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Die falsche Ansicht, daß die äußere Zweckmäßigkeit bei Gegenständen, in deren Bestimmung äußere Zweckmäßigkeit liegt, neben der Schönheit derselben so zu sagen nur hergehe, führt häufig auch zu falschen Konsequenzen. Man empfindet die Schönheit eines Bauwerkes, aber man gönnt es der Zweckmäßigkeit nicht oder traut es der Zweckmäßigkeit nicht zu, diese Empfindung hervorgerufen oder auch nur dazu beigetragen zu haben, und sucht den Grund des unmittelbaren Wohlgefallens am Bauwerk anderswo. Ein Beispiel davon kann man in folgenden Aussprüchen eines sehr geschätzten Kunstkenners finden, welche zugleich Gelegenheit geben mögen, die im vorigen Abschnitte entwickelten allgemeinen Gesichtspunkte nach einigen besonderen Beziehungen auszuführen und damit um so wirksamer zu erläutern. Dagegen, daß wir die ganze Schönheit eines Bauwerkes auf Zweckmäßigkeit zurückführen wollen, ist schon im vorigen Abschnitte Verwahrung eingelegt, und es wird unten darauf zurückzukommen sein.
Schnaase sagt in s. niederländischen Briefen bei Besprechung der Säulenstellungen an Tempelbauten: "Nicht die Zweckmäßigkeit, sondern die Schönheit macht die engen, der Stärke des Säulenstammes proportionalen, Intercolumnien nötig .... Die Teile des Gebäudes müssen harmonisch sein, die Säule darf dem Gebälk nicht zu hart widersprechen; sie muß, obgleich aufrecht stehend, eine Spur des Horizontalen an sich tragen, aus den einzelnen Säulen muß eine Reihe werden."
Der Sinn ist der: das Gebälk läuft horizontal; also muß, damit nicht das Auge einen mißfälligen Widerspruch der Formen gewahre, auch die Gesamtheit der das Gebälk tragenden Säulen einen horizontalen Zug zeigen, was der Fall sein wird, wenn sie eng genug stehen, um dem Blick eine fortlaufende Reihe darzubieten; nicht mehr dagegen, wenn sie so weit stehen, daß Lücken auffällig werden. Wir betrachten dann jede Säule für sich, und so tritt nun eben der Widerspruch zwischen ihrer vertikalen Richtung und der horizontalen Richtung des Gebälks grell und mißfällig hervor. Ob die Säulen durch ihr Weiter- oder Engerstehen nun auch dem Zwecke des Gebäudes genügen, ist für unser Schönheitsgefühl gleichgültig. Nicht auf den Zweck der Formen, sondern auf die nichts damit zu schaffen habende Einstimmung oder den Widerspruch derselben in sich achtet es dabei.
Nun fragt sich zuvörderst: fordert wohl das Auge sonst, daß Teile, die ihrer Bedeutung nach so verschieden sind, wie Tragendes und Getragenes, sich zu einer Form-Ähnlichkeit accommodieren? Müßte nicht aus gleichem Grunde ein Tisch, um schön zu sein, seine Platte, statt von 4 Füssen, von einer fortlaufenden Reihe derselben tragen lassen? Aber um direkter zu zeigen, daß Schnaase’s Auffassung hier nicht im Rechte ist, braucht man bloß das Material des Bauwerkes zu wechseln. Beim Steinbau dürfen die Säulen nicht weit stehen, weil sich sonst sofort das Gefühl geltend machen würde, daß sie die überliegende Steinlast nicht zu tragen vermögen. Wollte man die Säulen im Holzbau Verhältnismäßig gleich eng stellen, so würde sich das Gefühl des Unnötigen von selbst aufdringen. Dort würde uns ängstlich zumute werden, hier würde uns die Ängstlichkeit des Baumeisters und die mangelnde Motivierung durch einen Zweck mißbehagen. Also vertreten im Holzbau entfernt stehende, zierlich geschnitzte schlanke Säulen die Stelle der engen Säulenordnungen des Steins, ja die Säulen können beim Holzbau oft ganz wegfallen, wo sie der Steinbau unerläßlich fordert. So ist nichts ansprechender als das über die Außenwand weit vorgreifende Dach der Gebirgshütten, was durch nichts oder nur hier und da durch einen einzelnen Pfeiler gestützt ist. Nun vollends im Eisenbau. Jede Säule, die uns im Stein nach dem reinsten Ebenmaße geformt, schlank und ragend erschien, würde uns in Eisen feist, träg und drückend, so zu sagen im Fett der eigenen Masse erstickend vorkommen. Die Formen des Eisenbaues wollen überhaupt noch schlanker sein als die des Holzbaues, und die fast in Stäbe übergehenden Säulen desselben in Verhältnis zu ihrer Dicke noch weiter von einander stehen. Alles am Eisen will zeigen, daß es noch fester ist als es schwer ist. Spielend löst es Aufgaben, an welchen Holz und Stein ermüden oder an die sie sich nicht wagen. Durch den Guß schmiegt es sich in alle Formen, und so vermag sich der Eisenbau mit den leichtesten und zierlichsten Gliedern emporzuranken. Er vermag es, aber unser Schönheitsgefühl verlangt es nun auch von ihm.
Freilich müssen wir die Natur des Eisens, des Holzes, des Steines kennen, um den, von ihrer zweckmäßigen Verwendungsweise abhängigen, Beitrag zur Schönheit des Bauwerkes zu empfinden. Wir kennen sie aber genug aus täglicher Erfahrung, um ohne Weitläufigkeit und Rechnung beim Anschauen gegebener Verhältnisse fühlen zu können, ob sie dieser Natur widersprechen oder nicht, und wo unser Urteil in dieser Beziehung unsicher wird, wird auch das Schönheitsgefühl unsicher werden.
Man darf sagen, daß ein Teil der baulichen Schönheit auf Experiment und Rechnung beruht; denn die Kenntnis der zweckmäßigsten Massen-, Form- und Dimensionsverhältnisse ruht hierauf, und kann nicht anders als auf jenen Wegen erworben werden. Aber ein gebildetes Gefühl für die bauliche Schönheit faßt das ganze Resultat hiervon mit Lust zusammen, und ehe das Gefühl nicht so weit gebildet ist, daß es dies vermag, bleibt auch dieser Teil der baulichen Schönheit wirkungslos. Die absolut zweckmäßigsten Verhältnisse aller Teile sind nun unstreitig für kein Gebäude in keinem Baustile gefunden, aber es ist auch kein Gefühl so gebildet, daß es spürte, was an absoluter Zweckmäßigkeit noch fehlt; das entspricht sich.
Im Steinbau selber verlangen wir, daß die Säulen bald enger bald weiter (im Verhältnis zu ihrer Dicke und Länge) von einander stehen; wir verlangen es, auch wenn wir nichts von Baukunst verstehen. Forschen wir aber nach, so finden wir, daß auch hier das richtige Schönheitsgefühl jedesmal mit dem richtigen Zweckmäßigkeitsgefühl zusammentrifft. Es würde uns nicht gefallen, die schlanken korinthischen Säulen eben so weit auseinandertreten zu sehen, als die untersetzten dorischen. Jene dürfen nicht anders als eng stehen, wenn sie überhaupt ungebrochen stehen sollen, während kurze und dicke Säulen, wenn sie sich eng stellen wollten, halb müßig stehen, Material, Platz und Licht umsonst rauben würden. Wir sehen es der korinthischen Säule wohl an, daß sie sich keine gleiche Tragkraft zutrauen darf, als die dorische, und wollen daher, daß sie sich mehr von andern helfen lasse: während wir der dorischen Säule das Stück Arbeit, was sie nach ihrem stärkeren Bau allein tun kann, nun auch allein zu tun zumuten.
Das scheint nicht auf die Pfeiler im Innern unserer gotischen Kirchen zu passen. Sie sind schlank und ragend und stehen doch verhältnismäßig hierzu weiter als alle eigentlichen Säulen, wie sie an griechischen Tempeln, häufiger außen als innen, angebracht sind; warum nun nicht eben so weit gestellte Pfeiler auswendig wie inwendig? Schnaase sagt hierüber (Abschn. XIV Pkt. 3): "Gerade umgekehrt sind Pfeiler für das Äußere des Gebäudes unpassend, weil der Blick des Beschauers, statt an einer festen Gestalt zu haften, sich in den offenen beschatteten Räumen wie in einer dunkeln Innerlichkeit verliert, und so das Bild eines krankhaften unvollendeten Wesens erhalten würde.Kann man nicht diesen Ausdruck vielmehr auf das hier gebrauchte Bild selbst anwenden? Im Innern dagegen gewährt dieser Mangel entschiedene Vorteile, denn die Linie der Pfeiler, eben weil sie so wenig körperlichen Zusammenhang hat, nur durch getrennte Punkte bezeichnet, mithin ideale, mathematische Linie ist, gibt sich uns als etwas Unselbständiges, als die bloße Grenze der Fläche zu erkennen« u. s. w. — Hiergegen meine ich, wäre die Betrachtung so zu stellen: die Pfeiler im Innern haben teils eine andere Bestimmung, teils finden sie sich unter anderen Bedingungen des Haltes als die Säulen im Äußeren. Sie müssen weit stehen, weil sie sonst als eine Art Wand den Raum, der die Gemeine mit allem, was zum Gottesdienst gehört, als ein gemeinsames Gefäß umschließen soll, zweckwidrig in Fächer trennen würden, indes enge Säulen draußen als eine Art Gitter einen halben Abschluß gegen das Äußere vorstellen; sie können aber auch weit stehen, weiter als Säulen bei gleicher Schlankheit, weil sie nicht wie diese die Oblast des Gebälkes zu tragen, sondern nur eine Wölbung zu stützen haben. Diese ist es eigentlich, welche, indem sie sich auf die Seitenwände lehnt, das Dach schwebend hält. Nur indem sie verzagt, über dem weiten Raum, den sie unter sich gebreitet sieht, sich ganz allein durch eigene Kraft gespannt zu halten, zieht sie sich stellenweise zusammen und senkt sich als Pfeiler herab, schlägt so zu sagen Wurzel im Boden. Als bloßes Unterstützungsmittel zum Tragen braucht daher auch der Pfeiler nicht die gleichen Bedingungen des Halts zu erfüllen, die er erfüllen müßte, wenn er als Säule dieselbe Oblast zu tragen hätte, und so tritt er weiter von seinem Nachbar, um den Raum nicht zu sperren, der eigentlich ganz frei sein möchte; während die Säulen sich zusammendrängen; um sicher und leicht zu tragen, was sie zu tragen haben, und um zugleich Tor und Spalier, nach Umständen mehr das Eine oder Andere, für den Raum zu bilden, den sie umschließen. Ein richtiges Gefühl aber fühlt das Alles heraus, ohne daß es in einzelnen Vorstellungen vorschwebt.
Schnaase hat noch einen anderen Grund, weshalb Säulen im Allgemeinen eine engere Stellung verlangen als Pfeiler, der in ihrer runden und auch sonst ausgearbeiteten Gestalt liege. Diese nämlich soll der Säule einen Anschein von Selbständigkeit geben, der ihr doch als Glied eines Ganzen nicht zukomme; der Blick werde dadurch leicht bei der einzelnen Säule festgehalten und laufe somit Gefahr, den Gesamteindruck des ganzen Gebäudes zu verlieren, wenn nicht der Zusammenschluß der Säulen in ihrem engen Stande dadurch, daß er jener Selbständigkeit widerspreche und den Blick nötige, immer auf eine ganze Reihe Säulen auf einmal zu reflektieren, der vereinzelnden Wirkung jeder einzelnen ein Gleichgewicht halte.
Bemerken wir hiergegen: allerdings kann einem Teile eines Bauwerkes eine größere Selbständigkeit zukommen als einem anderen, sofern er nämlich einen größeren Beitrag zur Erfüllung der ganzen Bestimmung des Gebäudes gibt; er erscheint dann mehr als ein Teil, der andere von sich abhängig hat, als daß er selbst von andern abhängig schiene. Fesselt nun ein solcher Teil das Auge mehr, so verdient er auch es mehr zu fesseln, und es wird keine Gefahr entstehen, daß der Eindruck des Ganzen darunter leide, da er vielmehr gerade dadurch in rechter Weise zu Stande kommt, daß jeder Teil nach Maßgabe seiner Bedeutung für das Ganze auch sich in der Anschauung geltend macht. Hiernach aber darf die Säule am griechischen Tempel in der Tat das Auge mehr auf sich ziehen und fesseln, als der Pfeiler im gotischen Gebäude, weil sie nach dem Angeführten wirklich eine größere Selbständigkeit hat, und so mögen selbst Verzierungen beitragen, diese Bedeutung der Säule um so mehr hervorzuheben.
Nicht bloß in Betreff der Stellung aber, sondern auch der Hauptform der Säulen gehen Schönheit und Zweckmäßigkeit Hand in Hand. Warum ist die Säule unten dicker als oben? weil dies ihrer Stabilität zu Statten kommt. Warum schwillt sie gegen die Mitte etwas an? weil sie an dieser Stelle am leichtesten geneigt ist zu brechen und eine Verstärkung dieser Stelle Schutz dagegen gewährt. Eine Tänzerin mag auf einer Fußspitze schweben; hier mag die Verjüngung nach Unten eben so schön sein als bei der Säule die Verjüngung nach Oben; aber die Tänzerin soll sich bewegen und die Herrschaft der Seele und Lebenskraft über die Schwere zeigen; die Säule soll stehen und tragen, und die vollkommene Unterordnung unter die Gesetze der Schwere und Haltbarkeit des Materials zeigen.
Für den ersten Anblick zwar kann man es auffallend finden, daß Stuhl- und Tischbeine, die doch so gut als Säulen eine Last zu tragen haben, gerade nach dem entgegengesetzten Prinzip geformt sind. Statt sich nach Oben zu verjüngen, verjüngen sie sich nach Unten, und während jede erhebliche Schiefstellung oder gar Krümmung einer Säule zu vermeiden ist, lieben es Stuhl- und Tischbeine, namentlich erstere, sich etwas nach Außen zu richten oder gar unten nach Außen zu biegen. Mit all’ dem erscheinen sie nicht nur nicht ungefällig, sondern fordern diese Verhältnisse zur Wohlgefälligkeit. Muß nicht doch hier Schnaase’s Betrachtungsweise aushelfen? Aber im Gegenteile, wie kann sie es, wie das Gefallen an so entgegengesetzten Verhältnissen erklären? Nach Zweckbetrachtungen hingegen findet sich die Erklärung leicht so: Die Rücksicht auf Stabilität ist hier von den einzelnen Beinen auf das zusammenhängende Ganze in der Art verlegt, daß das Möbel steht, so lange die durch den Schwerpunkt gehende Vertikale in die Grundfläche zwischen den Beinen eintrifft, daher der Vorteil, die Beine etwas nach Außen zu richten oder zu biegen. Eine verbreiterte Basis jedes einzelnen Beins würde hierzu nichts helfen, sondern das Möbel nur schwerfälliger machen, indes die breite Anheftung oben die Beine vor dem leichten Abbrechen schützt. Bei den Säulen, die ein Gebälk tragen, hat jede verhältnismäßig mehr für sich zu stehen, und ihrer Aufgabe selbständig zu genügen. Doch fehlt die, auf die ganze Zusammenstellung solidarisch bezügliche, Rücksicht der Stabilität auch hei der Säulenstellung am griechischen Tempel nicht ganz, nur daß sie bloß leise und so zur Geltung kommt, daß die Stabilität der einzelnen Säule nur unmerklich durch die Schiefe leidet. Die äußern Säulen der Tempelfronten neigen sich nämlich etwas gegen die innern, und so ahmt das Ganze der Säulen gewissermaßen die einzelne Säule nach.
Nun aber kommen wir darauf zurück, daß nicht Alles an einem schönen Bauwerk aus Zweckmotiven abzuleiten und die Schönheit desselben nicht ganz darauf zurückzuführen ist. Das Kapitell, der Fuß, die Cannelierung der Säulen lassen sich nicht aus äußern Zweckmotiven ableiten. Gewiß hat Schnaase Recht, wenn er abgesehen von äußern Zweckmotiven Formvermittelung zwischen aneinandergrenzenden vertikalen und horizontalen Teilen, wie Säule und Gebälk, der Wohlgefälligkeit dienlich hält. Nur braucht man nicht den Säulen zuzumuten, eng zu stehen, um keinen schroffen Gegensatz zwischen Säulen und Gebälk spürbar werden zu lassen, sondern kann dafür das, die Säule nach oben vertikal fortsetzende und zugleich im Sinne des Gebälkes horizontal erweiternde, Kapitell in Anspruch nehmen. Indem dieses für jede Säule insbesondere den Sprung in die horizontale Richtung durch einen wohlgefälligen Übergang ersetzt, bedarf es nicht nur keines Scheins der Horizontalität mehr für die ganze Säulenreihe, sondern würde dieser auch in Widerspruch damit stehen, daß die ganz verschiedene Bedeutung der Säulen und des Gebälks einen verschiedenen Eindruck machen soll. Die Verdickung der Säule nach Unten, die Schwellung gegen die Mitte, die Neigung der Säulen gegen einander, obwohl in der Tat im Sinne des Zweckes, sind doch nicht so dringend dadurch gefordert, daß nicht die Leistung derselben, die Säule und das Ganze der Säulenstellung minder monoton und steif, oder, wie man sich ausdrückt, lebendiger erscheinen zu lassen, noch wichtiger erschiene. Man könnte sogar meinen, es sei damit wirklich bloß auf diese Belebung abgesehen. Aber eine Verdickung und Schwellung der Säule oben statt unten, ein Zusammenneigen der Säulen unten statt oben würde der Monotonie, der Steifheit ganz eben so wehren, als die wirklich eingehaltenen Verhältnisse, und würde doch abscheulich, geradezu unerträglich aussehen. Also unterstützen sich beide Momente der Wohlgefälligkeit, für sich allein wenig wirksam, im widerspruchslosen Zusammentreffen nach dem so oft von uns in Anwendung gezogenen Prinzip der ästhetischen Hilfe zu einer erheblichen Leistung.
Und so soll auch den Verzierungen, der Symmetrie, dem goldnen Schnitt und was man sonst meint von an sich schönen Verhältnissen in der Baukunst finden zu können, ihr Beitrag zur Schönheit des Ganzen, ja die Erfüllung des Ganzen zur Schönheit, nicht dadurch bestritten und verkümmert sein, daß die Zweckmäßigkeit das Fundament der architektonischen Schönheit bleibt, ohne dessen Dasein diese Hilfen nichts helfen und durch dessen Verletzung sie nur schaden. Ja man kann es gelten lassen, daß von der Zweckmäßigkeit zu Gunsten anderer Bedingungen der Schönheit nachgelassen wird, wo die Zweckmäßigkeit nur so entfernt oder in so untergeordneter Beziehung in Rücksicht kommt, daß der Nachteil durch Verletzung derselben über dem Vorteil durch Erfüllung der anderen Bedingungen nicht merklich gespürt wird. An sich liegt es im Sinne der äußeren Zweckmäßigkeit, daß nicht mehr Arbeit, Fleiß, Kosten auf das Bauwerk gewendet wird, als der äußere Zweck desselben eben fordert. Aber in Ausarbeitung des Kapitells, des Fußes, der Cannelierung der Säulen wird mehr darauf gewandt. Nun aber widersprechen sie doch nicht direkt dem äußern Zweck des Bauwerks, sondern kommen nur bei Rücksichtsnahme auf die Weise, wie es gebaut wird, in entfernte Zweckrücksicht, und es besteht sogar die Forderung, daß auch über den äußern Zweck hinaus etwas zur Hebung der Wohlgefälligkeit des Bauwerks geschehe; also wird auch der Nachteil, der sich Seitens Verletzung der äußern Zweckmäßigkeit aus jenem Gesichtspunkte assoziativ geltend machen könnte, über dem Vorteil, der sich direkt durch die Wohlgefälligkeit jener Teile geltend macht, nicht gespürt.
Ich habe im Vorigen nur einige speziale Teile eines Bauwerkes in Betracht gezogen, wovon man die Anwendung leicht auf die übrigen und das Ganze wird machen können. Jeder Gegenstand der Kunstindustrie wird sich ähnlichen Betrachtungen unterziehen lassen. Beschränken wir uns auf einige Ausführungen bezüglich eines Beispiels.
Ein Gefäß hat im Allgemeinen den Zweck, etwas in sich zu fassen. Es wird unter sonst gleichen Umständen, d. i. bei gegebener Masse und Oberfläche, am meisten zu fassen im Stande sein, wenn es kugelrund ist. Käme es nun auf weiter nichts an, und käme es überhaupt bei der Schönheit bloß auf äußere Zweckerfüllung an, so würde uns ein kugelrundes Gefäß dadurch, daß man ihm diese vorteilhafteste Erfüllung ansähe, besser als jedes andere gefallen. Aber noch eine Menge andere Zweckrücksichten machen ihre Ansprüche an die Form geltend, und dehnen, drücken, biegen an der Kugel, beschneiden sie, setzen ihr anderwärts wieder zu, und unser Schönheitsgefühl läßt sich das Alles nicht nur gefallen, sondern fordert es. Zugleich wird damit außer der Zweckmäßigkeit noch der direkte Vorteil für das Gefallen erreicht, daß ein Reiz der Mannigfaltigkeit an jedem Gefäße schon für sich, aber auch zwischen verschiedenen Gefäßen, entsteht, der bei überall kuglichen Gefäßen wegfiele, durch den Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit aber immer einheitlich gebunden bleibt.
Sehen wir näher zu, so soll sich oben in das Gefäß etwas einfüllen lassen, es soll auch seinen Inhalt wieder von sich geben können; also schneiden wir einen Teil der Kugel oben ab und legen ihn entweder ganz beiseite, oder setzen ihn, um den Inhalt noch möglichst abzuschließen, als Deckel mit einem Knopfe zum Auf- und Abheben wieder oben auf. Das Gefäß soll sich ferner unten feststellen lassen, also opfert die Kugel ihre untere Wölbung, wir platten oder flachen sie wenigstens ab oder geben ihr einen Fuß. Eine Hohlkugel mit abgeschnittenem Oberteil und abgeflachtem Unterteil gibt die einfachste Schale. Das Gefäß soll sich auch bequem fassen lassen; entweder bringen wir daher einen dünnen zylindrischen Teil zum Umfassen mit der Hand zwischen Fuß und Körper an, den wir noch gern mit einem kleinen Wulst oben oder um die Mitte versehen, um die Lage der Hand zu fixieren und das Gefäß nicht darin gleiten zu lassen, oder setzen Henkel an die Seite des Gefäßes, nach Umständen auch Beides. Also muß sich die Kugel oft auch zur Seite Ansätze gefallen lassen, die ohne Rücksicht auf den Zweck als störende Auswüchse erscheinen möchten, zumal wo es, wie meist bei Tassen, nur einen Henkel gibt, dem nicht einmal die Symmetrie mit einem anderen zu Statten kommt. Um den Einguß zu erleichtern dient eine Umbiegung der Mündungsränder nach Außen, um den Ausguß zu erleichtern, die stellenweise Zusammenziehung in den Schnabel, und um bei möglichst erleichtertem Ein- und Ausguß dem Gefäße seine einschließende Kraft noch möglichst zu wahren, die halsförmige Einschnürung zwischen Mündung und Bauch, wo es nämlich auf diese Zweckrücksichten ankommt.
Während aber so die Kugelform in vertikaler Richtung oft ganz zerstört wird, bleibt doch von ihr der kreisförmige Querschnitt in jeder horizontalen Richtung des Gefäßes, weil alle Nebenzwecke ihren Einfluß eben nur in jener Richtung ausüben, wenigstens bei den meisten Gefäßen. Doch muß selbst die allseitige Symmetrie nachgeben, wo es der Zweck verlangt, daher der einseitige, dem Henkel entgegenstehende, Ausguß an Gefäßen, die vorzugsweise bestimmt sind, oft etwas herzugeben.
Ich habe bei all dem wesentlich nur Gefäße für Flüssigkeiten im Auge gehabt. Bei Kisten, Kasten, Kästchen, Koffern widerstrebt im Allgemeinen die Form dessen, was sie aufzunehmen haben, der Anwendung krummer Flächen für die Wände, oder bringt die Konstruktion aus Brettern die rechteckige Form von selbst mit sich.
Nun aber auch bei Gefäßen etc. ist so wenig als beim Bauwerk Alles auf Zweckmäßigkeit zu geben, und fordern Gefäße so gut als Bauwerke zur Steigerung des Gefallens auf einen Punkt, von dem an wir anfangen von Schönheit zu sprechen, noch die Hilfe durch Verzierung und direkte, d. h. von keinen Assoziationsvorstellungen abhängige, Formwohlgefälligkeit, so weit sich solche mit der Zweckmäßigkeit verträgt. Zwar tritt, wie oben bemerkt, die Zweckmäßigkeit selbst als einheitliches Bindeglied der Mannigfaltigkeit an jedem Gefäße auf; doch muß auch die anschaulich einheitliche Verknüpfung in so weit festgehalten werden, als mit jener obersten Bedingung vereinbar ist, und es können in dieser Hinsicht gewisse Formen, gewisse Biegungen vorteilhafter sein als andre. Da nun das, hierbei hauptsächlich in Betracht kommende, Prinzip der einheitlichen Verknüpfung des Mannigfaltigen an sich einer hinreichenden Bestimmtheit ermangelt, und hier überdies nur in Mitbestimmtheit durch den, bei jedem anderen Gefäße anders modifizierten, Zweck in Betracht kommen darf, so möchte zur Ermittlung des mehr oder minder Vorteilhaften in diesem Gebiete, wozu in der Tat kein Apriorismus ausreicht, das ästhetische Experiment mit Nutzen zuzuziehen sein. Bei den Versuchen nach der Methode der Wahl mit 10, ihrem Seitenverhältnis nach variierten, Rechtecken wurde zufolge der Tabelle (Abschn. XIV Pkt. 3) eins in gewissem Verhältnisse öfter als jedes andere vorgezogen. Setzen wir statt dessen, daß ein Künstler 10, aus irgend einem Gesichtspunkte variierte, Modelle eines Bechers verfertigte, und darauf die Methode der Wahl in entsprechender Weise anwendete, so würde er darauf rechnen können, die am häufigsten vorgezogene Becherform auch am häufigsten zu verkaufen, und damit zugleich vielleicht manchen theoretischen Betrachtungen einen nützlichen Anhalt zu geben. Der Gesichtspunkte, aus welchen die Form eines Bechers variiert werden kann, sind freilich viel mehr, als welchen die Seitenverhältnisse eines Rechteckes unterliegen; aber nachdem eine gewisse Hauptform für die Becher zu gegebenem Gebrauche schon festzustehen pflegt, wird sich hiermit die Variation der Gesichtspunkte, welche für die Abänderung noch übrig bleiben, von selbst beschränken.
Wie leicht zu erachten, lassen sich die vorigen Bemerkungen vom Becher auf jeden Gegenstand der Kunstindustrie übertragen. Und zwar würde es der Künstler bei Anwendung der Methode der Wahl auf einen solchen überhaupt leichter haben, als ich es bei meinen privaten Versuchen mit den sozusagen abstrakten Rechtecken gehabt, weil er nur alle Kunden, die überhaupt etwas bei ihm kaufen, bei dieser Gelegenheit zum Experiment in betreffender Beziehung zuzuziehen brauchte, also keinen Mangel an Versuchssubjekten hätte, und die Vorzugswahl zwischen konkreten Gegenständen von bestimmter Anwendung leichter fällt als zwischen einfachen Formen mit Abstraktion von solcher. Zugleich würde er damit den praktischen Vorteil erreichen, die zusagendste Form gerade für den Geschmack derer, welche sein Kundenpublikum bilden, kennen zu lernen. Ob ihm freilich nicht seitens seiner Kollegen eben solches Nasenrümpfen begegnen würde, als mir Seitens meiner ästhetischen Kollegen in Sachen der ästhetischen Experimente begegnet ist, dafür möchte ich nicht stehen.