Heinrich Federer
Papst und Kaiser im Dorf
Heinrich Federer

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Kapitel 17

Den Sonntag des achten Dezembers, wer vergisst ihn je im braven, schlauen Lustigern! Wer rühmt nicht – und reisst dazu nach Lustigergewohnheit die Ärmel zurück, als gälte es einen Hosenlupf, – wer rühmt nicht, er sei dabei gewesen und habe zwischen dem Eisberg und dem Vulkan gestanden, geschwitzt und gefroren, aber zuletzt doch tapfer den Arm für seinen Mann erhoben! Wer sagt nicht zu den Kindern, sie sollen näher kommen; denn er müsse ihnen noch ganz insgeheim sagen, wie er den Riesenpfarrer weinen sah. Ein weinender Pfarrer, das sei schon seltsam; und ein weinender Riese sei noch sonderbarer. Aber nun beides zusammen, das gehe über alle Vorstellung.

»Wie hat er denn geweint?« fragt wohl ein Bethli. »Sehr laut?« Und der Hans Weber fügt hinzu: »Hat er etwa Blut geweint?«

»Fast gar Blut, so weh hat es ihm getan. Aber wir konnten und konnten nicht anders,« antwortet der Grossvater.

Es war nach langem Nebel ein erster milder Wintertag mit Sonne und lauem Südwind. Der Schnee an den fernen Gebirgen glitzerte mit zerschmelzender Silberfrische. Und man beging dazu das Fest der reinen Muttergottes im weissen Gewand und blauen Mantel und mit der Lilie in der Hand und der ganzen Liebfrauengüte des Himmels in den Blicken; der Mutter, die so viel durch ihren grossen Sohn vermag. Man hätte keinen bessern Tag zu einem Lippenkuss der ganzen Menschheit finden können.

Nach dem Hochamt wurde das Allerheiligste aus der Kirche in die Sakristei getragen und im hintern Schiff ein Tischchen mit dem grünen Armstuhl aus der Ilge für den Präsidenten hingestellt. Cornelius setzte sich gravitätisch hinein und eröffnete mit seiner trockenen, zerhackten, schwachen Stimme die Kirchgemeinde. Der Jahresbericht solle verlesen werden.

Da war nun kurz zu hören, was im Lauf des Jahres vorgegangen war. Besonders wurde die Anschaffung zweier Kirchenfahnen und das Tünchen der Sakristei, alsdann der Tod des vielgeliebten Zyrill Zelblein und sein stattliches Begräbnis erwähnt. Achtzehn Jahre habe er im tiefsten Frieden die Pfarrei geführt. Hier husteten zwei, drei mutwillige Jünglinge, senkten aber vor dem verweisenden Blicke des Ammanns sogleich die Stirnen. Dann habe der Bischof der Gemeinde den Gonser Pfarrer anempfohlen. – Carolus stand im Hintergrunde, neben dem Mesmer und dem Organisten, und spürte ungern genug, wie ihm bereits das Blut zu Kopfe stieg, und doch war noch nichts geschehen. Ein schwaches Ohrensausen kehrte immer wieder, so oft er auch mit dem kleinen Finger im Ohr grübelte.

Der Protokollführer, einen dicken Bleistift hinterm Ohr, las weiter den feierlichen Empfang und Gruss des neuen Pfarrers und kam dann auf die verschiedenen Sitzungen zu sprechen, wobei gesagt wurde, dass der Kirchenrat die Renovation des Zifferblattes am Turm gerne vornahm, dagegen die Versetzung der alten und die Anschaffung der neuen Beichtstühle an die heutige Tagung verwies. Durch bekannte Ereignisse sei dieses Traktandum nun hinfällig geworden und der Rat wünsche jede weitere Diskussion über diesen Fall ausgeschlossen. Ein Brief des Bischofs an das Präsidium sei Genugtuung genug.

Carl ward durch diese Bemerkungen, so würdig und kurz sie klangen, dennoch schwer gereizt. Es war ihm gar nicht eingefallen, dass ein Jahresbericht die alten Sachen aufwärmen werde, ja, ordnungsgemäss aufwärmen müsse. Es wurde Pfarrer und Kaplan noch ein warmer Dank abgestattet für die aufopfernde Seelsorge während der tückischen »spanischen Epidemie« und dann Umfrage gehalten, wer sich zum Bericht äussern wolle. Sogleich erhob sich der Pfarrer und sprach: »Den Dank konnte man füglich weglassen, wir taten einfach unsere Pflicht. Aber als ich die Beichtstühle ins Kirchenschiff setzte, auch da leitete mich einzig der kirchliche Sinn fürs Gute und Rechte, dixi!«

Eiskalte Stille folgte. Dann wurde die Rechnung genehmigt und Carl musste zum ersten Mal hören, dass das Pfarrgehalt um sechshundert Franken erhöht worden war, sowie er hierher gewählt wurde. Das würgte ihn ein bisschen.

Nun erhob sich Cornelius und erklärte, statutengemäss sei mit heute die Amtsperiode der fünf Räte abgelaufen. Es müsse der Rat neu bestellt werden und er gewärtige Vorschläge. – Der Sekretär mit dem Bleistift und einem Zettel machte sich unverweilt fertig, die Namen, die gleich Schwalben sofort in die Höhe schwirren werden, auf sein Protokoll herunterzuholen.

Aber eine Zeitlang blieb es noch still. Das übliche Gezwitscher liess warten. Endlich piepste eine schüchterne Stimme, fast wie ein unflügges Zeisiglein: »Thadee Spicht!«

Das war wohl abgekartet, dass man den harmlosesten der fünf alten Räte zuerst aufrief. »Thadee Spicht,« wiederholte der Sekretär und notierte gewaltig.

Aber jetzt rauschte es wie ein Adler empor: »Cornelius Bölsch, unser alter Präsident!«

»Pfarrer Bischof!« flatterte ein anderer Adler auf. – Der Ilgenwirt, Viktor Quäler! – Niklaus Thor! – Der Schmid Eisli! – Emil Weibel von der Säge. Wir wollen auch einen Jungen! – Der Organist Peder! Peder, der Organist!

Der Name dieses Alten war gewiss nur Spass. Aber Peder wurde ernst, drückte die Augen zusammen wie ein Huhn, wenn es gackert, sah in die Höhe und rief unverantwortlich unparlamentarisch: »Ich verzichte zugunsten des hochwürdigen Herrn Pfarrers!«

»Für mich braucht niemand zu verzichten,« kam es sofort dröhnend zurück. »Man stimme der Reihe nach über jeden Namen ab!«

»Aber ich will nicht in dem Ding sein,« schrie mit Lachen ein brauner Jüngling von wenig über zwanzig Jahren mit wundervoll lustigen, lichtverschlingenden, gelben Augen und einem Mund vol blutiger Rosen; »ich nicht! Streicht mich vom Bogen, Schreiber Mathis.« Und indem er mit dem rauhen braunen Finger auf den Organisten zeigte, scherzte er: »Ich verzichte zugunsten des Ammanns Cornelius!«

Dieser gescheite Mensch, ein Anführer der Jungen zu allen Drolligkeiten, war am Tanzsonntag in Wyla gewesen und hatte es seitdem hundertmal beteuert, wenn er dabei gewesen wäre, hätte das Ding einen andern Rank genommen.

Cornelius blickte gütig zum Leichtfuss und ein knappes Lächeln huschte wie Wintersonnenschein über seine kühle Amtsmiene. Alle mussten lächeln. So ein Witz! Einem, der sicher sitzt, noch einen unsichern Sessel anbieten! Der Spassvogel, der liebe!

Indessen Sekretär Mathis die Kandidatenliste ordnete, murmelten die Männer untereinander. Einige Buben guckten zur Haupttüre herein, und ein Naseweis rief: »Wer?« Aber der Mesmer jagte sie rasch hinaus und verriegelte das alte krähende Prunkschloss. Die Kirche, ohnehin ein hellfenstriger Bau, lachte voll Heiligkeit und Mittagslicht auf die schwarze Gruppe nieder. In der Mitte des Chorbogens stand aus grau gewordenem Gips ein Prophet und zeigte mit dem Finger in die Männer hinunter. »Wozu stimmen wir?« fragte Emil Weibel. »Der da oben weiss schon lange, wer in der Herde da der Bock, o pardon, wer Kirchenpräsident ist.«

Dem Pfarrer gefiel die Situation gar nicht. Das war doch die Pfarrkirche, und er war der Pfarrer und regierte hier durch das lange Jahr unumschränkt, sei es vom Altar, von der Kanzel oder vom Beichtstuhl aus. Er war das sichtbare Zentrum. Und jetzt? Im Hintergrund stak er, zwischen Organist, Mesmer, Läutmeister und einigen Kirchensängern, so ganz wie eine Nebensache. Aber in der Mitte stand ein grünes Tischchen und ein Armstuhl; darin sass ein Laie selbstbewusst und nickte und sagte Ja und sagte Nein und tat wie ein Herrgott. Das kann doch nicht das Rechte sein. Schliesslich geht es doch so oder so, im Span oder Block, immer um eine freie heilige Herrgottssache! Und er, er war ihr Verwalter. Mögen andere auf dem Dorfplatz kommandieren, andere auf der Landstrasse, in den Wirtschaften, im Schulhaus! Aber hier wenigstens musste er Meister sein.

»Schreiten wir denn zur Abstimmung!« erklärte Cornelius. »Was für ein Modus beliebt, liebe Kirchgenossen?«

»Was wollen wir da lange hin und her stimmen!« setzte Viktor Quäler ein. »Ich sehe viele, die noch einen weiten Heimweg haben, nach Schwarzenboden, Thurwies, sogar über den Wildberg nach Rindeln. Ihnen wird der Rest vom gestrigen Kirchweihessen kalt und schlecht, wenn sie lange warten müssen. Stimmen wir in Globo ab!«

»Wie in Globo?« fragte Corneli streng.

»Ich schlage einfach das bisherige Kollegium vor, die fünf vom letzten Jahr, in Kumelo, wie man sagt,« forderte nun Allenspach, der Jasskönig.

Sofort flogen viele Hände in die Höhe. »Jawohl! So soll’s sein! Das ist das beste und flinkste!« rief man durcheinander. »In Globo, die Alten!«

Dem Pfarrer wollte das Herz eingefrieren. Wie, so kurzweg wollte man über seine Kandidatur wegschreiten, wie über eine Leiche, die nie etwas Lebendiges war! weg damit!

Hilfesuchend schimmerten seine blauen Augen ins Mannsvolk. Redet denn keiner für ihn? Muss er’s selber tun? Aber wie übel geht einem an, pro domo öffentlich zu reden.

Doch, der Lehrer Flück streckte den Finger und erläuterte, ordnungsgemäss könne man den Antrag Allenspachs nicht mehr gelten lassen. Es seien bereits einzelne Namen, darunter auch neue genannt. Nun müsse man auf dieser Basis weitergehen und Kandidat auf Kandidat ins Treffen stellen, der Reihe nach, wie sie aufgerufen worden.

»Ein Salomon, nur nicht so kurzweilig,« sagte Emil Weibel halblaut. Der Corneli nahm die Kandidatenliste aus der Hand des Sekretärs entgegen und begann: »Gut! Wählen wir einzeln! Aber wie: wollt ihr offenes Handmehr oder Urnenabstimmung mit Stimmzettel?«

»Urne, Zettel!« brummelte es deutlich aus den rasierten Gesichtern. »‘s ist freier so!« Augenscheinlich fürchtete man sich, vor aller Augen gegen Carolus zu fechten.

»Ich persönlich,« bemerkte Corneli, »wäre für die alte offene Wahl. Aber das Kantonsgesetz gibt uns da Freiheit auch für die Urne. Entschliesset euch also.«

»Urnenabstimmung!« schrien jetzt viele Jünglinge.

»Liebe Leute, wozu das?« drängte sich nun der Pfarrer mit dunkelrotem Gesichte ein. »Ihr habt bisher immer offen gemehrt, ohne Furcht und Tadel. Es ist ja auch viel männlicher. Der Stimmzettel dünkt mich eine Feigheit. Er passt für Krämerseelen. Die erhobene Männerhand hingegen beweist Ehrlichkeit und Mut. Warum soll man seine Ansicht nicht zeigen und vor aller Welt vertreten dürfen. Ich schlage das Handmehr vor.«

Jetzt erwiderte Beat Weibel, der Vater jenes hübschen Schlingels, ein belesener, vermöglicher und ganz unabhängiger Mann von leisen liberalen Tendenzen: »Ich könnte nicht sagen, die Urne sei ein Gefäss für die Feigheit. Warum haben denn sogar die Kardinäle, wenn sie den neuen Papst wählen und ihrer kaum siebzig sind, doch lieber die Urnenabstimmung?« Fragend sah er den Pfarrer im Hintergrunde an.

Der streute sozusagen die zehn dicken Finger von sich und rief: »Das ist nicht das gleiche, da spielen höhere Gesetze mit!«

»Hm, höhere Gesetze! Aber das höchste, denk’ ich, heisst Treu’ und Billigkeit. Und das kommt hier in Frage.«

»Auch das Handmehr will nichts anderes!« schlug Carolus scharf ab.

Cornelius klöppelte mit dem Bleistift auf den Tisch: »Bitte, Herr Weibel hat das Wort!«

Schmerzlich verzog Carl seine rosenblättrige Lippe. Hier war ja alles gegen ihn verschworen. Nicht einmal den Mund öffnen soll man.

»Wartet einen Augenblick, Herr Pfarrer. Das Ding geht nämlich so: Ihr seid Priester, und vor dem Priester lupf’ ich tief den Hut. Aber hier geht es um keinen Priester, sondern um den ganz weltlichen Kirchenpräsidenten. Dazu braucht es keine Soutane. Der Ammann Corneli erzählt, dass sein Vorgänger, der Mimeler Franz, sogar im Sennenhemd die Sitzungen präsidiert habe.«

Corneli nickte lächelnd.

»Also ans Gewissen geht es in dieser Frage nicht. Und da sprech’ ich’s frank aus, ich stimme nicht für Euch, Herr Pfarrer, sondern den fünf bisherigen. Denn ich wüsst’ gar nicht, warum einen einzigen von ihnen vom Sessel werfen. Das wär’ nicht Treu’ und Billigkeit.«

Ein zustimmendes Gemurmel lief durch das Volk.

»Ich für mich werd’ fünfmal vor Euern Augen die Hand heben. Das offene Mehren geniert mich nicht. Aber nicht alle hier können das so leicht. Es braucht gar keine Feigheit, schon die Höflichkeit, der Respekt, die freundlichen Beziehungen zum Pfarrhof und dutzend besondere Anschauungen und weiche Gefühle genügen da, dass mancher es nicht überwindet und den Arm für Euch hebt, um Euch nicht weh zu tun oder zu missfallen, obwohl er viel lieber Euerem Gegner stimmen möchte und sollte. Nein, das ist nicht Feigheit, das sind oft die feinsten und im Notfall die kühnsten Menschen. Und darum nimmt die Urne so überhand und darum stelle auch ich sie in diese Abstimmung.«

Das Murmeln der Zustimmung wuchs. Alles schien gewonnen. Da bemerkte Corneli: »Ganz recht, aber ich gebe zu bedenken, dass es schon elf Uhr geschlagen hat, dass die offene Abstimmung in fünf Minuten vollzogen ist, während die geheime uns eine gute Stunde kostet. Ihr müsst siebenmal ... es sind doch sieben Kandidaten, Sekretär?«

»Sieben, Herr Ammann, jawohl, sieben!« erklärte der Schreiber.

»Siebenmal müsst ihr einen Zettel mit Ja oder Nein beschreiben und siebenmal müssen die Stimmenzähler diese Ja und Nein zusammenzählen und dann die Sümmlein miteinander vergleichen, so dass man die fünf Gewählten daraus entnehmen kann. Eine gute Stunde dauert das.«

Stille entstand, ratlose, verlegene Gesichter sahen sich an, bis plötzlich Viktor Quäler bestimmte: »Ich schlage die offene Abstimmung vor. Stimmen wir, bitte, sogleich über diesen Modus ab.«

Sechsundzwanzig Männern ging die Urne über das Mittagessen. Hundertzwanzig stimmten für das Handmehr.

Nicht die Lehren des Pfarrers, sondern der Appetit nach den Schweinswürsten mit Sauerkraut und Kartoffelbrei hatte gesiegt.

Carolus fühlte sich immer unbehaglicher. Da bin ich am falschen Platze. Der schlaue Fridolin dort vorne im Chorstuhl! Wie er den Vogelnestkopf ins mächtige Brevier steckte und gewiss seelenruhig die Lektionen der Genesis von der Schlange im Paradies las. Auf einmal überkam Carl ein ganzer Schwall von Reue, dass er sich in dieses Abenteuer begeben habe. Er sah zu den Engeln und Heiligen in Gips empor, aber nicht einer fing seinen Blick auf. Er dachte an Athanasius im Kampfe mit Konstans, an Basilius gegen Kaiser Valens, an Chrysostomus zu Byzanz, aber es wollte nicht recht stimmen, es flog nicht wie sonst der goldene Strahl des Heroismus aus jenen grossen Zeiten in seinen kleinen Tag und machte ihn froh. Eher überdämmerte ihn etwas wie Trauer. Eine Bangigkeit, es gehe in dieser Stunde etwas Grosses verloren, nicht der Ratsessel, o nein, etwas viel Grösseres, Geistiges, Heiliges, beengte ihm den Atem.

Er liess die Namen der Räte aufrufen, auch den seinigen, ohne selbst zu stimmen oder auch nur aufzublicken.

Aber es tat ihm doch wohl, als Eusebius wie der leibhafte Friede beim dritten Wahlgang vom Chor zu ihm hinunter füsselte, um offen vor der ganzen Gemeinde sein zartes Gelehrtenhändchen für Carl zu erheben. Dann zupfte der Kleine an seiner ungeheuren Nase, nickte ringsum und trippelte wieder von dannen.

Soll ich nicht auch gehen und diesen Leuten das liebe Fell lassen? Doch nein, beschloss Carl, ich habe den Posten bezogen, jetzt bleibe ich.

Er hörte bei jedem Aufruf die Ärmel rauschen und die Söhne von der Bettener Mühle, Hans und Werner, die ständigen Stimmenzähler, trocken rufen: sieben, acht, vierzehn, zweiunddreissig, achtzig, achtundachtzig! Dann raschelte der Bleistift über den Papierbogen, und das Aufrauschen und Abzählen begann ebenso trocken für einen weiteren Namen. Welche Stimmen und Sänge sind das, wo sonst das Gloria und das Credo jubilieren und die Vesper ihre ewigschönen Psalmenweisen spielen lässt. Nein, das Ganze ist nicht schön, gar nicht schön. Ich bin am falschen Platz. Ein Heimweh nach dem Altar und der Sakristei packte Carl wie noch nie. Welt, Welt, Welt! seufzte er für sich, wie bist du eine widrige Alte.

Vom Tischchen verlas der Schreiber:

»Thadee Spicht, hundertzwanzig Ja,

Cornelius Bölsch, hundertzweiundneunzig,

Carl Bischof, siebenundachtzig,

Viktor Quäler, hundertdreiunddreissig,

Ignaz Eisli, hundertsechsundvierzig,

Emil Weibel, hundertdrei,

Niklaus Thor, hundertachtzig ...

Es sind somit gewählt Cornelius Bölsch, Thor, Eisli, Quäler und Spicht, also die bisherigen.«

Diese Zahlen hatte Carl verstanden. Siebenundachtzig! Alle andern erhielten drei Ziffern, der Corneli mehr als das doppelte. Der eigene Pfarrer nur siebenundachtzig!

Eusebius hatte ihm gesagt: Carl, wenn du unterliegst, dann sei klug! Mache aus deiner Niederlage nicht zwei verlorene Schlachten, sondern benimm dich freundlich, ruhig, lächle über solche Gunst und Ungunst, brenne einen deiner guten Witze ab und du machst aus der Schlappe einen Vorteil. – Und Carl hatte sich stramm vorgenommen, genau danach zu handeln, weil es das einzig Weise wäre. Aber nun beim Klange dieser dürren Siebenundachtzig und dieser fetten Hundertneunzig, als nun die übrigen vier Räte sich um den Corneli scharten und kollegial einander die Hände schüttelten, als vier Sessel weiss Gott woher gebracht wurden und sie alle sich bequem hineinhockten, da übernahm es das Temperament Carls. Ohne erst das Wort zu verlangen, mit einer unbedingten, herrschenden Stimme, wandte er sich an die Männer und donnerte: »Ich gratuliere den Wählern und den Gewählten. Den Pfarrer habt ihr nicht gewollt, ihn, der euch am ersten Tag an dieser Kirche empfängt und mit euch den letzten Schritt zum Grabe tut. Der Pfarrer darf nicht Kirchenrat sein, er, der von allen Menschen euch am besten raten kann. Er, der sozusagen in der Kirche daheim ist, soll über diese Kirche nicht raten und taten dürfen, viel lieber ein Ilgenwirt, der so spät hineinspringt und so früh herausrennt, dass niemand dächte, er habe an diesem heiligen Gottesbau das kleinste Interesse. Ich aber habe von euch allen das grösste Interesse daran. Jeder Stein ist mir lieb. Auf jeder Platte möchte ich knien, jede Stufe zum Chor möchte ich küssen, an der Kanzel, am Beichtstuhl, an den Altären klebt meine Seele so innig wie meine Augen und mein Mund an meinem Leibe haften. Von dieser Kirche und von der Sorge für sie könnt ihr mich nicht wegstimmen, und wenn ihr mir hundertmal den Ratssessel weigert. Nicht am Sessel, an der Arbeit und Liebe für unser Gotteshaus zeigt sich, ob einer wirklich Kirchenrat und nicht vielmehr ein Kirchenratlos ist. Jeder, der für das Gotteshaus gerne sein Scherflein tut, ist mir ein echter, rechter Kirchenrat, auch wenn er nicht zu den Fünfen gehört. Und jeder, der für den Glanz und die Ehre des Gotteshauses kargt und geizt und den Rappen dreht, ist mir ein Kirchenratlos, auch wenn er zu den Fünfen gehört. Und nun gesegnete Arbeit!«

Mit vier grossen Schritten erreichte er das Portal. Seine grossen blauen Augen standen voll Tränen. Dienerhaft gebückt riegelte der Mesmer das Schloss auf, die Flügel knarrten auseinander, ein Haufen Buben stob nach allen Seiten davon, majestätisch schritt Carolus auf den Platz hinaus, ohne das übertropfte Gesicht auch nur abzuwischen, schritt hinaus, nicht wie ein Kirchenpräsident, sondern wie der Präsident aller Kirchenpräsidenten. Aus allen Fenstern zurückweichend sahen hundert neugierige Weiberblicke ihm nach, bis er in der Pfarrhaustüre verschwand.

Die Versammlung stand einen Moment da wie vor beide Ohren geschlagen. Es toste und stürzte ein siebenfaches Echo des Gehörten durch ihre Seele. Erst als die kühle, fast heisere Stimme des Corneli bat: »Fahren wir weiter! Wahl des Präsidenten!« besann man sich auf die nüchterne Wirklichkeit. Im Nu ward Cornelius im Vorsitz bestätigt, und man hörte ihn zum neunundvierzigsten Mal das stereotype Sätzlein herunterhacken: »Ich lade die Herren Kollegen, den Sekretär und die Stimmenzähler zu einem einfachen Mittagessen in die Ilge ein.«

Still verzog sich das Volk. Das Schiff stand leer. Aber der bartgewaltige Prophet streckte immer noch unheimlich den Finger durch die Einsamkeit hinunter, nach jener Stelle, wo Corneli oder wo Carolus gestanden, wer weiss es genau? War es vielleicht der Prophet Jonas, den man, um den Sturm zu beschwichtigen, aus dem untergehenden Schiff in die Fluten warf? Und zeigte er nun auch, wie man es ihm einst getan, nach dem Schuldigen, um dessentwillen die steten Gewitter wüteten und Lustigern in Not brachten? »Diesen werfet hinaus!« Welchen aber meinte der Finger? den kalten, verwitterten Corneli? oder den frischen, heissen Carolus? Wer von den beiden muss geopfert werden?


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