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Kobe, im September
Auch im Lande der aufgehenden Sonne ist nicht alles Morgenröte, auch hier hört man das heute mehr als je in aller Herren Länder erklingende Lied von den vergangenen besseren Zeiten und von der neuen Welt, die nichts taugt; auch hier gibt es nicht wenige, die die moderne Entwicklung mit einem nassen und einem heiteren Auge begrüßen und sich durch keinen Fortschritt davon belehren lassen, daß man hier etwas Altes und Ganzes gegen ein Halbes vertauscht habe, das Land und Leuten nicht einmal gut zu Gesicht stehe.
Wie dem auch sei: man muß ihnen zugestehen, daß sie vieles von dem, was sie von den weißen Teufeln übernommen, wenigstens gut nachgeahmt haben. Und hierher gehört vor allem das japanische Eisenbahnwesen, über das jeder Reisende in diesem Lande nur mit Bewunderung sprechen kann. Auf den ersten Blick kann man sehen, wer hier die Lehrmeister gewesen sind. Der Bahnhof Tokio in seinem überladenen Berliner Stil aus der sogenannten Gründerzeit spricht eine deutliche Sprache. Nicht minder die Stationen der Vorortbahn, die ausschauen, als ob ein freundlicher Wind sie eben erst von Berlin-Steglitz hierher geweht hätte. Altpreußisch mutet auch die Pünktlichkeit an, mit der die Züge auf die Minute genau in die Bahnhöfe einfahren, und wie ein orientalisches Märchen ist die Billigkeit dieser Bahnen. Von Tokio bis zur Endstation der von Japan beherrschten südmandschurischen Eisenbahn, also auf einer Strecke von 2500 Kilometern, kostet eine Fahrkarte der dritten Klasse 37 Yen, also etwa 71 Mark. Und nun vergleiche man damit die Preise auf unserer Dawesbahn!
Insofern ist Japan ein ideales Land für den Weltreisenden. Aber wo so viel Licht ist, da müssen auch Schatten sein, und diese verdüstern sich im umgekehrten Verhältnis zur Größe des Geldbeutels. Der europäische Mensch fängt in Japan erst bei Cooks Reisescheck an. Mag sein, daß einer, der vom Schiff direkt per Auto zu seiner durch Radio vorbestellten Zimmerflucht im Imperial-Hotel fährt, von allem Anfang an gefangen wird vom Zauber dieser fremden Welt. Für die anderen aber – und das sind doch wohl noch die meisten – wird sie nicht selten zu einem chinesischen Puzzlespiel, das ihn erstaunt, erschreckt, verwirrt und seine Nerven in Anspruch nimmt. – Müde und gerädert kommst du spät abends nach einem Bahnhof, in eine Welt, die dich so fremd und rätselhaft anschaut wie die fünfhundert Bücher des Kaisers Wutschang von China. Alles ist anders, als du es gewohnt bist, die Menschen, die Dinge, die Inschriften an den Wänden. Kein Wort verstehst du von dem Geschwätz um dich her, keine Silbe von den Buchstaben an den Ladenschildern. – Nun ja, so etwas ist dir schon früher passiert, z. B. in Persien. Aber wenn jene nicht mit dir reden konnten, so gab ihnen doch ein Gott zu sagen, was sie litten, mit Händen und Füßen und unmißverständlichen Gebärden ihrer ausdrucksvollen Gesichter. Diese aber stehen vor dir wie die Holzböcke.
Rikschah? Hotel?
Sie lächeln bloß. So ein dichtes, undurchdringliches, asiatisches Lächeln.
Auto?
Voller Hoffnung gehst du zum Auskunftsbüro, wo geschrieben steht: »English spoken«.
Aber auch hier erntest du nur ein Lächeln, so eines von der Sorte, die Hamlet verhöhnte.
Doch das hat nichts mit Bosheit zu tun. Es ist nur ein Lächeln der Verlegenheit, ein Grinsen der Ratlosigkeit. Er lächelt, du lächelst, es lächeln alle die Umherstehenden, damit endet das Intermezzo, und du bist so klug wie zuvor.
Bisher waren mir die Japaner stets als Menschen erschienen, die klug wie die Schlangen und höflich wie die Sünde sind. Aber dann bin ich Unglücksrabe in meinen bisherigen achttägigen japanischen Wanderungen allen Ausnahmen, die diese Regel bestätigen, auf einmal begegnet.
Aber einmal geht alles vorüber, sogar eine Komödie der Irrungen auf japanischen Bahnsteigen, eine Nacht auf den harten Bänken im Wartesaal, und der Zug rast nun durchs japanische Land. Seltsames Land! So vieles, was einen hier heimatlich anmutet, wenn man eben erst aus dem großen Treibhause der Tropen kommt. Ein Kartoffelacker steht da wie eine Offenbarung, hellgrüne Salatköpfe wie Grüße aus der Heimat und auf den Bergen ernste Kiefern, wie ein Spreewald. Und doch ist alles so ganz anders! Keine roten Dächer, keine Kirchtürme, kein munteres Federvieh, das sich in Ententeichen puddelt. Ist es nur das blasse Blau des Herbsthimmels, das alles so farblos erscheinen läßt? Die Dächer sind dunkel und so auch die Häuser, die hölzern und unbeholfen, wie Taubenschläge am Wegrand stehen. Die Dörfer verschwinden im Gelände, als ob sie Ursache hätten, sich zu verstecken. Aber eines kommt einem überwältigend zum Bewußtsein: In diesem Lande herrschen Ordnung und Fleiß. In diesem Lande geht kein Atom des Bodens ungenutzt verloren und ist nie verloren gegangen, solange Menschen zurückdenken können. Uralte, eingesessene Kultur, die ihre eigenen Wege noch heute geht, trotz allem, was das Fremde ihr in den Weg gerollt. Jedes trockene Flußbett ist ausgenutzt mit Gemüsegärten, jeder Hügel voll hoher Terrassen, auf denen die dunkelgrünen Teebüsche stehen.
Aber Kaiser in Japan ist der Reis! Wohin man schaut, sind die Ebenen bedeckt mit den wogenden Ähren, die wie unreife Getreidefelder sich im Winde bewegen. Kein Kornfeld, keine Wiese ist weit und breit zu sehen. Nur Reis. Nicht viel anderes als Reis ist es auch, was die schreienden Verkäufer um die Mittagsstunde an den Bahnhöfen feilbieten und in wunderschönen kleinen Kästchen zum Fenster hineinreichen, worauf für eine kurze Zeit der Expreßzug zu einer Garküche wird. – Pour quelque chose le malheur est bon. Für etwas sind auch die hohen Frisuren der japanischen Damen gut. Sie bewahren dort Fahrkarten, Taschentücher und Puderdosen auf. Ich bemerkte sogar eine Madame Butterfly, die in aller Gemütsruhe ihre Pantoffeln auf den Boden stellte und dann ein paar Eßstäbchen aus dem blau-schwarzen Haarberge herauszog.
Das alles ist sehr sonderbar, sehr überraschend für den Fremden, aber es ist echt und ungesucht, weil es gerade so und nicht anders sein kann in diesem Lande. – O Gott wenn man denkt, um welches Linsengericht wir Europäer die Erstgeburt unserer Traditionen verkauft haben!
Und immer weiter rast der Expreßzug durch weite Ebenen, dann wieder durch Bergländer, die mit ihren von finsteren Wäldern bedeckten Hängen bald an die Vogesen, bald an den Thüringer Wald erinnern, an spiegelglatten Seen, die ebensogut in Tirol oder in der Schweiz liegen könnten. Und ehe man sich's versieht, kommt man bei sinkender Nacht in die Gegend von Osaka und Kobe, das Ruhrgebiet Japans, wo die Luft schwer ist vom Rauch der Schornsteine, erfüllt vom Lärm der Fabriken. Seit dem Anschluß Japans an die Weltwirtschaft hat das Land sich zunächst militarisiert. Nun sind sie dabei, sich zu industrialisieren mit der systematischen Gründlichkeit, die diesem Volke eigen ist. Seit den vier fetten Jahren des Weltkrieges, die dem Lande einen nie geahnten Goldregen brachten, hat die gewaltig fortschreitende Industrialisierung das Gesicht ganzer Landstriche verändert. Nicht so wie anderwärts hat sich das langsam aus dem ehrsamen Gewerbe entwickelt, sondern es kam über Nacht, fix und fertig, ein kapitalistisches Kuckucksei mitten in das Nest eines Haushaltes, der noch tief im Mittelalter steckte; ein Rechenexempel und weiter nichts. Irgendwo in Tokio, in Kobe oder vielleicht auch in London oder in Wallstreet steckten kalte Geschäftsleute die Köpfe zusammen, berechneten Zoll und Arbeitslohn, Gewinn, Verlust, Abschreibung und Dividende, machten einen Voranschlag, und zwei oder drei Jahre später stand die Fabrik groß und modern in Osaka. Die Fabrik und mit ihr der Kapitalismus in seiner vollsten Blüte und an seinen Rockschößen der Bolschewismus. Von den beiden Typen dieser großindustriellen Entwicklung kennt Japan nur den des Aufsichtsrats. Zur Entwicklung des großen Industriekapitäns, der das Werk um des Werkes willen liebt, war weder Zeit noch Gelegenheit.
So ist der Kapitalismus hier noch kälter als anderswo, noch fremder und wesenloser. Dicht neben der modernen, mit allen letzten Erfindungen der Technik ausgestatteten Großmühle mahlt der Bauer noch heute seinen Reis auf dieselbe Art, wie es seine Urahnen vor tausend Jahren schon getan hatten, leben die Leute vergnügt und zufrieden, nach der Art ihrer Urahnen in Häusern, die ein Hohn sind auf allen hygienischen Fortschritt, klappern die Frauen mit den Holzschuhen in den Straßen, als ob es keine Autos, keine Straßenbahnen gäbe und man noch in der geruhsamen Zeit der Büffelkarren lebe. Ja, dieses ist das Land der unbegrenzten Widersprüche! Höchste Technik, rohestes Handwerk, modernster Kapitalismus, mittelalterliches Feudalsystem, primitivste Hauswirtschaft, alles lebt durch- und nebeneinander, anscheinend ohne übergroße Reibung.
Man kann auch als oberflächlicher Beobachter nicht umhin, den großen Zug zu bewundern, mit dem sie hier vieles tun, den Optimismus, dem selbst vor den Milliardenopfern des Erdbebens keinen Augenblick der Atem ausging. In keinem Lande wird so viel gebaut wie in Japan. In keinem Lande werden Neuerungen mit solcher Kühnheit übernommen, alte Urteile und Vorurteile so willig über Bord geworfen wie im Japan von heute, mit seinem noch immer so vielen Echten, Schönen, Althergebrachten und über kurz oder lang dem Untergang Verfallenen.