die Treppe hinauf gekonnt ... Siria, kommt dann noch in die Küche, wenn Ihr geht!«
Carolus wölbte die Brauen über die eigenmächtige Person. Siria schluckte das Gebräu dampfend hinunter und wischte unaufhörlich den Schweiss aus dem Gesicht.
»Höre, liebes Kind,« fuhr Carl fort, »der Julius langweilt sich hier entsetzlich, er fliegt aus, sobald er kann. Auch hat er eine reissende Angst vor der Grippe. Könnte er jetzt gut weg, er reiste noch vor Abend ab. Auch ich möcht’ ihn schon vor Abend wegwünschen. Da sind Schül und ich einig. Nun war doch im Winter Aussicht für eine Anstellung in Zürich. Ich bin bereit, hierzu das möglichste beizutragen. Bitte, sagt ihm das. Ich will auch mit dem alten Zellwig noch darüber reden. Schickt mir den Schül morgen ins Pfarrhaus. Bereitet ihn vor, stimmt ihn ein bisschen demütig, dann geht es schon.«
Siria erhob sich schwer, als klebe sie überall an allem und jedem an und müsse sich schmerzlich losreissen. O ja, es war kein Kleines, diesen Frieden zu verlassen und wieder ins alte, wüste Getümmel geschleudert zu werden. Aber ihren lieben Schül konnte sie nicht verlassen. Ohne ihn, meinte sie, wäre erst recht kein Friede in ihr. Er gehörte zu ihr wie ihr Atem und Pulsschlag. Ohne ihn hätte sie sich nie zurechtgefunden, wäre sie jetzt wohl eine Ertrunkene im Wasser oder eine Verstossene im Strassengraben. Bei ihm hörte sie die ersten Klänge von Güte und echter Herzlichkeit durch allen Wirrwarr seines Gehabens. Ein Halbblinder führte eine Blinde und führte sie nicht schlecht, besser als sich selbst. Und nun war die Führung an ihr. Nie, nie, durfte sie ihn verlassen.
»Und Ihr,« bat der Pfarrer. »Bleibet doch bei uns! Alle sind Euch gewogen. Glaubet mir, wenn etwas Echtes an Schül ist, so kommt er später zurück und führt Euch an den Altar, wie es von Anfang an hätte sein sollen. So lebt Ihr in Sünde und Euer gutes Engelchen im Himmel, das Christophli, weint über Euch und schämt sich vor allen seinen himmlischen Gespanen, dass es nicht auch wie sie auf die Erde hinunterzeigen und prahlen kann: Seht, da geht meine Mutter mit dem Vater zur Kirche, sie haben Gesangbuch und Kerzen in der Hand und einen schönen Krank auf dem Kopf. Und alles grüsst sie, und der Pfarrer segnet sie, und sie bitten unsern Herrgott vor dem Altar um ein neues Büblein, da sie mich so schnell verloren haben.«
Siria sank wieder auf den Stuhl zurück.
»So ein seliges Geplauder möchte Euer Christophli im Himmel anheben. Und ihr beide hindert ihn und verhaltet ihm das Engelmäulchen, ach ... dem lieben Christophli!«
Jedesmal beim Namen Christophli erbebte die Frau. Beim dritten Mal war alle Rührung überwunden. Fest stand sie auf die Beine, öffnete die Türe weit und sagte düster, aber ohne Zorn: »Und Ihr habt das Kind nicht einmal getauft. Eure Hände meintet Ihr an diesem unschuldigen Geschöpf zu besudeln. O Herr Pfarrer! Dafür lässt unser Herrgott das Büblein jetzt bis an sein Knie kommen und nimmt es auf seinen Schoss und küsst es. Gott ist viel, viel barmherziger als Ihr! Lebet wohl!«
Und schon war sie an der Küche vorbei und zum Hause hinaus und stürmte dem Hag entlang die Wiese zum Tälerhaus hinauf.
Eine ruhelose Nacht folgte für Carl. Weder Mond noch Sterne schienen. Ein erstickendes Dunkel presste sich schwer an die feuchten Fenster. »Ach,« betete Carl, »es gibt keinen Frieden hier. Der Friede ist aus einer andern Welt.«
Er öffnete die Kasse und zählte die Fondsgelder zusammen. Neuntausenddreihundertsechzig Franken. Gleich schoss aus diesen soliden Zahlen ein solider Turm auf. Aber da reckten sich zwei riesige Arme herzu, packten ihn oben und brachen ihm den Hals, wie der Wind eine Pappel knickt. Wer war das? Der Schül? der Corneli? Oder, oder war es am Ende der Herrgott selbst?
Er rieb sich die Augen, schlief und träumte wieder buntes Zeug und war auch wieder jeden Augenblick wach. Denn er hörte alle Stunden schlagen. Schliesslich klopfte ihm das Herz so überschnell, dass er aufstehen und sich in den Lehnstuhl setzen musste.
Immer wieder, wenn er sich mühsam hin und her bedacht hatte, blieb er mit brennender Lippe vor der Frage stehen: soll ich den Turm opfern? Oder soll ich die Seelenruhe des Volkes opfern? Sie geht ja über alle Türme der Welt. Aber muss es denn sein? Kann man denn nicht beides behalten?
Noch ganz übernächtigt sah Carl aus, als Schül geziert wie immer, mit Hut und Stöcklein in der Linken und einem gewissen fröhlichen Humor in den prachtvoll schwarzen, von Leichtsinn glühenden Augen ins Studierzimmer eintrat. »Und?« sagte er, die Schnurrbartzipfel kräuselnd. »Und?«
Wirklich ein hübscher Mann, schlank, biegsam, mit nachtschwarzen Locken und einem losen Zug um die Lippen, die rot und süss wie Himbeersirup schienen, so ganz ein Figürchen, um den Mädchen den Kopf zu verdrehen und schwachen Frauen den Halt zu nehmen. Kein Boshafter! Er könnte kein Kaninchen schlachten. Aber genusssüchtig wie ein Maikäfer. Er ist imstande, die Unschuld von Dutzenden zu töten. Seine Geige ist des Teufels! Carl sah nicht Stöcklein und Hut; ihm war, der heillose Kerl schwinge Geige und Bogen. O was hat dieser Geiger in den sechs, sieben Monaten seines Hierseins für Unruhe und Qual gestiftet und dazu immer mit lachenden roten Siruplippen. Furchtbar kam er ihm vor, hexenmeisterlich, ein dämonischer Schwindler. Dass ich so lange warten konnte, wunderte sich Carl. Dass der mir nicht schon das ganze Dorf verhext hat. Hier muss alles gewagt, alles geopfert werden.
Der Pfarrer bot Schül einen Stuhl und fragte höflich, wie es »der guten Siria« gehe.
»Meinem Weibe wollen Sie sagen. Sie ist heute im Bett geblieben. Mili liess sie nicht aufstehen.«
»Das ist die Grippe! Passet auf! Diese Hexe schont niemand. Letzte Nacht meinte ich, sie halte mich auch schon am Zipfel.«
Schül rückte etwas zurück und rieb die Hand am Knie ab.
»Heute früh wurde ich zum Schreiber Mathis gerufen. Der war noch nie krank. Jetzt liegt er erst zwei Tage. Und wie ich komme, ist das Licht schon ausgeblasen. Er hatte noch den Mund offen, als wollte er etwas herausschreien. Niemand wagte, ihn zu berühren. Da hab’ ich’s getan ...«
»Sie selber?« Mit Grausen betrachtete Schül die roten Hände des Pfarrers und rückte noch mehr ab.
»Das macht man so,« erklärte Carolus und hob die Hände mit den hohlen Seiten wie zwei Schalen gegeneinander, dass gerade ein Gesicht dazwischen Platz hatte. »Ihr fasst unten, sehr so, das Kinn und drückt von oben stark über die Stirn herunter. Dann schnappt es wie ein Türschloss ein und geht beim ärgsten Schütteln im Sarg nicht mehr auf. Doch was habt Ihr? Wie bleich Ihr werdet! Gebet acht, Ihr bekamt die Grippe noch nie. Wen sie so spät packt, packt sie dafür auch ganz gehörig.«
Dem sensiblen Schül klapperten die Knie zusammen. Er fürchtete das Kranksein wie das Huhn das Wasser. Wenn es ihn einmal ins Bett werfe, dann sei es Matthäi am letzten. Ihn bangte, ob er wohl von Siria oder jetzt vom Pfarrer schon angesteckt sei. Unendlich verlangte ihn weg aus diesem Spitaldorf. Er merkte den Spott des Pfarrers wohl, aber jetzt überwog die heillose Todesfurcht.
»Dieses Klima tut mir nicht gut,« sagte er leise; »ich friere hier immer und schwitze dann wieder und ... überhaupt ...«
»So geht doch!«
Schül knipste mit Daumen und Zeigefinger. Das hiess: und woher das Geld? – Dann fügte er laut bei: »Ich muss jetzt Erwerb haben. Ich bin Musiker. Ich will Geigenstunden geben, hier und in der Nachbarschaft. Auch Handharmonika und Zither und Trompete verstehe ich. Ganz billige Lektionen will ich nach Ostern offerieren. Die Leute sind musikalisch, das gibt schon Brot und am Ende sogar Braten.«
»Das heisst, wenn Ihr nicht selbst vorher ein Teu ... ein Todesbraten werdet,« drohte Carl, in dessen Einbildung die Gefahr solcher Musikstunden, von einem solchen Lehrer erteilt, ins Ungeheuerliche wuchs. Da würde der Walzer sozusagen wie ein Teufelskatechismus schon den Kindern ins Blut eingegossen. Niemals! Und kostete es nicht einen Kirchturm, sondern ein siebentürmiges Münster wie das von Rouen sein soll.
»Ihr wollt mich erschrecken,« wehrte Schül ab.
»Ja, Julius Täler, das will ich,« begann Carl nun mit Energie. »Seien wir ehrlich! Ich will und muss Euch aus meiner Pfarrei schaffen, und koste es auch die gute arme Siria.«
»Reich, reich ist sie bei mir,« prahlte der Tropf.
»Aber auch Ihr wollt um jeden Preis fort. Ihr habt eine wahre Todesangst, länger da zu bleiben. Es langweilt Euch überdies hier unendlich. Hättet Ihr Sechs-, siebenhundert Franken, Ihr hättet längst den Spatzenstrich genommen.«
Schül zuckte skeptisch die Achseln.
»Das hättet Ihr!« wiederholte Carl bestimmt. »Nun gebe ich Euch nicht siebenhundert, ich gebe siebentausend Franken, wenn Ihr heut abend packt und morgen in aller Frühe verschwindet!«
Der Eindruck dieses Wortes war gewaltig. Schül erhob sich wie vom Blitz getroffen, setzte sich wieder und stand wieder auf. Plötzlich lachte er auf: »Legendenstil! Den kennt ihr Schwarzröcke so gut.«
»Schwatzt blöd, wie Ihr mögt und müsst. Ich wiederhole einfach: siebentausend Franken!«
Eine Pause trat ein. Carl liess dem nervös zuckenden und reibenden Schül Zeit, sich zu sammeln.
»Ist das wahr?« fragte Schül plötzlich, die Augen voll Tränen. »Wär’ so ein Wunder möglich! Ach, wie ... wie ... danke ich Ihnen!« Er sah weite Strassen, das violette Dächermeer einer grossen Stadt, die blitzenden Spiegel der Restaurants und die Trunkenheit eines von Freude zu Freude tänzelnden Gassenvolkes, See, Dampfschiffe, Villen im Grün, sausende Eisenbahnen, Fahnengeflatter, Burgunderweine in geschliffenen Kelchen und Musik, Musik überall, aussen und innen. Freilich auch einmal Hunger, riskierte Schwindeleien, Polizei, Wachtlokal, aber das geht vorbei und wieder funkelt wie ein Sternenhimmel die Grossstadt mit ihren unzählbaren, ewig neuen, rettenden und beglückenden Möglichkeiten.
»Hier gibt es kein Wunder,« bemerkte Carl beinahe angewidert und zeigte auf einige dick und gross beschriebene Bogen auf dem Tisch. »Wir haben eine nackte Rechnung vor uns. Ich gebe, Ihr nehmt, und die Bedingungen werden rechtlich unterschrieben. Haltet Ihr sie nicht wie jüngst mit der Hunderternote, dann geht alles an uns zurück.«
Jetzt wurde Schül aufmerksam. Bedingungen, unterschreiben ... geht alles zurück ... das klang schon wieder wie Strick und Handschelle.
»Wie meint Ihr eigentlich? Ich verstehe nicht,« gestand er unsicher.
»Ganz einfach: ich habe mich von Herrn Zellwig unterrichten lassen. Der Platz in Zürich steht noch offen. Aber die Hinterlage wurde inzwischen, da gar viele Anmeldungen kamen, auf zehntausend Franken erhöht. So viel müsst Ihr als persönliche Garantie hinterlegen. Verseht Ihr den Posten auch nur fünf Jahre leidlich, so braucht es keine Sicherung mehr. Macht Ihr aber Dummheiten, so können wir das Depositum vom einen Tag zum andern zurücknehmen, wobei freilich vorerst dem Unternehmer aller daraus erwachsene Schaben zu vergüten ist. Wir riskieren also nicht wenig. Ihr aber werdet in einem solchen Falle unwiderruflich auf die Gasse gestellt.
Nun zahle ich siebentausend, Herr Zellwig dreitausend Franken an jene Hinterlage. Zellwig ist ein reicher Fabrikant, und er sagte mir selbst, dass er an unsre katholische Kirche als strammer Protestant nichts gäbe. Aber in Euerem Falle wolle er dreitausend Franken gefährden. Er kenne meine Gründe, er achte sie auch als Andersgläubiger hoch, und da es ums Volkswohl gehe und weil nur Katholiken seit dreissig Jahren in seiner Stickerei ständen und einen redlichen Teil am Gedeihen seines Hauses hätten, so mache er sich eine Freude daraus, mir mit diesen dreitausend Franken beizuspringen, um so lieber, als sie ja sicher nicht verloren seien. – Ich hätte den Corneli fragen können. Aber der hätte mir einen abschlägigen Bescheid gegeben. Das ist ein verlorener Posten, hätte er gesagt, basta. So beschämt dieser freisinnige Protestant gar viele von uns, die katholischer als katholisch sein wollen. Wir glauben nicht, dass es ein verlorener Posten ist, sonst könnt ich’s nicht verantworten. Es ist nicht mein Geld, es ist Herrgottsgeld.«
Schül schwieg. Carolus lief mit hitzigen Schritten um den Tisch. Der Versucher lockte noch ein letztes Mal: bleib beim Turm; auf den Schelm hier ist kein Verlass! Vergiss nicht, dass du schon Material gekauft und Löhne zugesichert hast; dass, wenn man zu Ostern nicht mit den Gerüsten beginnt, wie du laut genug verkündet hast, du allen, allen Kredit in der Pfarrei verlierst. Deine Freude wird zu Wasser, dein Mut zerrinnt. Und darfst du frommes fremdes Geld zu diesem Zweck verwenden, nämlich dass ein Spitzbube wie der Schül auf einer Vorstadtbühne allen Hokuspokus treiben kann?
Und was willst du dann machen den langen Sommer? Im Schlafrock sitzen und die Friedhofkrähen zählen? Und der Corneli! Wie wird er ins Fäustchen lachen. Wie lautete jüngst das Brieflein des Bischofs? So: »Ich teile Hochwürden mit, dass der Donator der Kinderglocke in Lustigern den Namen geändert und statt einer Carls-, eine Ceciliaglocke weihen lässt. Die Glocke kann auf Ende Juli in den Turm gehängt werden. Sie liegt bereits im Guss. – Und das Frauenkloster in den Heiligbergtannen, in der Kühle und im Frieden einer andern Welt, lockt Sie das nicht?«
»Frieden einer andern Welt!« wiederholte Carl.
Rascher und rascher stürmte er um den Tisch. Seine Finger bebten, das Stirnhaar ward feucht, und das Himmelblau seiner grossen, stolzen Augen netzte sich. O wie wäre es schön, das Hämmern und Sägen, das Emporziehen der Lasten, das Ho – hoi – o – o der Träger, das Rumpeln der Quadern, das Klatschen des Kalkwurfs, das tägliche Hinaufsteigen und Sehen, wie der gigantische Blumenstengel wächst, oder vom Pfarrfenster dem Fliegengesumme der Arbeit hoch über allen Giebeln zu lauschen. Dies alles lassen ist fast wie Tod ... o Gott ... wie schwer ist das! ... Und Wagen und Knechte sind für nächste Woche fest bestellt ...
Da zerrte jemand an der Klingel, stürzte die Treppe herauf, steckte, ohne erst anzuklopfen, den Kopf herein und schrie: »Ihr sollt in die Ilge kommen. Der Sigi stirbt.«
»Der Sigi? ist hier?«
»Vorgestern ist er in die Osterferien gekommen, er fühlte sich übel. ‘s ist nicht Grippe. Ganz anders, kommt!«
»Sogleich! Sagt, in einer Minute! – Und Ihr,« fragte Carl und suchte umsonst nach der glänzenden Seifenblase von vorhin. »Und ich? – Da stirbt einer, und wir, was plänkeln wir Arme noch lange um Zeitliches herum?«
»Wir unterschreiben!« sagte Schül voll Bitte und Hoffnung.
»Wir unterschreiben,« wiederholte Carl mechanisch.
»Da steht Zellwigs und Eure Unterschrift ja schon,« rief Schül, nachdem er die wenigen Zeilen überflogen hatte.
Carl zog ihm das Blatt aus der Hand und sagte: »Ich kann es noch zerreissen, noch in dieser Sekunde, und der Turm ist gerettet.«
»Der Turm?«
»Merkt das Kind noch nichts! Den Turm opfere ich für Euch. Woher hätte ich sonst die Tausender? Unterschreibt, schnell, schnell, so ist’s vorbei.«
Schül zeichnete seinen Namen in Fieberhast hin.
Viel sanfter bot ihm Carl den zweiten und dritten Bogen. Beim vierten Blatt für den Unternehmer in Zürich ward seine Stimme müde und heiser, als er sagte: »Auch dieses Blatt.«
Dann gab er ihm noch dreihundert Franken Vorschuss für die Reise. Die Firma Felber würde sie ihm vom Quartal abziehen und unmittelbar hierher vergüten. Er schloss: »Lebet wohl! Jetzt ist für Euern Leib gesorgt, das andre nehme unser Herrgott in acht!«
Als er zur Ilge rannte, die Knie schwer wie Steinplatten, hörte er im oberen Strässchen den Geiger das Liedchen pfeifen »Und im Aargau sind zwei Liäbi«, und sah, wie er das Stöcklein hochwarf und geschickt bald mit der rechten, bald mit der linken Hand wieder auffing.