Heinrich Federer
Papst und Kaiser im Dorf
Heinrich Federer

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Kapitel 21

Frau Ida Quäler lag wieder im Bett. Die Grippe sei ihr in den Kopf gefahren. Es war aber noch etwas andres.

Ihr Mann hatte, wie übrigens auch schon der Schlüsselwirt und der Wirt vom Weissen Lämmli, nach Dreikönigen doch wieder eine »kleine gesunde Belustigung« veranstaltet. Frau Ida war furchtbar zarten Gewissens und hurtig von Skrupeln bedrängt. Sollte sie es dem Pfarrer zeitig mitteilen? Es war ein »geschlossener Tanz«, wie man sagte, im Hinterhaus, und nur etwa zwanzig Personen waren vorgesehen. Die Lampen sollten verhängt und Kissen zwischen die Vorfenster und die eigentlichen Fenster gestopft werden. Dennoch, die Sünde war da, gleichviel ob bei offenen oder verrammelten Türen.

Diese Qual, entweder eine Verräterin des Hauses zu sein und das letzte Fädlein Liebe zwischen Viktor und sich zu zerreissen oder eine grosse Sünde zuzulassen und mit ihrer kindlichen Moral in Streit zu kommen, dieses Auf und Ab und keinen Ausweg finden, stürzten das arme zarte Weib wieder ins Bett. Und wirklich irrte und spukte es nun seltsam durch ihr kleines Gehirn. Sie redete unverständliche Dinge, bekam Angstdelirien und es ward offenbar, dass Reste der Grippe auf jenen haarfeinen roten Strässchen des Blutes ihr in den Kopf geraten waren und dort nun ihr wüstes Unwesen trieben.

Sie rief den Pfarrer zur Beichte. Aber als der Riese gross und machtvoll vor ihr stand, gütig lächelnd, aber doch als Richter, da hatte sie nicht den Mut, ihm die Gefahr zu erzählen. Plötzlich kamen ihr siebenfach die Ausflüchte; was gehe sie der Plan ihres Mannes an? Hindern könne sie ihn doch nicht. Er werde vielleicht gar nie ausgeführt. Sie wolle dagegen beten. Aber kaum war der Geistliche mit Stola und Gebetbuch aus der Türe, so kehrten die Ängste mit doppelter Gewalt zurück und ihre Seele fühlte sich bedrückter als je. Sie hatte etwas Wichtiges in der Beichte verschwiegen. Ihr Bekenntnis war nicht ehrlich genug, das Sakrament wurde entehrt; statt ledig ihrer Schuld war sie noch viel schuldhafter geworden.

An einem Sonntagabend wurde dann wirklich getanzt. Ab und zu hörte die Kranke, je nachdem eine Türe aufging, etwas von Schüls Geige. Aber merkwürdig, statt sich davon noch bedrängter zu fühlen, taten ihr diese Töne wohl. Einmal kam Viktor, weinatmig und weinfröhlich in die Kammer. Er trug ein Gläschen alten Marsala und die Flasche in der Hand, fragte, wie es gehe, diesen Tropfen da solle sie schlucken, das sei Medizin bester Sorte und überhaupt solle sie fröhlich sein. Es gehe ganz artig zu. Der Papst dürfte zuschauen.

Sie trank, fühlte Mut und bat, man solle ihre Tür ein wenig offen lassen. Es klinge so schön. Da küsste er sie sogar und sagte: »Warte nur! In einer Stunde wird das Nachtessen serviert. Dann ...«

Was dann? Er liess Flasche und Gläschen auf dem Nachttisch stehen und lief pfeifend hinaus. Aber nach Kurzem schlüpfte Schül herein, mit einem wahren Bubengesicht, so frisch und lustig, setzte sich in die dämmrige Ecke, stimmte die Geige und fragte: »Was darf es sein?«

»Ein Bild ist mir ins Herz gegraben,« flüsterte sie, und die Violine, die eben noch die ärgsten Gassenhauer geschrien hatte, machte plötzlich einen pilgerfrommen Mund und sang das Lied jenes innigen und sinnigen Mönchs in der Waldstatt, das sie vor zwanzig Jahren auf der Hochzeitsreise mit ihrem noch so stürmisch guten und idealen Viktor zum ersten Mal vernommen und tief in ihre eigene Besinnlichkeit eingeschlossen hatte. O wie es rührte, wie die Magd Gottes in den Höhen zuhörte, freundlich mit dem blauen Mantel rauschte und dem Jesuskind, das einen Büschel Schneeglöcklein in der Hand hielt, die Fingerchen lockerte und zuredete: Lass fallen, Kind! noch mehr! ‘s ist eine gute weisse Schneeglöckleinseele. Man kann ihr nicht genug Weisses geben.

»Und jetzt?« – Dreimal musste Schül fragen, bevor Ida aus ihrem Fieber erwachte und wusste, wo sie sei. »Und jetzt?«

»Der Ustig wot cho,« rief sie lebhafter.

Sogleich jubelte das urchigste Frühlingslied der alten Schweiz zur Decke empor. Ah, sie, die Obertoggenburgerin, lebte selig in ihre Kindheit zurück. Wo sind die Wiesen bis im Oktober so grün? Wo trampelt das Vieh so ungebärdig aus den Ställen? Wo geht’s so lustig zu den Höhen, unter das Gefels des Altmann und Säntis? Wo dudelt die Holzpfeife und simsimelt die Mundorgel so fein und schäkern die Jungfern im prallen Rock mit farbiger Schürze und glühendem Kopftuch so boshaft mit den Sennen? Und die junge Thur rauscht aus den Schluchten hervor, und der Frauenschuh wächst gelbbraunsamtig an den Schattenränften, und die Kuckucke locken sich viertelstundenweit von Wald zu Wald, und der Schnee ist nicht mehr ein Feind, sondern eine vornehme, silberne Hoheit, die das schnellfüssige Talvolk zu sich hinauf lädt, um einmal von da oben das schöne vierkammerige Toggenburg in seiner ganzen Seele, von seinen naivsten Empfindungen bis zur weltmännisch gereiften Erfahrung ausgeschüttet vor sich zu sehen. Und alles im »Ustig«, im »Austagen«, das ist, in der Zauberzeit, wo endlich wieder das verwinterte dunkle Jahr zu tagen beginnt, wo es endlich wieder Morgen, sonnig, zum Leben, ach, zum schönen Legen taghell wird. »Der Ustig wot cho.«

»Und jetzt?« – Schläft die Frau? Schül schleicht näher, sieht entzückt ihr friedliches Gesicht, noch entzückter die golddunkle Marsalaflasche. Aber er überwindet sich. »Frau Ilgenwirtin, und jetzt? Ich muss dann zur Tafel.«

Jetzt? Sie reibt sich die Augen. Jetzt noch ein tolles, ein ganz tolles! Übermütig lächelt ihr verkümmertes Gesicht, und man merkt, dass hinter diesem verblassten, vergrübelten, unlustigen Bild einst eine helle Mädchenschönheit und Mädchenlustigkeit herrschte.

»Wisst Ihr was? Wo e chlis Hüttli steht, ist e chlis Güetli.«

»Da kommt Ihr mir grad recht, Frau Bas’,« und sogleich stürzte er, drei Schritte vom Bett, das übermütige, hopsige Lied herunter, indem er leise die Worte summte: »Wo de vieli Buebe sind, Meitli sind, Buebe sind – da isch halt lustig, da isch halt schön ...« Und weiter: »Meitli, tue nid so harb, du bisch betroge, Meitli, tue nid so stolz, du bisch i Gfohr ... Dass i di nimme mag, gar nid mag, nimme mag, säll isch erloge, säll isch nid wohr.«

Was dachte die Frau in den Kissen? Wie sie einst selbst getanzt und getollt und geliebelt und geschmollt hat? Denn dort oben, im rassigen Obertoggenburg, hätte kein Teufel und kein Engel das Tanzen verwehren können. Jehova mit allen Blitzen müsste selber dreinfahren! Dort sind sie breit und schwer und nackenfest, potztausend, die Männer. – Oder denkt sie an Sigi und seine Mädchensehnsucht? Ist’s Krankheit, ist’s Spass wie zu ihrer Zeit? Aber einer wie ihr Gemahl darf er nicht werden, nie, nie!

»Dass ich di nimme mag, gar nid mag, nimme mag, säll isch erloge, säll isch nid wohr,« repetiert der Spielmann und Frau Ida lächelt und denkt nun wirtlich an Mili und Sigi. Ei, ei, wie nur schon die Namen passen.

Schül will jetzt gehen. Man bankettiert im Saal. Ohne ihn läuft nichts recht. Aber da winkt die Frau, leuchtend in ihren Fiebern und Liedern und bittet: »Vetter, nur noch eines!«

»Gut, aber ein kurzes! Was für eines?«

Sie sinnt, wird ernst, Schatten huschen daher. »Das Stabat Mater!« sagte sie endlich.

»Was?«

»Seht die Mutter voller Schmerzen.«

»Was? Das da? Jetzt nach dem Holdrio?«

Sie nickt: »Ja, gerade das. Bald haben wir Fastenzeit.«

Da kauert Schül in die Ecke, schliesst die Augen, duckt sich zusammen und stimmt den unerfasslich einfachen, wehen Choralton an, von der Mutter, die unter dem Kreuze steht, von allen Müttern, die vom Liebsten am härtesten leiden. Schül, der bewegliche, gefühlsheisse Schül, ist sogleich in diese uralte Bitterkeit versenkt, die Saiten beben, der Bogen weint. Eine Andacht, eine Grösse, eine Herzensinnigkeit steigt auf, etwas Heiliges umschwebt ihn, der spielt, und sie, die mitbetet, als wäre eine sakramentale Stunde. Sie bemerken nicht, wie jemand längst leise die Türe geöffnet hat, wie das Heilige hinausschwebt, bis in den Saal, wo das beinschwingende Völklein Löffel und Gabel sinken lässt, die Hände auf dem Tischtuch faltet und leise, als waren sie drüben in der nahen Kirche, mitsingt. Nachher wollen sie wieder jodeln und bodenstampfen und greulich herumwirbeln. Aber jetzt, pst, Emil Weibel, leg’ das Messer weg. Kannst den Hühnerschenkel nachher fertig schaben, pst!

Als die Violine verklang, betete Frau Ida noch weiter. O schön, schön fürwahr ist auch der Schmerz. Süss ist auch das Leiden für liebe, liebe Menschen. Und süsser sollt’s noch sein für das Liebste, den Gott, der das Lieben und Leiden erfunden hat und allein weiss, wozu.

Sie wollte dem Schül danken. Aber was machte er? Tief über die Geige hängt sein weichlich mildes Gesicht, er weint, er schluchzt, er verbirgt das Gesicht wie ein verschütteltes, reuiges Kind.

»Vetter!«

»Ich muss jetzt gehen, Bas’; ich weiss ... aber noch eine Minute!« Grimmig wischt er sich mit dem Seidentüchlein, das er kokett wie grosse Geiger von der linken Achsel über die Herzseite fallen lässt, das nasse Gesicht ab. »Dieses Lied ist ein Wunder! O wir Sünder! Es ist glaub’ ich vom Himmel gefallen wie eine Sternschnuppe, wer könnte solches erfinden da unten?« sagte er und heiterte sich rasch auf. Ida bot ihm die Hand, und da funkelte ihn das Marsalagold noch zauberischer an. Die letzte Träne vom Auge wischend, bat er dienerlich: »Wie wär’s, gute Bas’, ist’s erlaubt? Ein Spitzchen voll?«

»Nehmt, nehmt!« gewährte die Kranke und kehrte sich gegen die Wand, um nach fauche Erhebung mit sich allein zu sein.

Schül füllte das Gläschen schnell ein zweites und, da die Frau Bas’ nichts zu merken schien, ein drittes Mal. Wie, ich spielte doch vier Lieder! Also noch einen letzten Schluck, cantores amant humores! –

Die Fastnacht dauert in diesen Dörfern sozusagen von Dreikönigen bis Aschermittwoch für den Begehrlichen. Julius Tälers Geige reizte bald da, bald dort zu kleinen heimeligen Karnevalsfreuden. Es war sein Blut, das dann gleichsam gärte und sich Luft schaffen musste. Und so brachte er auch das solidere Blut vieler Dörfler, das ohne ihn keine Wellen geschlagen hätte, in kleine Fastnachtstürme. Tanzabende wie damals im Löwen zu Schwarzenboden gab es natürlich keine mehr. Denen hatte Carls Dazwischenkunft ein für allemal ein Ende gemacht. Aber in engen Zirkeln, unter ganz wenigen, wie in der Ilge, die das Geheimnis gleich Verschworenen wahrten, und dann in Bauernhöfen, wo es eine halbwüchsige Jugend und Knecht und Magd gab, sozusagen am Familienabend, da zündete die Geige, da glühte der Tanzrhythmus, da loderten Walzer, und Schottisch durch die plumpsten Beine, und da schwoll und brauste Schüls Blut im Schwall und Gebrause des Trüppleins, das er mit seiner Musik aufhetzte, gewaltig mit. Ja, er hetzte und ward selbst noch mehr gehetzt. Ein Rausch erfüllte die ganze Stube.

Aber die Böden der Lustigerstuben sind harthölzern, sie hallen so laut wider, und die Schuhe der Lustigerburschen sind zu schwer genagelt, als dass sie nicht zu Verrätern würden. Carolus wusste nach und nach von jedem einzelnen Vorfall. Jedesmal bekam er ein Tosen im Gehirn bis unters Haar, Schwindel und starkes Nasenbluten. Er bat endlich Julius zu sich, suchte ihm das Unheil vorzustellen, das seine Tanzmusik in das ruhige Dorf werfe, flehte, drohte, bot ihm vielerlei kurzweilige Arbeit zum Ersatz an, wollte für ihn eine Blechmusik, eine Lesegesellschaft, ein Theater gründen und suchte ihn jetzt sogleich für die Fastnachtspiele zu dingen, wo dem Dorf die alten Tänze mit der Tracht und Sitte und dem Spiel jener Tage als Gegengift zu der modernen Hopserei vorgeführt werden sollten. Freilich ward strikte gefordert, dass er dem ärgerlichen Zusammenleben mit Siria ein Ende mache, wobei aber Carl seine ganze treue Hilfe versprach. Er wollte für Siria die Unterkunft in einer richtigen Haushaltungsschule besorgen. Dort solle sie in der Lehre der Kirche unterrichtet werden. Inzwischen führe Schül sich in Lustigern ehrbar auf und gewinne das Zutrauen des Dorfes. Dann, wenn alles reif sei –, denn auch er lebe nicht mehr wie ein Christ, geschweige wie ein Katholik! – sollen sie beide mit dem heiligen Band des Ehesakramentes für alle Zeit verbunden werden. Schül würde sich und Siria glücklich machen und das Dorf von einem bisher hier unbekannten Skandal befreien. Aus einem Stein des Anstosses könnte ein Baustein Gottes werden.

Als Schül schwieg, fragte Carl nervös, wie er bei einem solchen Angebot noch stutzen könne. Es sei gerade, als sage der Arzt zu einem Sterbenden, er müsse sofort ins Operationszimmer getragen und dort mit dem Messer gründlich zurechtgeputzt werden, dann sei er im Nu gerettet. Sonst sterbe er noch vor dem Hahnenschrei. Und dieser Patient zaudere noch!

So manches in dieser Rede dem Vagabunden auch einleuchtete, so roch seine gute Nase doch, dass unter dem Stab des energischen Pfarrers seine Ungebundenheit ein trauriges Ende nähme. Und dieses lockere, an keine strengen Pfähle geschmiedete, fröhlich herumlungernde Dasein war ja doch sein eigentliches Element. Und was gäbe das für ein Theater, was für eine Blechmusik in dieser Bauerngemeinde! Ein Ekel! Ohnehin war ihm Lustigern durch den düstern Winter hindurch verleidet. Sobald irgendein helles Loch im Horizont aufginge, wo er ins Weite hinaus schlüpfen könnte, wollte er sprungfertig sein.

»Wie also?« drängte Carl. »Dass Ihr auf diese Art hier mit Siria zusammenlebt, geht absolut nicht länger an. Darum stand ich am Dorfeingang so hart gegen Euch auf, weil ich ahnte, was unser warte und wie eine Abwehr mit jedem Tage schwieriger würde. Ich werde Leib und Seele dransetzen, um dieses Ärgernis aus dem Dorf zu schaffen, das sag’ ich Euch.«

»Ich bin zivilrechtlich verheiratet,« antwortete Schül mit einigem Pathos. »Die ganze schweizerische Eidgenossenschaft schützt mich.«

»Auch ich gehöre zur Eidgenossenschaft und bin stolz darauf und möchte ihr viel Ehre machen,« versetzte Carl. »Aber dabei vergess’ ich nicht, dass es noch eine weitere, höhere, seelenbindende Eidgenossenschaft weit über alle engen Grenzsteine hinaus gibt, die katholische. In ihr seid Ihr getauft. Nur in ihr werdet Ihr Mann und Weib. Die Ehe ist kein herrenloses Gut, sie ist ein Sakrament im Glauben und in der Liebe Christi! Gewiss, ich bin nicht der Staat. Ich kann Euch nicht mit weltlichen Mitteln zur katholischen Pflicht zwingen. Aber ich kann das Dorf vor Euch warnen, den Umgang mit Euch verbieten und die Unfolgsamen so lange mit den geistlichen Strafen züchtigen, bis sie klug werden und von Euch lassen. Zuletzt steht Ihr allein da, machtlos, unbeliebt, entehrt und von vielen verachtet, von allen weit über alle Toggenburgerhügel weggewünscht, unruhig in der eigenen Seele und schuldig am Elend der armen, so gelehrigen, treuen Siria. Und wenn Euch dann nicht Eure eigene Unrast fortjagt, so hat Euch ganz sicher noch eh’ die Not von dannen gejagt.« –

Schül zerrte an den Zipfeln seines Schnurrbartes, halb in Angst, halb in Hochmut.

»Meint Ihr etwa, ich wolle Euch oder Siria nötigen, katholisch zu werden? Gegen Euer Gewissen, wenn so was bei Euch überhaupt noch mitspielt? Oder gegen Euer inneres Denken und Fühlen? Torheit! Wenn Ihr mir sagtet, Ihr wolltet morgen mir zu lieb oder der Nützlichkeit wegen zur Beichte und Kommunion kommen, ich schlösse die Kirche vor Euch. Ihr müsst von Herzen wollen, gerne, gerne wollen. Und darum möcht ich Euch Stunden geben, wie einer italienische oder englische Unterrichtsstunden gibt. Ich möchte Euch katholische Stunden geben. Ihr sässet da und ich da und wir plauderten gemütlich, untersuchten, stritten, bewiesen und Ihr hättet nichts, rein nichts anzunehmen, als was Euch als spiegelklare Wahrheit ins Gesicht schiene; so dass nur ein Trotzkopf, einer, der lieber blind als sehend sein will, immer noch Nein, Nein, Nein riefe. Ich würde hoffen, mit der Hilfe Gottes Euch doch aufzuklären. Gelänge es mir nicht, so würden wir im Frieden auseinandergehen. Ich betete dann unablässig für Euch und ergäbe mich fröhlich darein, dass Gott zu Eurer Erweckung aus dem Tode – und tot oder doch scheintot seid Ihr in Eurem Unglauben, während es an Siria, wiewohl sie nie weder protestantisch noch katholisch unterrichtet wurde, trotzdem überall knospet und blühet, da sie eben den guten heitern Gotteswillen in sich hat – ich sage also,« versuchte sich Carl aus dem ungeheuerlichen Satzgefüge zu retten, »ich fügte mich gerne darein, dass Gott zu Eurer Erweckung aus dem Tode einen würdigeren Knecht als mich Armseligen gebrauchte. Denn wahrhaft, lieber Mann, ich bin in all meinen Schwachheiten wenig würdig, dass mir ein solch freudiges und ehrenvolles Werk gelänge. Aber versuchen muss ich es. Denn Ihr seid in diese Pfarrei gekommen, wo ich wachen, sorgen und alle Schäflein, die verirrten zu allererst, hirten muss.«

Schül reckte seine leichte Figur je länger je mehr bei solchen Worten. Dass man ihn so wichtig nahm, machte ihn fast eitel. Und als Carl anerbot, Schül möchte ihm jede beliebige Zeit zu diesen brüderlichen Zusammenkünften angeben, ob Sonntag oder Werktag, Morgen oder Abend oder Nachmittag, einerlei, und wie oft und wie lange jedesmal, ganz wie es Schül passe, da fühlte dieser bei seiner seelischen Kleinheit und Empfindsamkeit den Kamm noch höher wachsen. Seine Persönlichkeit blähte sich gewaltig auf. Wenn man so untertänig um mich herumstreichelt und herumschwänzelt, muss ich den Leuten hier doch mehr als einen gewöhnlichen Batzen wert sein. – Die Argumente, die einen andern, wenn auch noch so bösen Gegner erschüttert hätten, wenn er nur etwas Tiefe besässe, scheiterten schliesslich völlig an der Seichtheit dieses Menschen. Hätte man ihm ein süsses Lied vorgespielt oder die Grimassen des Todes und den Wind der Ewigkeit ins Gesicht geblasen, der gute, weiche Tropf wäre für einige Zeit aufs Knie gefallen. Aber diese kameradschaftlich feine, höfliche Behandlung verfehlte total ihren Zweck.

»Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit,« antwortete Schül und verbeugte sich posenhaft; »diese Dinge sind des Überlegens wert. Aber ich habe die Gewohnheit, nichts von Belang zu übereilen.«

Carl spürte sein Blut hochwallen. Wie er doch lügt, dieser Stegreifmensch! Er, der nie überlegt und sich jeder Stimmung kindisch überlässt! Bereits hüpften dem Pfarrer ein paar saftige Grobheiten auf die Zunge. Aber er hielt sie zurück und ward sofort belohnt.

»Immerhin, jeder Dienst ist eines Gegendienstes wert,« gab Schül grossartig zu. »Ich verpflichte mich, die Geige zu keinem Tanze, nur noch an Ihrem ›Altmodischen Abend‹ zu spielen. Siria liegt mir darob immer im Ohr. Sind Sie vorläufig damit zufrieden?«

Ein wahrer Glücksschwindel stieg Carl zu Kopfe. Das war doch ein Anfang zum Siege, und ein stolzer dazu. Denn was hatten diese unangreifbaren, tückischen Privattänze ihm die Tage vergällt und den Schlaf vernichtet, obwohl er nun ins hintere Zimmer gegen den Friedhof gezügelt war, das Gesicht beim Einschlafen dem stummen Feierabend da draussen zugekehrt. Was hatte er nicht für Schlachtenpläne entworfen, mit lauten Zusammenstössen und heimlichen Guerillazügen, mit Exkommunikationen und öffentlicher Brandmarkung von der Kanzel, mit Anwerben einer Jugendgarde, einer Anti-Tanzgruppe, mit Bildung von Turnvereinen und ähnlichem. Eines schien gut, einiges zweifelhaft, manches hatte den Beigeschmack von Lächerlichkeit. Und doch musste etwas geschehen. Diese Tänzereien an dutzend stillen Orten unterminierten wie heimlich grabende Ratten die Moral des Dorfes, und er sann umsonst nach wirksamen Gegenminen. Und da kommt der Rattenkönig selbst und überliefert sich. Heil, Heil!

Carl lief zu einer Schublade, knisterte ungeschickt mit seinen Riesenhänden in Papierchen herum, kam mit einem blauen Hundertfrankenschein und sagte: »Nehmt, Herr Täler, bitte nehmt! Ihr macht mir ein grosses Geschenk, ich mache Euch nur ein kleines. Aber es will auch nicht Lohn heissen, es will nur ein Geschenklein sein.«

Ohne Erröten griff Schül zu: »Wenn es Ihnen Freude macht, kann ich’s ja schon nehmen. Brauchen können wir’s bei Gott, Siria und ich!«

Dann empfahl er sich mit einem gezierten Lächeln. Aber der Pfarrer bemerkte das nicht. Indem Julius Täler, der Tanzmusikante, elegant zur Tür hinausschwenkte, Stöcklein und Hut in der Hand schwingend, sah Carolus nicht ein, sondern hundert und tausend Paar Füsse, wie in einem Knieschnapper sich rückwärts in die graue Ferne verlieren, immer zwei Paare nebeneinander, in einem gewissen ersterbenden, totenmarschähnlichen Rhythmus, bis die letzten tanzenden Knöchel im Dunste ewiger Vergangenheit völlig erloschen waren. Das Ende des Greuels! Wie ein Bub sprang er auf, lief in die Küche und sagte zur erschreckten Peregrina: »Aber, so mach’ dir doch noch einen guten Schwarzen; he, ich nehm’ auch einen! Und ein Kirsch drein! Und dann ... ach so, es ist Freitag, na, trotz und trotzdem, beten wir den glorreichen Rosenkranz.«

Aber es wäre besser gewesen, den schmerzhaften Rosenkranz zu beten, der von Jesu Schweiss und Dornenkrone und Gallentrunk erzählt. Denn wenige Tage später vernahm Carolus, dass der elende Luftibus doch wieder Tanzmusik aufgespielt habe. Im Hofe der zwei Niederlifamilien, bloss hundert Schritte ob dem Pfarrhaus, am offenen Rindelersträsschen. Man habe einen siebzigsten Geburtstag gefeiert. Die Haustüre blieb schon von acht Uhr an keusch verriegelt, die paar Hausfreunde stiegen von der Wiese zu den niederen Fenstern herein. Der Lärm sei nicht erheblich gewesen, aber bis zur frühmorgendlichen Kuhmelkstunde habe der sündige Unsinn gedauert.

Das traf wie ein Keulenhieb. Einen Moment sass Carl wie verdonnert im Stuhl. Dann fing es wieder an, dieses zahllosfüssige Kribbeln und Krabbeln im Kopf, als nagten Millionen winzige Mäuschen an den Haarwurzeln; wieder musste Carl vor Blutzudrang und Schwindel die Augen schliessen. Und wieder zwang er sich mühsam zu einem recht schonenden Examen über dieses Tanzen. Gleich nach Lichtanzünden wollte er einmal in den Kirchenvätern darüber nachlesen. Aber, sagte er sich, wäre bisher auch nicht ein Hauch von Sünde dabei gewesen, ein Unsinn wäre es doch, der nach und nach unwiderruflich sich zur Unordnung, zum Fieber, zur Krankheit, ja – man hat Beispiele links und rechts und lese nur die Aufrufe der evangelischen Synoden und selbst der glaubenslosen städtischen Behörden! – zum Zerstörer der guten alten Zucht auswuchern würde. Unbedingt, jetzt musste etwas Kraftvolles geschehen.

Carl sass im dunkelnden Zimmer, ohne die Lampe anzuzünden, und suchte Aug’ und Herz am Fenster, das in den Friedhof sah, etwas zu beruhigen. Aber diese Ruhe da draussen im blassen Vorfrühlingsabend regte ihn nur noch mehr auf. Daher kommt alles Elend, dass ich so ein Friedhofleben führe, schimpfte er mit sich. Die Fridolin-Bazillen stecken mich an. Ich schlafe, ich tue wenigstens die Augen zu und halte mich still, als sähe und hörte ich nichts. Bewegung, Arbeit fehlt mir. Es geht kein rechter Wind durch mein Pastorieren. Alles tut sich in den Pantoffeln ab, in kleinem Schnitzelwerk. Ich habe keine grosse blutschwitzende Aufgabe, kein begeisterndes Werk vor mir. All mein Tun schlürft so im alltäglichen Strumpf dahin, und so kommt es, dass ich keine Kraft, keinen Mut, ja bald keinen gesunden Tropfen Blut mehr in mir habe. Nicht einmal diesen Hasenfratz mit der Geige kann ich bewältigen. So weit bin ich nun schon mit meinen zwei Metern Leibeshöhe gekommen.

Das ist die Sache: ich muss mit dem Turm beginnen. Wie der Turm, so der Pfarrer, und umgekehrt! Vielleicht gibt es Krach dabei. Gut, möge es krachen. Diese Stille wie der Tod da draussen ist viel ungesunder.

Am Turm raffe ich mich auf. Alles Volk wird seine Freude daran haben. Zwei Dutzend Dörfler werden dabei Arbeit und Verdienst finden. Kein Beutel wird angetastet. Fast neuntausend Franken sind beisammen. Baumeister Weder in St. Gallen sagt, mit Fron und etwas Gratismaterial reiche das zum Gerüst und Aufbau von fünfzehn Metern. Bis wir damit fertig sind, ist auch das Geld für einen zwanzigmetrigen Helm da. Ach, dann hat der Turm fünfundfünfzig bis sechzig Meter und triumphiert weit über alle Bäume und Giebel und niedern Köpfe. Und dieses Hohe, Weitschauende, Überragende hilft uns allen, so wie wir einmal träger Lehm sind und solche irdische Stüpfe und Stösse nach oben brauchen, auch ins Hohe, Weite und Überragende zu gehen.

Gleich nach Ostern muss man beginnen. Diese prächtige Arbeit wird das ganze Dorf in Atem halten. Wer wird noch ans Tanzen denken? O Gott, guter Gott, wie schön kann noch alles werden!

Es klopfte. Albert Ammann und Hansli Thalmann traten ein, die zwei geschicktesten Schüler der sechsten Klasse. Carl gab ihnen abends Lateinstunden. Der eine wollte Arzt, der andere Advokat werden. Aber Carl hoffte, zwei junge stramme Kapläne zu erziehen.

»Zündet an!« gebot er. Dann mussten sie das Bücherleiterchen aufstellen und ihm einen Haufen alter Bände herunterholen. Ihn würde der Schwindel packen. Dort rechts oben, der Suarez! Schräg darüber der Liguori. So jetzt das dritte Buch in der vierten Reihe mit dem grünen Rücken; richtig, Bellarmin! So ging es weiter, bis die bedeutendsten Theologen auf dem Tische lagen. Denn Carl wollte es diesmal grünlich zusammenfassen, was die grossen Lehrer vom Tanzen sagen. Inzwischen mussten die beiden Buben das Zeitwort tanzen – saltare – durch alle Tempora und Modi abändern.

Von einem Folianten zum andern sich fechtend, konnte Carl nicht wohl aufpassen, was die zwei Bürschchen hersagten. Aber ihr Latein sass fest.

»Hansli! Das Perfektum jetzt: ich habe getanzt! – Hoffentlich brauchst du das nie zu sagen.«

»Saltavi, saltavisti ...« begann der Schlingel und schoss dem Gespanen einen lachenden Blick zu. Sie rochen das Pulver.

»Summum vitium,« las Carolus mit gefurchter Stirne. »Und hier: pestis morum! und da: deliciae diabolicae! Scharfer Tabak ... He, Albert, das Futurum: ich werde tanzen! Fast gehört solch’ Konjugieren auf den Index! Also hop!«

Aber Albert sprudelte munter, als genösse er Kirschen und spuckte die Steine so flink und weit als möglich heraus: saltabo, saltabis, saltabit ...

»Ach ja, der sanfte Bischof von Genf: Tänze seien wie die Pilze, an sich weder gut noch schlecht ... natürlich, deinen Französlein darfst du nicht zu hart kommen. Aber ich sage dir mit allem Respekt, im Toggenburg bist du nicht gewesen. Von zehn Pilzen sind hier meistens auch zehn giftig ... Was macht ihr, Faulpelze? Wer kommt dran? Du Hans, den Imperativ: tanze, tanzet!«

»Salta, saltate!« deklamierte der Junge.

»Saltato, saltatote!« ergänzte boshaft Albert.

»Wie mir die Spitzbuben tanzen!« schimpfte Carl fröhlich zu den Schülern hinüber. »Merkt euch, konjugieren darf man das Wort, aber praktizieren nie. Wenn ihr einmal über den Ablativus absolutus und den Akkusativus cum Infinitivo hinaus seid und das Gerundiv tüchtig los habt, dann übersetzen wir einmal miteinander, was der grösste der grossen Denker, Augustinus, von der Verderbnis erzählt, die er in den Tanzlokalen von Rom und Karthago am eigenen armen Fleisch erlebt hat. Jetzt packt euch! Auf morgen nehmt ihr das Passivum durch. Weg! – Die Peregrina soll euch ein paar Äpfel in die Taschen stecken!«

Das war eine leichte Lektion, lobten die Buben unterwegs und bissen kräftig in die Äpfel. Was meint der Pfarrer wohl mit »am eigenen armen Fleisch erlebt«? Sie hatten durch die Spalten der Fensterladen dem Tanz in der Niederlistube ein paar Minuten zugesehen, einer sass abwechselnd dem andern auf die Schulter und sog sich mit Leib und Seele in die Stube hinein, so gut gefiel diesen künftigen Kaplänen die walzende Fröhlichkeit da innen. Es prickelte sie und kitzelte sie bis unter die Fingernägel und sie wiegten sich im Takt des Geigenbogens glückselig in den Hüften. Und da sagte der Pfarrer »am eigenen armen Fleisch erlebt«!


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