Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Vor bestimmtem Ausspruch des Gesetzes erläutern wir dasselbe an einigen besondern Fällen.
Ein Gedicht, in einer fremden Sprache gehört, gewährt noch den vollen Eindruck von Versmaß, Rhythmus, Reim, aber ohne den angeknüpften Sinn. Dieser Eindruck ist wohlgefälliger als der eines regellosen Kauderwälsch von Worten, aber diese Wohlgefälligkeit ist für sich so gering, daß man ihr ohne den Sinn gar keinen erheblichen ästhetischen Wert beilegen möchte, und übersteigt sogar für sich allein nicht leicht die Schwelle der Lust. Doch verlieren die schönsten Gedichte allen oder fast allen Reiz, wenn man ihren Inhalt in prosaischer Redeform wiedergibt, indem der Sinn ohne Versmaß, Rhythmus, Reim ebenfalls nicht die Schwelle der Lust übersteigt. Man denke etwa an: "Füllest wieder Busch und Tal", oder: "Vergangen ist der lichte Tag" u. s. w. Indem sich aber beide Faktoren der Wohlgefälligkeit zum Übersteigen der Schwelle oder im Steigen oberhalb der Schwelle helfen, entsteht ein positives Lustresultat, welches mit der ästhetischen Wirkung der einzelnen Faktoren an Größe unvergleichbar ist.
Entsprechende Hilfe leisten sich auf dem reinen Felde direkter Eindrücke der Wohllaut, die Melodie und Harmonie der Töne. Der sinnliche Wohllaut reiner voller Töne hat für sich sehr geringen ästhetischen Wert, und doch, wie viel trägt er zur Schönheit des Gesanges bei. Wenn freilich reine volle Töne nicht schon für sich wohlgefälliger wären als unreine rauhe Töne, so würde auch aus dem Zusammenwirken dieser Elemente keine, die Summe ihrer Einzelwirkungen überbietende, Steigerung erwachsen. Allgemein nun wird sich das Prinzip so aussprechen lassen:
Aus dem widerspruchslosen Zusammentreffen von Lustbedingungen, die für sich wenig leisten, geht ein größeres, oft viel größeres Lustresultat hervor, als dem Lustwerte der einzelnen Bedingungen für sich entspricht, ein größeres, als daß es als Summe der Einzelwirkungen erklärt werden könnte; ja es kann selbst durch ein Zusammentreffen dieser Art ein positives Lustergebnis erzielt, die Schwelle der Lust überstiegen werden, wo die einzelnen Faktoren zu schwach dazu sind; nur daß sie vergleichungsweise mit anderen einen Vorteil der Wohlgefälligkeit spürbar werden lassen müssen. Als Fälle widerspruchslosen Zusammentreffens aber sind namentlich solche zu bezeichnen, wo die eine Bedingung zugleich eine Voraussetzung oder Unterlage zum Zustandekommen der anderen ist, wogegen Fälle, wo die eine dem Zustandekommen der anderen hinderlich ist, nicht unter das Prinzip gehören. Insbesondere gehören unter das Prinzip die Fälle, wo ein direkt wohlgefälliger Eindruck zugleich Anlaß zu wohlgefälligen Assoziationsvorstellungen ist, so wie die, wo ein niederer wohlgefälliger Eindruck zugleich die Unterlage für das Zustandekommen eines höheren ist. Die angeführten Beispiele sind aus diesen beiden Klassen gewählt; genug andere Beispiele wird uns die Folge bringen.
Eine Folgerung des ästhetischen Hilfsprinzips ist, daß der Wegfall eines Momentes der Wohlgefälligkeit aus einer widerspruchslosen Vereinigung solcher Momente der Schönheit ohne Vergleich größeren Abbruch tut, als das Dasein des einen Momentes für sich betreffs der Schönheit leisten kann. Alles Vorige aber stimmt dahin zusammen, daß man aus der unbedeutenden Wirkung eines Momentes der Wohlgefälligkeit für sich noch keinen Schluß gegen seinen wichtigen Beitrag zur Schönheit eines Ganzen ziehen darf.
Zum wohlgefälligen Eindrucke eines Kunstwerkes wie Naturwerkes, das wir schön nennen, tragen im Allgemeinen verschiedene Momente bei, die sich durch Analyse sondern lassen; nicht leicht bringt es eins davon für sich zu einer bedeutenden ästhetischen Wirkung; und um uns von der Größe des Totaleindruckes Rechenschaft zu geben, müssen wir daher im Allgemeinen das Prinzip ihrer wechselseitigen Hilfe zuziehen. Soll es in voller Kraft auftreten, so müssen alle Momente vollkommen einstimmig, wie man sagt harmonisch, im Sinne der Lust wirken. Wo dies nicht der Fall ist — und nur zu häufig treten Konflikte in Kunst wie Natur ein — erleidet seine Leistung Abzüge, die wieder durch versöhnende Wirkungen überboten werden können; aber hierfür sind die Regeln anderweit zu suchen.
Das vorige Prinzip läßt sich von Bedingungen im Sinne der Lust auch wohl auf Bedingungen im Sinne der Unlust übertragen. Wenn eine Rede, die uns wegen ihres Inhaltes nicht gefällt, auch noch mit einer unangenehmen Stimme vorgetragen wird, so wird sie vollends unausstehlich. Nur bieten sich Fälle der Art nicht so leicht und auffällig als solche bezüglich der Lust dar, weil man sie möglichst beseitigt, vermeidet, oder durch Abwendung der Aufmerksamkeit sich ihnen zu entziehen sucht.
Ausdrücklich ist das Hilfsprinzip auf ein widerspruchsloses Zusammentreffen von Bedingungen bezogen worden, die für sich ästhetisch wenig leisten. Sollten Lustbedingungen zusammentreffen, die schon für sich viel leisten, so würde zwar noch eine Steigerung über die Leistung jeder einzelnen, aber nicht nur keine größere, sondern eine geringere als nach der Summe der einzelnen, zu erwarten sein, falls anders die psychophysischen Gesetze, denen sich das Hilfsprinzip unterordnen läßt, hier noch Anwendung finden. Denn hiernach nimmt zwar beim ersten Übersteigen der Schwelle die Empfindung in viel rascherem Verhältnisse als der sie auslösende Reiz zu, aber von einem gewissen Punkte des Ansteigens (dem Kardinalpunkte) an in schwächerem Verhältnisse, was in Kürze das Wachstumsgesetz der Empfindung heißen mag, und so ist vorauszusetzen, daß, wenn durch Zusammentreffen starker Lustbedingungen die Lust höher steigt, dies auch in geringerem Verhältnisse als nach der Summe der Bedingungen sein werde. Doch ist zu gestehen, daß eben so entscheidende direkte Bewährungen dafür, als für das Gesetz der Schwelle und Hilfe, nicht vorliegen.