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In Riga ist manches anders wie anderswo. – Riga! Schon immer war einem der Name geläufig gewesen als der einer Großstadt voll lärmenden Lebens und schimmernder Eleganz. Riga, der große Stapelplatz des Ostens, das einzige offene Fenster des heiligen russischen Reiches. Unwillkürlich hat man damit eine Vorstellung verbunden von stolzen Bankpalästen, von Verkehrstürmen, von funkelnden, lichtüberfüllten Cafés und Kinos an glatten Asphaltstraßen, auf denen die Autos rasen, und von all den anderen Dingen, die zum Inventar einer modernen Großstadt gehören.
Jedoch – die Wirklichkeit sieht weniger großstädtisch aus. Wenige Kinos, wenige Cafés, wenige Autos, kein Verkehrsturm und kaum irgendwo ein Bubikopf. Schon der Bahnhof läßt zu wünschen übrig. Kaum ein Auto träumt auf dem weiten Vorplatze. Nur endlose Reihen von Kutschen, die geduldig in der Reihe warten. Wir gehen weiter durch die Straßen, die alle so trüb und traurig aussehen unter dem grauen Himmel dieses trostlosen, unwinterlichen Winters. Sie sind eng und winkelig und roh gepflastert mit dicken Steinen, nach der Mode von anno dazumal. Unversehens kommen wir an einen schönen Platz, umsäumt von hohen, altmodischen Häusern, mit Fassaden, die überschüttet sind mit Figuren, Ornamenten und wunderlichen Schnörkeln, die mittelalterliche Handwerkskunst in spielerischer Laune an allen Erkern und Giebeln angebracht hat. Wir kommen vorbei an anderen Gebäuden, die uns die ganze verklungene Welt der alten Zünfte, Gilden und Ritterschaften vor Augen zaubern, und plötzlich stehen wir vor der Düna.
Die Düna bei Riga ist ein Schauspiel, dessen Anblick allein schon die weite Reise lohnt. Sie ist viel breiter als irgendeine andere der vielen Strommündungen an der Ostsee. Aber auch die Elbe bei Hamburg steht hinter ihr zurück. Weithin schweift der Blick über das gelbe Wasser bis hinüber zum flachen Ufer auf der anderen Seite, wo halb im Nebel verdämmert die Schornsteine rauchen. Langsam, wie Schatten, ziehen die schmutziggelben Schollen des Treibeises vorüber, stauen sich eine Weile an der Schiffbrücke und setzen träge ihre Reise fort. Das alles und das wirbelnde Wasser und der verhangene Himmel über dem unsicheren Lichte des nordischen Winters vereinigt sich zu einem Bilde, das in seiner dunstigen Verschwommenheit für uns »Südländer« etwas Faszinierendes hat. Auch das Bild des Hafens ist nicht das eines modernen Seeplatzes, von dem der Vorübergehende zumeist nicht mehr zu sehen bekommt als hohe Gitter und Tore, durch die der Eintritt verboten ist. In Riga liegen die Schiffe am offenen Kai, wo die Lastwagen ihre Fracht ausladen. Es ist überall ein buntes, fast orientalisches Leben zwischen den unzähligen Buden auf dem weiten Platze. Ein wimmelndes Durcheinander von schreienden Händlern, feilschenden Hausfrauen, vergnügungslüsternen Matrosen. Und überall stehen die kleinen Wagen mit den struppigen Panjepferden, die einen trübsinnig anschauen, mit dem leeren Futtersack vor dem Maul.
Und plötzlich schaut man über das Getriebe hinweg zurück nach der Stadt mit ihren Türmen, die sich weithin ausbreitet wie ein einziges großes Panorama. Was ist es nur, was uns so sehr ergreift beim Anblick dieser Stadt? Die Kirchen, die Türme, haben wir sie nicht schon einmal gesehen? In Danzig, in Rostock, in Lübeck, in Lüneburg? Die starke Burg, die sich dort so trotzig gegen das Meer heranschiebt – ist es nicht eine alte deutsche Ordensburg? In der Tat: In dieser Stadt steht kaum ein Bau, der nicht geplant worden wäre von einem deutschen Baumeister, kaum ein Stein, der nicht redete von deutscher Geschichte. Die drei markantesten unter den Kirchen, den Dom, die Jakobs- und die Peterskirche, kann man ähnlich immer wieder finden im Deutschen Reiche. Der schönste und auffälligste Turm ist der der Peterskirche, eine schlanke, von luftigen Säulen dreifach unterbrochene Holzkonstruktion von wunderbarer Kühnheit. Ein Gegenstück dazu – wenn auch nicht annähernd so kühn und schlank im Aufbau – ist die Michaelskirche in Hamburg. Es ist ein Jammer, daß man dieses Bauwerk so recht nur aus der Ferne genießen kann. Es steht zwischen engen, übelriechenden Gassen und koscheren Speisehäusern und gewinnt nicht bei näherer Betrachtung.
Wie der äußere Aufbau, so kann auch das Leben und Treiben in der Stadt trotz allem und allem auch heute noch nicht seine deutsche Herkunft verleugnen. Wenn man als Reichsdeutscher hierher kommt, so ist man überrascht, ja fast verblüfft über die Rolle, die unsere Sprache spielt. Wohin man horcht, hört man deutsche Laute. Im Geschäftsleben ist Deutsch geradezu die Umgangssprache. An allen Schaufenstern und auf allen Ladenschildern sieht man deutsche Inschriften, und wenn darüber jedesmal auch noch lettische Worte stehen, so merkt man ihnen an, daß ihre Anbringung in vielen Fällen erzwungen wurde durch Ukas von oben. Die Zweisprachigkeit ist gewissenhaft überall durchgeführt auf eine Weise, die manchmal ein wenig humoristisch anmutet. Wenn z. B. auf Lettisch »Frisiers« steht, so steht darunter auf Deutsch »Friseur«. Lettisch: »Restorans«, Deutsch »Restaurant«. »Cafeja« – Deutsch: »Café«, »Rigas Korku Fabrika« – »Rigaische Korkfabrik« usw. So ist die Parität recht hübsch gewahrt, und jeder kommt zu seinem Recht.
Der einzige, der nichts weiß von der Wichtigkeit, ja von der Unentbehrlichkeit der deutschen Sprache in dieser Stadt, ist der Staat und mit ihm die Stadtverwaltung und alle öffentlichen Behörden. Kaum war die derzeitige – doch nur auf deutschen Krücken zur Regierung gelangte – lettische Staatsmacht genügend befestigt, so ließ sie die schönen deutschen Straßennamen entfernen und durch lettische ersetzen. Selbst die Schilder an den Straßenbahnhaltestellen, die in Deutsch, Russisch und Lettisch geschrieben waren, wurden par ordre du mufti weiß überstrichen, da andernfalls der ganze Staat darüber stolpern könnte. Heute gibt es nur noch ein öffentliches Amt, wo man ein deutsches Schild zu lesen bekommt, und das ist das Steueramt.
Dennoch: Es macht einem hier, wie im ganzen Baltenlande, stolz, ein Deutscher zu sein. Denn die Deutschen schwimmen allenthalben oben, wie die Fettaugen auf der Suppe. Freilich ist das nicht mehr in dem Maße der Fall wie noch vor wenigen Jahren, wo praktisch alles in deutschen Händen war. Noch um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts war Riga nach dem äußeren Anschein eine rein deutsche Stadt, obwohl unsere Michel im Innern Deutschlands – aber was wissen die überhaupt? – nie etwas davon wußten. Bis zum Ausbruch des Krieges hatte sich in dieser Hinsicht nicht sehr viel geändert, trotz aller gewaltsamen Russifizierungsversuche. Ein Umschwung trat erst ein, als im Jahre 1919 nach dem Abzug der deutschen Soldaten das Lettentum ans Ruder kam und durch den großen Raubzug auf die deutschen Güter – sie nannten es Agrarreform – seinen Gelüsten an den »Unterdrückern« freien Lauf ließ. Viele alte deutsche Familien sind dadurch über Nacht zu Bettlern geworden. Auch mit der städtischen Bevölkerung ist man mit ähnlicher Rücksichtslosigkeit verfahren, indem man sie aus Ämtern und leitenden Stellungen warf, die man dann, unbekümmert um Eignung und Vorbildung, mit Parteigängern der neuen Regierung besetzte. Selbst Gebäude, deren Einrichtung die deutsche Bevölkerung mit großen persönlichen Opfern ermöglicht hatte, wie das eben erst fertiggestellte deutsche Theater, wurden »enteignet« und lettischen Zwecken nutzbar gemacht.
Heute ist das Deutschtum Rigas zum großen Teil verarmt, wie man überhaupt wohl sagen kann, daß kein anderer deutscher Stamm in diesen Zeiten so furchtbar zu leiden hatte, wie die Deutschbalten. Man kann aber auch hinzufügen, daß keiner mit so viel Würde das Unglück zu tragen wußte und mit so viel Mut und Aufopferungsfähigkeit den Kampf um seine Geltung wieder aufnahm. Bei allen sonstigen Unbilligkeiten, die die lettische Regierung dem deutschen Teil der Bevölkerung zuteil werden ließ, ist es wenigstens anzuerkennen, daß sie die Minderheitsgesetze in bezug auf Kirche und Schule in einer Weise handhabt, die sich vorteilhaft unterscheidet von dem Gebaren, das z. B. die Jugoslawen und Rumänen im Banat oder gar die Italiener in Südtirol an den Tag legen. Die Sprache des Schulunterrichts ist den einzelnen Nationen völlig freigestellt, wobei die Schulen der Letten ganz vom Staate unterhalten werden, während die der »Minderheiten« größtenteils aus privaten Mitteln unterstützt werden müssen. Und da ist es bewundernswert zu sehen, mit welchem Opfermut die verarmte Bevölkerung sofort nach dem Zusammenbruch sich an den Aufbau des Werkes machte. Aber auch für Kirchen, für Theater, Unterstützungen und viel andere kulturelle Zwecke werden immer von neuem große Anforderungen an den Geldbeutel jedes einzelnen gestellt. Sie werden willig getragen in einer Weise, die wohl als Vorbild dienen könnte für viele bei uns zu Hause, bei denen schon die Volksseele zu kochen beginnt, wenn sie zweimal im Jahre einen Gang von zehn Minuten von ihrem Hause zum Wahllokal unternehmen müssen. – –
Habe ich geschrieben, daß in ganz Riga kein Denkmal zu finden ist? Ich muß mich dementieren. Es steht doch eines da. Irgendwo an einem weiten Platz vor der russischen Kathedrale steht ein Marmorsockel ohne Inschrift und ohne Standbild. Peter der Große hat einmal dort gestanden. Nun ist er geraubt und von den Bolschewisten in die Newa versenkt worden. Es ist ihm ganz so ergangen nach den Worten des Liedes, das ihm der Dichter in den Mund gelegt hat:
»So setzt man dem Fürsten ein Denkmal von Stein,
Ein Denkmal im Herzen – – –«
Und doch könnte man niemand finden, der würdiger eines Denkmals wäre für diese Stadt. Die Bäume hier in den Anlagen hat er selbst zum Teil noch gepflanzt und begossen. Als einmal der Turm der Peterskirche brannte, hat er selbst mit Hand angelegt bei den Löscharbeiten. – Ob der Präsident der heutigen lettländischen Republik vorkommenden Falles ein Gleiches tun würde? – Wo würde er denn!