Gustav Theodor Fechner
Vorschule der Ästhetik Teil 1
Gustav Theodor Fechner

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VII. Prinzip der Widerspruchslosigkeit, Einstimmigkeit oder Wahrheit.

Allgemeingesprochen ist es im Sinne der Lust, sich der Einstimmigkeit oder Widerspruchslosigkeit von Vorstellungen oder Gedanken, die sich von verschiedenen Seiten her bezüglich eines und desselben Gegenstandes darbieten, bewußt zu werden, im Sinne der Unlust, einen Widerspruch dazwischen wahrzunehmen. Es gilt aber, den Ausdruck Widerspruch und sein Gegenteil Einstimmigkeit als Abwesenheit des Widerspruches richtig zu verstehen.

Es liegt kein Widerspruch darin, sich eine Sache zugleich als schwarz und als weiß vorzustellen, wenn sich die Vorstellung des Schwarz und Weiß auf verschiedene Seiten oder Stellen derselben bezieht, die im Grunde nicht dieselbe Sache sind, ebensowenig, eine bestimmte Stelle der Sache nach einander als schwarz und weiß vorzustellen, was im Grunde nicht mehr dieselbe Sache ist, der Begriff solcher Änderungen ist uns vielmehr ganz geläufig; wohl aber, dieselbe Stelle zugleich als schwarz und als weiß vorzustellen; und, obwohl ein solcher Widerspruch nicht aus direkter Anschauung der Wirklichkeit in uns kommen kann, so kann doch, wo solche nicht oder nicht vollständig unserer Erfahrung unterliegt, von gewisser Seite ein Anlaß sein, eine Forderung bestehen, die eine, von anderer, die widersprechende Vorstellung zu hegen, oder es kann auch auf gewissen Anlaß eine Vorstellung gehegt werden, welcher die von direkter Erfahrung abhängige Vorstellung widerspricht. So können historische Angaben unter einander, oder historische Angaben mit Rückschlüssen aus Tatsachen, oder theoretische Folgerungen unter einander oder mit beobachteten Tatsachen in Widerspruch oder Einstimmung stehen.

Nun kann es sein, daß solche Anlässe widersprechender Vorstellungen zu verschiedenen Zeiten eintreten und wir, indem wir einmal dem einen, das anderemal dem anderen Anlasse nachgeben, des Widerspruches gar nicht gewahr werden. Z. B. wir lesen heute die Nachricht, daß zur Zeit eines historischen Datums die Sonne verfinstert gewesen sei, ein Jahr darauf die Nachricht, daß sie während der Zeit soll geschienen haben, ohne beide Angaben an einander zu halten. Oder wir lesen heute in der Bibel, daß der Mensch in Gott lebe, webe und sei, und finden ein andermal wieder Anlaß, uns Gott gegenüberzustellen, wie ein Mensch dem anderen gegenübersteht. Wo nun der Widerspruch nicht wahrgenommen wird, weil die Erinnerung keine Brücke zwischen den widersprechenden Vorstellungen schlägt, fehlt auch der Anlaß zur Unlust und ist der Widerspruch ästhetisch gleichgültig; die Unlust tritt aber um so leichter über die Schwelle, je mehr sich bei der einen Vorstellung die Erinnerung an die widersprechende geltend macht.

Eben so wenig als das Dasein eines Widerspruches überall Unlust erweckt, weckt die Einstimmigkeit der Vorstellungen überall Lust. Zu sehen, daß ein Planet zu gewisser Zeit einen gewissen Ort einnimmt, enthält keinen Widerspruch; aber auch wenn wir uns bewußt werden, daß hier kein Widerspruch liegt, liegt darin noch kein Anlaß zur Lust; wohl aber, wenn wir uns bewußt werden, daß sein beobachteter Stand mit seinem berechneten übereinstimmt, oder zwei von verschiedenen Seiten darüber geführte Rechnungen zusammenstimmen. Und so gehört überall das Bewußtsein der Möglichkeit eines Widerspruches oder die wirkliche Lösung eines solchen zwischen zwei von verschiedenen Seiten sich darbietenden Vorstellungen dazu, um Lust an ihrer Übereinstimmung zu begründen.

Die Übereinstimmung wie der Widerstreit zweier Vorstellungen oder Vorstellungskreise kann mehr oder weniger tief in unser übriges Erkenntnisgebiet eingreifen, indem dadurch eine

Einstimmung oder ein Widerspruch mit mehr oder weniger anderen Vorstellungen oder Vorstellungskreisen begründet wird; auch kann er mehr oder weniger praktisch folgenreich für uns sein. Je mehr nun Eins oder das Andere oder Beides der Fall ist, desto leichter tritt respektiv die Lust an der Einstimmung oder Unlust an dem Widerstreit über die Schwelle, indes sie unter gegenteiligen Verhältnissen auch leicht unter der Schwelle bleibt. Ja ein uns theoretisch und praktisch gleichgültiger Widerspruch kann sogar, statt uns Unlust zu wecken, den Eindruck der Lustigkeit oder Lächerlichkeit machen, indem hier das Gefallen an der uns überraschenden Verknüpfung widersprechender Vorstellungen durch Vermittelung derjenigen, worauf sie sich gemeinsam beziehen, die Oberhand gewinnt, worauf anderwärts zurückzukommen. Ein Konflikt findet aber hier jedenfalls statt, woher es kommt, daß der Eine denselben Widerspruch lustig findet, über dessen Torheit sich der Andere ärgert.

Das Vorige zusammenfassend und von Konflikten absehend werden wir kurz sagen können: wenn von einander abweichende Anlässe, sich eine und dieselbe Sache vorzustellen, eintreten, so ist es im Sinne der Lust, gewahr zu werden, daß sie wirklich auf eine übereinstimmende Vorstellung führen, im Sinne der Unlust, gewahr zu werden, daß sie auf eine widersprechende Vorstellung führen. Um Vorstellung einer und derselben Sache aber handelt es sich, wenn wir die Vorstellung auf denselben Raum, dieselbe Zeit und einen übrigens in sich widerspruchslosen Vorstellungskomplex, der auf diesen Raum und diese Zeit bezogen ist, beziehen.

Wenn innerhalb eines zusammenhängenden Kreises von Vorstellungen kein Widerspruch zwischen irgend welchen Teilen desselben besteht, so messen wir diesem Zusammenhange innere Wahrheit bei, gleichgültig, ob die Vorstellungen sich auf äußere Wirklichkeit beziehen und ihnen etwas in der äußeren Wirklichkeit entspricht oder nicht; sprechen hingegen von äußerer Wahrheit, wo ein Vorstellungszusammenhang oder eine einzelne Vorstellung sich auf das Dasein äußerer Wirklichkeit bezieht und widerspruchslos mit der Gesamtheit der durch äußere Wirklichkeit erweckbaren Vorstellungen besteht, da wir doch die äußere Wirklichkeit nicht selbst in unserem Geiste haben können; ohne daß wir ein absolutes Kriterium für äußere Wahrheit haben. Hiernach hängt an unserem Prinzip das Gefallen, was wir an der Erkenntnis innerer und äußerer Wahrheit abgesehen von der Beschaffenheit des Inhaltes und dem Nutzen der Wahrheit haben, und das Mißfallen, was wir an Unwahrheit und Lüge abgesehen von der Beschaffenheit des Inhaltes und den üblen Folgen der Lüge haben. Dies können wir als formale Seite des Gefallens und Mißfallens an der Wahrheit und Unwahrheit bezeichnen.

Indem uns aber etwas auch abgesehen davon, ob es wahr oder unwahr ist, nach der Beschaffenheit seines Inhaltes gefallen oder mißfallen kann, und die Wahrheit allgemeingesprochen auch nützliche, die Unwahrheit schädliche Folgen hat, oder in einen wohlgefälligen oder mißfälligen Zusammenhang eintritt, kann durch das Bewußtsein davon das Gefallen und Mißfallen am Wahren und Unwahren mitbestimmt werden, was wir als sachliche Seite des Gefallens und Mißfallens daran bezeichnen können, die jedoch eigentlich nicht sowohl die Wahrheit und Unwahrheit selbst, als das, worin sie sich äußert und was aus ihr folgt, angeht, insofern unter andere Prinzipe tritt.

Die formale Seite des Gefallens an der Wahrheit reicht schon für sich allein hin, ohne deshalb überall das allein Wirksame zu sein, in der Wissenschaft die Wahrheit suchen und in der Kunst die Wahrheit der Darstellung fordern zu lassen, daher wir in der Wissenschaft nicht eher ruhen, als bis sich von keiner Seite mehr ein Widerspruch zwischen zwei Vorstellungen oder Vorstellungszusammenhängen findet, und nur von Kunstwerken befriedigt sind, welche erstens den Forderungen innerer Wahrheit genügen, wonach nichts Einzelnes der Idee, die das Ganze erweckt, oder, was damit wenn nicht zusammenfällt aber zusammenhängt, kein Teil der Vorstellungen, welche die Gesamtheit der übrigen erweckt, widersprechen darf, zweitens den Forderungen äußerer Wahrheit so weit genügen, als wir Anlaß finden, eine Übereinstimmung der Kunstwerke mit äußeren Gegenständen nach Idee oder Zweck derselben vorauszusetzen. Insofern jedoch dies in der Musik gar nicht, in der bildenden Kunst nur in beschränktem Grade der Fall ist, wird auch die mangelnde Übereinstimmung eines Kunstwerkes mit der äußeren Wirklichkeit nicht allgemein mißfällig sein. Auch kann man Betrachtungen darüber anstellen, wie weit Abweichungen von der äußeren Wahrheit in gegebenen Kunstgattungen zulässig oder selbst zu Gunsten anderer ästhetischer Vorteile gefordert sind, was jedoch in Ausführungen über Kunst gehört, auf die wir für jetzt nicht weiter als mit ein paar kurzen Beispielen eingehen wollen, um in einem späteren Abschnitte ausführlicher darauf zurückzukommen.

Ein Engel mit Flügeln kommt nicht in Wirklichkeit vor; aber wir setzen auch nicht voraus, daß der gemalte Engel einen wirklich vorkommenden Engel vorstellen soll, in welchem Falle er uns wirklich mißfallen würde, sondern nur, daß er einen himmlischen Boten Gottes symbolisch darstellen solle, womit sich die Flügel ganz wohl vertragen. Die Flügel selbst aber müssen so gemalt sein, daß sie zum Fliegen tauglich erscheinen, da sonst die durch ihre Anschauung erweckte Vorstellung der Vorstellung ihrer Bestimmung widerspricht. Einen Roman können wir recht wohl mit Lust lesen, trotzdem daß wir wissen, die Personen und Begebenheiten desselben sind der Wirklichkeit fremd; wir wissen zugleich, es ist nicht um Darstellung konkreter Wirklichkeit zu tun. Also kein Vorstellungswiderspruch. Aber reale oder psychologische Unmöglichkeiten oder starke Unwahrscheinlichkeiten darf er nicht enthalten, welche den allgemeinen Bedingungen der Existenz widersprechen, deren Bewußtsein uns beim Lesen des Romans als Forderung begleitet.


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