Heinrich Federer
Papst und Kaiser im Dorf
Heinrich Federer

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Kapitel 18

Seit den Wahlen dünkte es Carl, als ob die gewöhnlichen Dorfleute, besonders die in Zopf und Rock ihn mit viel liebevollern Mienen begrüssten und ihm mit viel wärmeren Blicken nachschauten, gerade als möchten sie für das Unrecht der schroffen Ehemänner Abbitte leisten. In ganzen Monaten ward ihm nicht so viel Nickel ins Haus geschickt, wie jetzt in wenigen Tagen dickes rundes Silber, immer mit dem hübschen Spruch: »An die Bedürfnisse der Kirche! nach Ihrem Gutdünken, Hochwürden!« Carl sagte sich, der tiefere und bessere Teil des Volkes, die eigentliche Dorfseele, hange doch fest an ihm. Hübsch und schlau erklärte er in der nächsten Predigt, die Kirche sei wie ein grosses Haus, ein Volksheim, das gleich jeder Bürgerwohnung seine vielen Bedürfnisse und Unterhaltskosten habe. Niemand merke sie schneller als der Geistliche, indem er ja immer drin und drum herum sei. Und wie man ein altes Haus etwa wieder aufrüste, befestige, übertünche, ja sogar erweitere und erhöhe, dass es dem gegenwärtigen Tage und der Ehre des Eigentümers besser entspreche, so dürfe ach das Gotteshaus zum mindesten so viel für sich beanspruchen, zur Freude der Hauskinder und zur Glorie des Hausherrn, das ist, des ewigen Gottes. Man wisse, dass er zu diesem edeln Zwecke eine sogenannte »Freiwillige Kasse für die Bedürfnisse der Kirche zur Verfügung des Pfarramts« gestiftet und bereits auf einige tausend Franken geäuffnet habe. Freiwillig heisse die Kasse, weil jede erzwungene Gabe ein Unsegen wäre. Da sei von keiner Steuer die Rede. Man könne geben oder nicht geben. Der Fünfräppler werde so fröhlich wie der Fünffränkler angenommen.

Auch die Bezeichnung »zur Verfügung des Pfarramts« enthalte nichts Verfängliches. Damit wolle dieses heilige Geld – ja, er wiederhole: heilige Geld, denn es diene einzig dem Dienste des Herrn – allen profanen Einflüssen entzogen werden. Politik und Laune des Laientums könnten sich so nicht einmischen. Kontrolle? Sein Gewissen sei Kontrolle genug. Wer ihm nicht traue, von dem möchte er keinen roten Rappen. Übrigens wäre es doch sonderbar, wenn das Dorn ihm sein Kostbarstes, die eigene Seele, aber nicht eine Schachtel voll Münzen anvertraute. Wer es gut und vertraulich meine, dem gebe er auch gern über das Wachsen und Wirken dieser Gelder jeden beliebigen Aufschluss.

Aber er versichere, die ganze Gemeinde werde Freude an diesem stillen, für die Ehre Gottes allein zinstragende Kapital haben.

Sogleich begriff Cornelius, dass ihm und dem Kirchenrat damit auf die Karte vom letzten Sonntag ein gewaltiger Gegentrumpf ausgespielt werde. Allerdings, von nun an wird sie die Kirche nicht mehr viel kosten. Der Pfarrer zahlt alles. Aber schliesslich fliesst es doch aus den Taschen der Kirchgenossen, ganz wie die Steuer, nur reichlicher und leichtsinniger und aller gesetzlichen Aufsicht entzogen. Zuerst wird der Pfarrer Statuen vergolden, Altäre schmücken, Wände bemalen lassen, dann fängt er an zu graben und zu hämmern, zu bauen. Und wir fünf Räte schauen zu, wie das Oberste zu unterst gekehrt wird und am Ende eine neue Kirche entsteht, und haben kein Wörtlein dazu zu sagen.

Er kaute an seiner Brotrinde und überlegte, ob es nicht besser wäre, der gesamte Rat legte im Angesicht einer solchen würdelosen Zukunft das Amt mit einem feierlichen Protest nieder. Aber da stand doch immer als letzte Instanz noch die Kirchgemeinde da. An sie konnte der Rat in jeder Not appellieren. Wenn Carolus zu kühn würde und Dinge unternähme, die gemeiniglich ohne den Kirchenrat unzulässig sind, dann riefe man das Volk zu Hilfe und es würde helfen wie am letzten Sonntag.

Nein, man darf diesem Pfarrer das Feld nicht überlassen. Er risse alles an sich. Man muss klug und still wachen und im rechten Augenblick zum rechten Schlag ausholen. Aber welches ist dieser Augenblick? Soll man schweigen, wenn er den Ambrosius an die Wand malen lässt? wenn er neue Chorstühle einstellt? immer noch schweigen? Wann fängt dann das Brummen, wann das laute Verbot an? Erst wenn er Kapellen errichtet, den Kirchturm höher baut, das ganze heimelige Dorfbild umgestaltet? Wo ist da die Linie zwischen Schweigen und Reden, die juristische Grenze? Keine, gar keine Grenze gibt es. Nichts darf ohne uns geschehen. Aber wir sind gutmütig. Wir verschlucken die Mücken. Aber wenn dann Hornissen kommen, nein, guter Carl Bischof, dann schlucke sie selber!

Ende Advent schrieb der Pfarrer an Johannes in Zürich: »Dein Bild, wie der Bischof dem Kaiser den Weg in die Kirche versperrt, ist ganz nach meinem Geschmack. Man sagt, Du habest den Niederländer Rubens hiezu studiert. Ganz recht! Studiere auch Raphael und den frommen, herrlichen Paul Deschwanden von Stans. Ihre religiöse Malerei kann Dich mächtig fördern. – Und mache Dich bis aufs Kleinste fertig, damit Du das Bild in den Osterferien prompt und in leuchtenden Farben über unser Kirchenportal hinmalen kannst. Ich zahle Dir achthundert Franken für die Arbeit, sobald Du den letzten Pinselstrich getan hast.

Nur um eine kleine Änderung komme ich ein. Ambrosius scheint mir zu gebrechlich aufgefasst. Wie müd ist sein Nacken. Man glaubt, ihn vor Alter zittern zu sehen. Korrigiere hier Deinen Rubens! Richte den Bischof noch einige Zoll auf und drücke den Kaiser noch um eine Idee tiefer! Man soll sehen, dass wir stark genug sind, einer ganzen Welt voll Theodosiusse und Corneliusse zu widerstehen. Nur dieses ändere! Alles andere stimmt prachtvoll.

Lieber Johannes, strebe in Deiner herrlichen Kunst unentwegt vorwärts! Noch viele Kirchen und Altäre warten auf Dich! Du sollst unser Fra Fiesole sein. Das war doch jener fromme, eifrige, seelenreine Malermönch in Florenz, den man heute noch so glühend bewundert. Aber um wo rein und heilig zu malen, muss man auch im tiefsten Wesen lauter sein. Fast möchte ich sagen: Johannes, sei keusch wie ein Mönch in diesem Babelzürich! Vor allem, meide den schlüpfrigen Wandel des jungen Quälers! Da würde Dein Denken und Können sich heillos verdrecken. Sei lustig, verkehre mit heitern Kameraden, aber lass die Mädchen! Mit Deinen achtzehn Jahren bist Du noch viel zu grün dazu. Sind es nur Spielereien, siehe, so ziehen sie Dich von Deinem tüchtigen Schaffensernst ab. Ist es mehr, so reisst es Dich unwiderstehlich ins Elend. Dünkt Dich der Sigi etwa ein glücklicher Junge?

Mir scheint, Du bist ein kühler Bursche, hast gern Deinen Spass, Dein Glas, Deine Zigarre und fertig. Da gratulier’ ich Dir dazu. Hast viel minder Not im Leben.

Das Mili hängt sehr an Dir. Das merkt man fast zu deutlich. Aber ich bitte Dich, übereile auch da nichts. Man sollte nicht meinen, was die Jungfer unter aller Ruhe für eine Wespe ist, hitzig und angriffig. Ich bin sicher, sie steht heimlich auf Cornelis Seite. Der Heli hat bei den Wahlen gegen mich gestimmt. Da steckt das Mili dahinter. Er für sich wäre gar nicht zur Abstimmung gekommen. Ich nehm’ dem guten Kind nichts übel. Es weiss es nicht besser und leidet selbst dabei. Meiner Peregrina ist es unentbehrlich geworden, ihr Dornröschen, Schneewittchen und Rotkäppchen zusammen. Mit solchen Namen schmeichelt sie ihm. Dann für’ ich bei: und eine Hexe dazu, eine ganz famose Hexe! und schaue sie ernst an. Und sie schaut mich ebenso ernst an, und wir kämpfen, wer zuerst das Lid niederschlagen müsse. Wahrhaft, oft bin ich es. Das Alter, Johannes, das Alter! Und wie ich hier ins Klatschen gerate! Noch einmal das Alter. Also Gott mit Dir, halte die Finger und die Lippen rein und bleibe der junge treue Maler Deines Seelsorgers Carl Bischof.«

Es war ein früher, föhniger Winterabend, als Johannes den Brief las. Neben ihm auf dem Sofa ruhte ein wildfremdes Mädchen. In einem Fauteuil gegenüber schmauchte Sigi seine teuren Queenzigaretten. Man sass in seiner Bude; sie sah mit zwei Fenstern und einem Balkon in die graue, rauchende Limmat hinaus. Jenseits tauchten wie Schemen der Peter- und Fraumünsterturm auf und zerflossen im Dunst.

Johannes war schnell heimisch in Zürich geworden. Nicht eine Minute zwickte ihn das Heimweh. Schon beim Erwachen am ersten Morgen wusste er klar, dass die Stadt vor dem Fenster harrte. Er fing auf und fing auf, aber gab nichts von sich. Im Nu hatte er auf Sigis Rat tanzen gelernt, vortrefflich tanzen, ohne daran Gefallen oder Missfallen zu finden. Er hatte Bälle, Theater, Cafees dansants besucht, am Gefärbe und Geräusch des Neuen sich belustigt, mit allerlei zweifelhaften und zweifellosen Mädchen gespasst und ein seltenes Mal getanzt, aber im übrigen alles an sich wie an Wachstuch abrinnen lassen. Das war nicht seine Tugend, sondern seine Natur. Am liebsten wäre er allein, ohne die aufpeitschende Unterhaltung Sigis, an einem Tischchen der grossen Restaurants gesessen, hätte einen Likör und einige Süssigkeiten genossen, die kühnen Reklamebilder an den Wänden und den Goldglanz von Spiegel und gelben Seidentapeten im Gaslicht betrachtet, die Bewegungen der tausendfältigen Gesellschaft studiert, ein scharfes Herrengesicht, ein naives Kindsköpflein, einen steifen, hochfahrenden, engen Oberkellner in seiner glänzenden Bartnacktheit sich eingeprägt und von all dem etwas aufs Konzertprogramm gezeichnet, das man ihm vorlegte. Das äusserlich Vornehme und fast klassisch Hübsche seiner Figur und vor allem seines schmalen, kühlen Marmorgesichtes täuschte alle, auch die erfahrensten Angestellten. Man verneigte sich vor dem lässigen Herrchen, als wäre er nicht der hablose Stickerbub des Tälers, sondern ein feudaler Spross aus uraltem Hause.

Aber auch die Mädchen guckten ihm nach, nicht etwa nur jene erwerbsmässigen, die um jeden Köder herumriechen, sondern auch jene wilden, lustigen, die das Rechte suchen und immer das Unrechte finden, und jene stillen, durstigen Geschöpflein noch ganz besonders, denen die Schüchternheit oder die Vornehmheit oder der Anstand nicht erlaubte, offen in zwei schöne Knabenaugen zu schauen. Johannes merkte das alles, aber es härtete ihn von Tag zu Tag nur immer mehr ab.

An das Mili dachte er kaum anders, als wenn er seine schmutzige Wäsche heimschickte –, sie war übrigens nie schmutzig, sondern nur verbraucht, vertragen – und wenn er die saubere Wäsche mit einem ebenso sauberen Brieflein empfing. Doch diese Briefchen waren kurz. Sie erzählten ganz knapp, wer geboren wurde, heiratete, starb, wie man wählte, an welchem Muster Heli stickte, was jetzt über Stück- und Stundenlohn verhandelt wurde. Dann sah er das Dorf und sein Haus. Aber ohne Mili. Mili war nicht zu sehen. Von sich, von ihrer mächtigen Sehnsucht und Hingabe zu ihm hörte man keinen Ton. Eine anders als Mili schien den Brief geschrieben zu haben. Aber ihm war es so recht. Oft legte er einen Zettel in die Wäsche, mit fünf, sechs lustigen Sätzen und Neckereien, und dann waren diese Zeilen viel wärmer als diejenigen Milis. Oft aber schrieb er nichts dazu. Nur Sigi erinnerte ihn in der Zwischenzeit ans »Schätzchen«. Aber es fiel ihm nicht auf, wenn der Student sagte: »Schau, hat das Fräulein dort nicht einen Gang wie Mili, so, ich weiss selbst nicht wie, über den Boden hüpfend? nur nicht so behend!« ... oder: »Das Mädchen dort rechts an der Mauer, hat es nicht die Augen und Brauen von Milmili? nur etwas zahmer!« ... Und das zauberische Kosewort des Dorfes schwebte über die vornehme, städtische Gesellschaft im Theater mit ihren Fächern, Schminken, Pudern und Geruchwässerlein, mit ihrem gekünstelten Getue und unwahren Lachen und Seufzen, schwebte von den verbrauchten Lippen Sigis zu den Wölbungen des Theaterhimmels empor, und der grosse Schubert, dieses Wunder von Musik und Natürlichkeit, lehnte am oberen Prunkfenster und liess das Milmili mit seinem ganzen ländlichen Zauber in die Freiheit hinausflattern und wäre am liebsten mitgeflattert. – »Da vorne geht eine Demoiselle; die hebt den Kopf mit dem gelben Haar exakt wie das Mili. Nur ist der Hals nicht so weich.« ... »Ach, so lass doch das Mili sein,« schnauzte Johannes oft gelangweilt. »Schau lieber, was das für ein Patriarchenbart ist, da, in der zweiten Reihe hinter uns! oder die grosse Frau dort am Gesimse, welch einen Pelz trägt die, wie eine Kaiserin!«

»Ach was,« schimpfte dann Sigi, »du siehst nur das Überreife.«

»Und du nur das Unreife,« hieb Johannes zurück.

Aber sie waren ausgezeichnete Freunde und bildeten wirklich ein hübsches Paar. Dunkles heisses Gold und helles kühles Silber flossen da ineinander.

Nun hatte Sigi den Kameraden heute auf seine Bude bestellt. Unter der Türe gab der Briefbote dem Johannes das Schreiben des Pfarrers. Doch vor Wind und Schneegestöber öffnete Johannes nicht einmal den Umschlag. Ein Mädchen bei Sigi zu treffen, war ihm nichts Auffallendes. Aber dieses Mädchen und diese Sorte von Mädchen hatte Johannes hier noch nie gesehen.

Es war schmal und samtig im Gesicht, gewiss erst siebzehnjährig, aber zeigte grosse graue, erfahrene Augen. Mit dem schwarzen Haar lag es müde auf dem Sofakissen, atmete flink und vergrösserte und verkleinerte die Löcher seiner hübschen kleinen Nase bei jedem Atemzug auffallend. Mit grosser Neugier, ohne den Kopf zu heben oder zu grüssen, betrachtete es den Besuch. Sein kleiner Mund war entzückend geschwungen, seine Wangen wie Pfirsiche. Aber auf der Stirne zuckte und zwickte es merkwürdig, wie von unsichtbaren Geisselhieben hin und her. Ihr Kleid war von gutem grünem Stoff, aber abgetragen. Ein Ärmel schien soeben aufgerissen.

Es lag in Johannes’ Art, kein Staunen zu zeigen. Aber diesmal staunte er unwillkürlich. Darum zog er den Brief Carls hervor und sagte: »Lass mich schnell lesen, was der Pfarrer von meinem Bilde schreibt. Das wundert mich jetzt heillos.« Und so las er und lächelte nur einmal, bei der Warnung vor den Mädchen, da er nun doch gerade neben irgendeinem von der Strasse aufgelesenen Dirnlein sass und dessen Augen wie vorsichtige dunkle weiche Falter sehr wohl auf seinem Antlitz absitzen fühlte.

Sigi hatte einen geöffneten, fertig gepackten Handkoffer neben sich. Auf dem Tische lagen grosse Bogen Papier, stellenweise von zwei, drei Zeilen kreuz und quer durchschrieben.

Als Johannes vom Briefe aufschaute, ertappte er gerade das Mädchen, wie es ein Lächeln formte und dem Sigi schwach zuwinkte, so etwa, als sagte sie: fast glaub’ ich, der da ist der rechte; ja, den meine ich!

»So,« machte Johannes gedehnt und wollte sich ein wenig strecken, aber unterliess das sofort, da ihn das halbliegende Geschöpf beinahe mit den Knien berührte, »so, der Pfarrer möchte den Ambrosius noch steifer haben. Er soll stehen wie ein Turm.«

»Jetzt lass deinen Ambrosius, da sitzt oder liegt eine Ambrosia, und das ist zur Stunde viel wichtiger.«

Johannes sah wieder neben sich auf das junge Geschöpf mit der merkwürdig durchpeitschten Stirne und zwei wie zu einem steten Kuss zusammengeschwungenen Lippen.

Sobald sie den Mund nur ein wenig verzog, blitzte ein einzelner unregelmässiger, heillos vorlauter Zahn hervor. Sie antwortete auf seinen Blick mit einem schwachen, unwissenden Lächeln und blieb ruhig liegen.

Das ist doch merkwürdig, dass sie nicht einmal aufsitzt. Ist sie denn krank? dachte Johannes. Und warum stellt Sigi sie mir nicht ordentlich vor? ... diese Ambrosia!

»Höre Hans,« fuhr dieser fort, »ich muss nun doch heim, obwohl wir ausgemacht haben, über die Weihnachtsferien hier zu bleiben. Eusebius zeigt mir nämlich auf morgen abend eine ‘kleine historische Zusammenkunft’ in seinem Giebelhaus an. Es handelt sich da um die alten Fragen, zum ersten, ob Carlo Borromeo die Lustigernstrasse nach St. Gallen benützt habe? dann, wo im Toggenburg der langweilige Erzherzog Sigismund übernachtete, als er von Einsiedeln nach St. Gallen fuhr? und drittens und vor allem, ob Notker unumstösslich sicher auf unserem Thurstotz geboren wurde, ob da sein Stammhaus lag? Das ist der wichtigste Punkt, denn mit dem Stammler will ich doktorieren. Nun kommt der famose Hobis zur Sitzung. Der hat das meiste Material über diese Frage beisammen. Dann macht noch mit – öffne das Ohr respektvoll! – ein armer Zimmermann aus Nazareth, ach was, irgendwo vom Bodensee her. Der war sein Lebtag in unsern Notker verliebt und gilt unter den Lustigern als ganz Grosser, obwohl er nie eine Zeile, nicht einmal seinen Schreinernamen gedruckt hat. Schliesslich wird auch Pater Odo von Einsiedeln mit einer Mappe voll Urkunden dabei sein.

Du siehst, eine hochwichtige Zusammenkunft! Ich muss unbedingt mitmachen und die alten Hefte meines Uronkels beisteuern. Und da wir nun übermorgen schon Heiligabend feiern, so wär’ ich doch ein Heide, unserem Christkindlein davonzulaufen in dieses gottlose Zürich hinunter. Ich muss in Bethlehem bleiben und drei, vier Tage schön tun. Verstehst du! Dann aber komm’ ich spornstreichs zurück.«

»Da könnte ich,« bemerkte Johannes kaltblütig, »gerade auf einen Katzensprung mitkommen.«

»Und das hübsche Bettelkind da?«

Die sogenannte Ambrosia hatte hin und her die Gesichter der Jünglinge scharf beobachtet. Johannes wunderte sich nur, wie ungeniert Sigi vor ihr rede. Bettelkind! – Dass die kleine Bleiche nicht entrüstet auffährt!

Sigi bemerkte das aufsteigende Befremden des Johannes und lächelte fast tückisch. »Dieses arme Mädchen kann ich nicht in den Schnee hinausjagen. Schon vier Tage bleibt es abends hier.« Er zeigte auf ein zweites Sofa in der hinteren Ecke, das mit Decken und Kissen wie ein provisorisches Bett zugerüstet war. Johannes verzog die schmalen Lippen und lächelte eisig.

»Das ist kein Flirtstücklein, weiss Gott nicht,« fuhr Sigi fort. »Ich gab ihr ein paar Küsse, das ist alles. Sie beisst hinten und vorn wie ein Skorpion, pass nur auf!«

Das Mädchen lächelte zwar ganz leise. Aber man konnte aus ihren rätselhaften Augen doch nicht erraten, was sie dachte, ob sie eigentlich zuhörte oder nicht. Indessen schien sie sich auf dem Sofa behaglich zu fühlen. Sie zog die Füsse herauf und kauerte sich wohlig zusammen. Wahrhaft, sie trug Sigis weiche rote Samtpantoffeln.

»Ich sah sie früher einigemal. Diese Augen und dieses Mäulchen kann man doch nicht leicht vergessen. Aber sie huschte wie ein grüner Schatten vorbei. Immer trug die dieses grüne Kleid. Und sie war flink, Donner noch einmal! Und man konnte noch so süss pfeifen, noch so verständlich hüsteln und zuletzt noch so hitzig fragen, sie schüttelte diesen schwarzen Flatterkopf da und gab keine Antwort.«

Johannes musterte das Kind nochmals. Warum liess es den Sigi so frech reden? gab kein Ja, kein Nein? Hatte er es so gebändigt? Auch das Mädchen sah ihn sozusagen befriedigt an, und so oft seine dunkelgrauen Augen auf ihn fielen, war ihm, es gingen grosse feuchte, warme Schatten über sein Gesicht. Wäre er nicht ein so nüchterner Bursche gewesen, er hätte bald an ein Märchen glauben müssen.

»Dann wechselte ich die Bude. Andere Budien, andere Studien! Aber jüngst sah ich die Ambrosia wieder und wie? Ich spazierte nach neun Uhr zum Zeitvertreib in jenen Vierteln, wo ihr Künstler sagt, es sei malerisch, und wo unser Carolus die Nase verhielte und schimpfte: es sei unmoralisch. Ich bummle gern dort, studier’ ich doch Sozialökonomie ... Gib mir eine Zigarette aus dem Etui, so, ah, das zieht! ... Ach, was wäre der Student ohne Zigaretten. Wenn selbst die Mädchen nicht mehr anbrennen wollen! ...«

»Du faselst mir da einen Quatsch zusammen, aus dem niemand klug wird. Lass einmal das Fräulein selbst reden!« Einladend wandte sich Johannes gegen die Kleine.

»Es ist taubstumm!«

»Was?« Erschreckt sah Johannes das Jüngferchen an.

Sie merkte genau, wovon die Rede war und jetzt, unter Johannes’ kalten kieselgrauen Blicken, rötete sich ihr Gesicht. Bis zur zierlichen Nasenspitze! Zum ersten Mal schloss sie die Augen. Angestrengt zuckte es über das gewölbte Stirnlein.

»Höre weiter! Irgendwo schlug es halb zehn, da rannte dieses Geschöpf aus der Hauptstrasse in die enge Gasse, wohinein ich geraten war, und stürzte mir geradewegs in die Arme. Da hast mich! Hinter ihr sprang ein langer Bengel, mit wenig Haar, ohne Hut, etwa dreissigjährig, lachte und schwang den Stock und rief: Warte nur, warte nur! Das grüne Kleid war am Halse und Gürtel aufgerissen. Dieser Elende hatte sie also schon halb in den Klauen gehabt. Doch die Eidechse entschlüpfte und hüpfte mir glatt und feucht in die Hände. Das kam mir wie ein Wunder vor. Gerade diese, der ich einmal um Gott weiss wie viele Hausecken umsonst nachgelaufen bin.

Sie redet nicht, sie drückt sich ganz eng an mich, ich höre es nur chchchch! machen, genau wie das Bächlein am Kaplanengarten, das so tief unter dem Gras läuft. Die Gasse ist eng, ich steh’ im Dunkel unter einem Unterbau, der Kerl galoppiert im hellen Laternenlicht mit einem goldenen Zwicker daher. Soll ich ihn ein japanisches Kunststück lehren? Dummheiten! Ich weiss etwas Praktischeres, halte das Kind im linken Arm etwas zurück, spanne die rechte Hand straff wie ein Fallbeil, sperre das Bein an die andere Gassenseite, und nun geht alles exakt wie in einer Rechnung. Der Kurzsichtige rast heran, will vorbei, stolpert über mein Knie, und wie er sich aufhilft, hau’ ich ihm ein Gesalzenes ins Genick. Er plumpst wie ein Sack vor uns hin. Das tut ihm für fünf Minuten gut. Ich nehm’ noch sein Stöcklein mit und geh’ rasch mit dem Bräutchen heim.

Sie zittert und friert und nimmt endlich ein Papier: taubstumm! Wir korrespondieren weiter, lies nur die Blätter! Wohin soll ich dich bringen? – Lass mich hier, aber tu mir nichts! – Traust du mir so gut? – Ja, ich traue. – Und wenn ich doch ...? – Dann kratz’ und beiss’ ich wie eine Katze; aber nein, du tust mir ja nichts.«

Johannes horchte und staunte. Während Sigi mit vielen Gesten das Abenteuer malte, bemerkte Johannes wohl, wie das Mädchen aufpasste, verstand, sich schämte und immer wieder die Augen schloss und öffnete. Und jedesmal dunkelte oder hellte es vor Johannes.

»Nun ist das eben so ein verhudeltes Kind, ein unehlich Italienerkind, ging wie eine wertlose Münze von Hand zu Hand, fand dann eine brave Zürcherfrau, die dem Mädchen etwas Schule beibrachte. Da probierte es anständig zu werden. Es kann lesen, schreiben, hübsch zeichnen und hat ein schnelles, findiges Gehirnchen. So ward es Maschinenschreiberin mit fünfzehn Jahren. Aber da starb vor fünf Monaten die gute Frau. Sie testamentierte dem Kinde ein Zimmer ihrer Wohnung bis zum zwanzigsten Lebensjahr zu zinslosem Genuss; dann sollten ihm von der Eidgenössischen Bank dreitausend Franken mit allen laufenden Zinsen ausbezahlt werden. Dort ward die Summe auf den Titel des Kindes mündelsicher hinterlegt.

Nun musst du wissen, dass die Kleine im Geschäfte des Bruders jener verstorbenen Frau schreibmaschinelt. Der ist ein alter Geizkragen und sein ältester Sohn ein ekliger Wüstling dazu. Jenes Stüblein, gesondert und ausserhalb der übrigen Wohnung, ein sogenanntes Treppenzimmer, war dem Alten ein unerträglicher Stachel. Er kürzte dem Mädchen den Lohn, ja, er reizte den Sohn, das arme Geschöpf zu entehren, und hoffte, damit ein Recht zum Kündigen des Zimmers oder doch zur Versorgung in eine Besserungsanstalt zu erschwindeln. Das Kind sass daheim wie in einer Festung, verriegelt und belagert. Aber im unteren Stock wohnte ein evangelischer Theologe. Der merkte etwas und stand aus purem Mitgefühl dem geilen Nachsteller überall im Wege. So ein starker, grosser Bauernbub aus dem Tösstal, mit breiten Füssen und schweren Ellbogen. Das half ein bisschen. Der ochste abends und morgens auf seiner Bude und focht mit Gott und den Teufeln und hätte es als eine Erholung angesehen, so einem mageren Schweinigel das Fell für einige Wochen blank zu gerben. – Nun jagte der Alte das Jüngferchen kurzweg aus dem Geschäft. Es fand aber bald eine andere Schreibstelle, freilich zu niederträchtig kleinem Taglohn und im hässlichsten Quartier der Stadt. Und es musste weit über die Zeit arbeiten und dann allein den langen, übeln Weg nach Hause gehen. Nun siehst du ja selbst, wie hübsch das Kind ist! Da sind ihm denn diese Nachtfalter nachgeflogen. Darum sah ich es nur so vorbeiblitzen. Es hielt mich auch für so einen Schwärmer.

Nun ist der Theologe in die Ferien gezogen und da fasste der Zwickerkerl Mut und hat sie geradezu unterwegs überrumpelt. Das ist denn auch mir zu viel. Ich mache auch nicht lange Federlesen, aber ...«

»Papapa! Blaguier’ doch nicht immer auf dieser Pfeife!«

»Nein, ich mache nicht viel Federlesens,« wiederholte Sigi und zog die Brauen schräg wie ein Tatar.

»Ach, ihr Studenten,« neckte Johannes. »Als Ritter Blaubärte möchtet ihr verrufen sein und habt noch nicht zehn unschuldige Schnauzhaare. Lass das! Der richtige Don Juan hat nie geredet, er hat gehandelt. Ihr redet nur immer, ihr Studenten!«

Das war der ewige Streit zwischen den beiden Burschen. Johannes blieb ein lustiger, mutwilliger, doch durchaus ehrbarer Bursche; aber gerade darum konnte er das Prahlen der Kameraden mit allen Grausen sexueller Sünden gar nicht hören. Er wusste so gut, dass der echte Sünder schweigt. Diese Sündentrompeter waren im Grunde Feiglinge: sie wagten nicht als ehrbare Jünglinge zu gelten, und wagten nicht, in den vollen Schmutz zu tappen. Und so begnügte sich ihre kranke Eitelkeit mit den Prahlereien der Sünde. Sicher war Sigi kein Feigling und eher links als rechts gegangen. Aber viel zu viel Gesundes und Nobles steckte zu einem Wüstling in ihm. Und daher war es so komisch, das Duett anzuhören, wie Sigi hartnäckig sich mit dem Pech des Lasters überstrich und Johannes ihn ebenso hartnäckig mit dem Schnee der Unschuld wusch und jeder dabei in die gleiche Übertreibung verfiel.

»Ich mag jetzt nicht streiten; im Gegenteil sag’ ich: hilf mir! Wir können die Kleine nicht im Stiche lassen. Hab’ ich eine Dummheit gemacht, nun, so muss ich sie jetzt ausessen. Ich bitte dich nur um eines: schirme mir dieses arme Kind, bis ich zurückkomme. Schlafe hier! Da sind spanische Tapeten für das Sofa und für das Bett. ‘s ist wie zwei Zimmer. Im ganzen Hause war sonst kein Winkel erhältlich. Die Wirtin weiss alles. Sie bringt auch das Frühstück und ein bescheidenes Nachtessen da aufs Zimmer. Aber du musst sie jeden Abend um acht Uhr auf ihrem Arbeitslokal abholen und persönlich hierherbringen. Das schwör’ mir! Sie wartet dort auf dich wie ein verhuschtes Kaninchen. Aber hier im Zimmer ist sie eine Katze. Neck’ sie nicht! Ob sie sich küssen lässt? Ich stahl ihr drei, aber schau’ diesen Kratz!«

Er streifte den weichen Kragen zurück und da ward eine zweispurige rote Zeichnung ihrer Fingernägel zu sehen. Das Mägdlein musste jetzt wirklich lächeln, fröhlich lächeln. Der unregelmässige, zuckerweisse Zahn guckte wieder hervor. Die Augen wurden mild wie Samt.

»Ich sagte ihr, wer du seiest und dass du gegen mich gehalten als ein Engel geltest. Du werdest wie ein guter Kamerad zu ihr stehen. Noch keinem Mädchen habest du einen Kuss gegeben als deiner Milchschwester. – Und nun sehe ich schon voll Eifersucht, dass du ihr behagst. Wo wir zusammen auftreten, zieh’ ich immer den kürzeren. – Na, was soll ich denn dem Milmili überbringen? Treue, Edelweisstreue, Küsse ...?«

»Gar nichts, als dass ich alle daheim vielmal grüsse!«

»Gut!« Sigi nahm den Bleistift und schrieb auf einen leeren Bogen: »Passt dir mein Freund Johannes?« Das Mädchen las, erhob sich und schrieb: »O ja!« – Und Sigi seinerseits: »Aber, wenn ...« Das Mädchen riss ihm den Stift weg und zeichnete schwungvoll: »Ich traue ihm ganz.« – »So geh’ ich also! Auf wiedersehen!« – »Ich danke dir!« – »Nicht einmal einen Kuss zum Abschied?« – »Ach, plag’ nicht nicht!« So ging der Bleistift in den zwei Händen hin und her. Da schrieb Sigi als letztes: »Schau’, auch mein Freund findet das unbarmherzig von dir!« Und sie, um nur erlöst zu sein: »So komm!« – Da kam er und drückte einen leisen Hauch seiner Lippe auf ihre Stirne, nicht mehr! Dann grüsste er mit einem sonderbaren Ernst, nahm den Handkoffer und ging. Johannes, immer noch den Brief des Pfarrers mit den liebevollen Warnungen Adams vor der Eva in der Hand, fühlte sich, allein mit diesem fremden Mädchen, so unerquicklich wie noch nie. Er drehte den Brief zwischen den Fingern, wollte zum Bleistift langen, etwas plaudern. Da warf das Kind auf einmal die Arme auf den Tisch, grub den Kopf darein und fing an, unermesslich zu weinen. Und auch Johannes musste an das Schluchzen und Gurgeln des Kalpaneibächleins tief unten im ausgehöhlten Boden denken.


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