Gustav Theodor Fechner
Vorschule der Ästhetik Teil 1
Gustav Theodor Fechner

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Vorwort.

Der Begriff einer Vorschule der Ästhetik ist ein ziemlich unbestimmter, wie sich aus dem Vergleich der, bisher unter diesem Titel erschienenen, Werke ergibt, als von Jean Paul (1. Aufl. 1804, 2. Aufl. 1813 u. s. w.), von Ruge (2. Aufl. 1837), von Eckardt (1863–64), von Egger (1872). Ohne mich nun zu bemühen, diese Unbestimmtheit zu klären oder zu fixieren, benutze ich dieselbe hier nur, um dieser Schrift einen kurzen ansprechenden Titel in folgender Bedeutung zu geben.

Sie wird in zwei Teilen eine Reihe Aufsätze ästhetischen Inhalts ohne systematische Folge und in freierer Behandlung, als für ein System der Ästhetik geeignet wäre, bieten, welche aber doch geeignet sein dürften, in ein allgemeineres Interesse an dieser Lehre einzuführen. Also werden sie zwar sehr allgemeine Fragen, aber diese doch mit steter Anwendung auf speziale Verhältnisse, behandeln, auf solche auch zum Teil in besondern Abschnitten eingehen und überall die Absicht auf leichte Verständlichkeit festhalten.

In den zwei ersten, als Einleitung dienenden, Abschnitten erkläre ich mich über die Prinzipien, die den gesamten Ausführungen dieser Schrift zu Grunde liegen. Um sie vorweg in wenig Worte zusammenzufassen, so verzichtet diese Schrift auf den Versuch, das objektive Wesen des Schönen begrifflich festzustellen, und von hier aus das System der Ästhetik zu entwickeln, sondern begnügt sich, den Begriff des Schönen als einen Hilfsbegriff im Sinne des Sprachgebrauches zur kurzen Bezeichnung dessen, was überwiegende Bedingungen unmittelbaren Gefallens vereinigt, zu verwenden, sucht den empirischen Bedingungen dieses Gefallens nachzugehen, legt hiermit das Hauptgewicht vielmehr auf die Gesetze des Gefallens als auf begriffliche Entwickelungen aus der Definition des Schönen heraus, und ersetzt den Begriff des sog. objektiv Schönen durch den Begriff dessen, was mit Rücksicht auf seine Beziehung zum Guten unmittelbar gefallen soll.

Es wird sich freilich fragen, ob ich der Geneigtheit begegne, diesem Gange, der, entgegen dem sonst vorherrschenden Gange, vielmehr von Unten herauf als von Oben herab, und mehr ins Klare als ins Hohe führt, so stetig, als er hier eingeschlagen ist, zu folgen. Daß sich damit nicht Alles erreichen läßt, was man von einer Ästhetik wünschen kann, ist von mir zugestanden; wogegen ich durch das Folgende selbst zu beweisen suche, daß man damit Manches erreichen kann, was eine Ästhetik höhern Stils in ihrem entgegengesetzten Gange noch zu wünschen übrig läßt. Mag man also, wenn nichts weiter, im Folgenden eine Ergänzung zu einer solchen suchen, und bedenken, daß es noch kein Fehler einer Schrift ist, Manches vermissen zu lassen, was in andern Schriften zu finden.

Obwohl die folgenden Aufsätze bestimmt sind, ihrerseits einander zu ergänzen, greifen sie doch auch hier und da mit ihrem Inhalt in einander über. Dies, und daß sie zum Teil unabhängig von einander entstanden sind, hat einige Wiederholungen mitgeführt, die man doch nicht sehr lästig finden dürfte, und die ich nicht überall durch Verweisungen habe ersparen wollen, um den Zusammenhang der Darstellung nicht zu brechen.

Der vorliegende erste Teil dieser Schrift beschäftigt sich nach Ausweis des Inhalts mit allgemeineren begrifflichen und gesetzlichen Verhältnissen des ästhetischen Gebietes, darunter namentlich mit Ausführungen und Anwendungen zweier Prinzipien, welche im 6. und 9. Abschnitt besonders besprochen sind, so wie mit den allgemeinen Prinzipien des Geschmackes; der zweite Teil wird auf allgemeinere Betrachtungen über Kunst, auf verschiedene Streitfragen bezüglich der Kunst, auf eine weitere Reihe ästhetischer Gesetze und einige speziale Gegenstände eingehen.

Manche, die nur Notiz von meinen Schriften anderer Richtung genommen, mag es befremden, daß ich nach einer, durch so viele Jahre anderen Fächern zugewandten, Tätigkeit schließlich noch angefangen, mich mit Ästhetik zu beschäftigen. Macht doch das Alter um so unreifer zu jeder neuen Beschäftigung, je reifer es selbst ist. Inzwischen ist es vielmehr das Ende als der Anfang einer Beschäftigung mit ästhetischen Dingen, woraus diese Schrift erwachsen ist, einer Beschäftigung, die nicht immer bloß Nebenbeschäftigung war. Zum Belege davon, um so zu sagen mein ästhetisches Dienstbuch vorzuzeigen, registriere ich hier kurz das, was bisher von mir in diesem Gebiete in die Öffentlichkeit getreten ist, ohne freilich in seiner Vereinzelung einen weiten Weg in dieselbe gefunden zu haben.

Im Jahre 1839 gab ich pseudonym (als Mises) ein, im Charakter der andern Misesschriftchen gehaltenes Schriftchen, "Über einige Bilder der zweiten Leipziger Kunstausstellung (Lpz. Voss)", hauptsächlich in Widerstreit gegen eine falsche Richtung der Idealisierung, hieraus, welches in der kürzlich (1875) erschienenen Sammlung der "Kleinen Schriften" von Mises mit aufgenommen ist. – Gegen die Übertreibung des Prinzips des goldnen Schnittes habe ich einige experimentale Tatsachen in der Abhandlung "Über die Frage des goldnen Schnittes" in Weigels Archiv 1865. 100 geltend gemacht. – In allgemeinerer Weise ist die Idee einer experimentalen Ästhetik von mir in der, den Abhandlungen der sächs. Soc. d. Wiss. eingereihten, Schrift "Zur experimentalen Ästhetik" (Lpz. Hirzel 1871) vertreten, wozu eine Fortsetzung noch geliefert werden soll. In vorliegender Schrift ist im 14. Abschnitt eine Probe ihrer Ausführung gegeben. – "Über das ästhetische Assoziationsprinzip" ist eine Abhandlung von mir in Lützow’s Zeitschr. 1866 enthalten, die man in einiger Erweiterung im 9. Abschnitte dieser Schrift wiederfinden wird. – An den hauptsächlich zwar historischen, doch in das Ästhetische mit hineinspielenden, Streitfragen über die beiden Exemplare der schlechthin sogenannten Holbein’schen Madonna habe ich mich in der Abhandlung "Der Streit über die beiden Madonnen von Holbein" im Grenzb. 1870. II, in dem Schriftchen "Über die Echtheitsfrage der Holbein’schen Madonna" (Lpz. Br. u. H. 1871), und einigen Abhandlungen in Weigel’s Arch. (1866 bis 1869) beteiligt. – Ein öffentliches ästhetisches Experiment mit dem Vergleiche dieser Exemplare ist von mir bei Gelegenheit der Holbeinausstellung im Jahre 1871 angestellt, worüber in der kleinen Schrift "Bericht über das auf der Dresdener Holbein-Ausstellung ausgelegte Album" (Lpz. Br. u. H. 1872) berichtet ist.In mehrfachen öffentlichen Beurteilungen obigen Experiments ist, in geradem Widerspruch mit dessen erklärter Absicht, teils durch Unachtsamkeit der Beurteiler, teils weil einer dem andern nachgeschrieben, das Experiment vielmehr auf die Echtheitsfrage als auf die ästhetische Frage bezogen werden, wogegen ich hier gelegentlich nochmals Verwahrung einlege, da jene Beurteilungen ganz geeignet sind, meine eigene Urteilsfähigkeit in Frage zu stellen, und verbreiteter sein dürften als obiges, in der Tat wenig bekannt gewordenes, Schriftchen, welches den Sachverhalt des Experimentes darlegt. – Endlich habe ich in verschiedenen Jahren Vorträge im Leipziger Kunstverein über einzelne ästhetische Fragen und an der Universität über allgemeine Ästhetik gehalten.


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