Kurt Faber
Weltwanderers letzte Fahrten und Abenteuer
Kurt Faber

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Von Tirana nach Elbasan

Elbasan (Albanien), im September.

Wenn man von Tirana in südöstlicher Richtung landeinwärts wandert, so kommt man mit der Zeit nach Elbasan. Es ist eine ziemlich beschwerliche Reise, denn der Weg ist lang und die Straße ist schlecht, selbst für albanische Begriffe. Sie führt über hohe Berge und tiefe Täler, und dann wieder geht sie zuweilen mitten durch einen reißenden Fluß. Stellenweise ist sie ganz passabel, stellenweise ist sie eine Steinhalde, ein Saumpfad, der in schwindelnder Höhe am steilen Berghang klebt. Mehrmals verliert sie sich in zahllosen durcheinanderlaufenden Spuren, bei deren Verfolgung man die Spürnase eines Lederstrumpf und die Spitzfindigkeit eines Sherlock Holmes haben möchte. Kurzum: Es fehlt nicht an Abwechslung auf der Straße von Tirana nach Elbasan, und das ist an sich kein Unglück, denn in dieser heißen Sonne, deren Strahlen von den Steinen tausendfach zurückgeworfen werden, ist das Reisen mit dem Rucksack auf dem Rücken ein mühsames Geschäft von mörderischer Eintönigkeit.

Dicht hinter den letzten Häusern von Tirana, wo mächtige Platanen neben einem plaudernden Bach stehen, führt die Straße steil bergan, geradewegs hinein in die wilden Berge. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, und die schroffen Bergwände standen schwärzer noch wie sonst unter dem fahlen Lichte des hereinbrechenden Tages, als ich den steilen Hang hinanstieg. Ein bedrücktes Gefühl kam über mich, das ich bei bestem Willen nicht los wurde. Alles, was ich von Räubern und Komitatschis gehört hatte, fiel mir auf einmal wieder ein, und während ich langsam weiterging, konnte ich es nicht verhindern, daß mir immer wieder der Spruch des alten Weisen aus dem Morgenlande durch den Kopf ging:

»Was wollt' er nur in jenen Wüsteneien?«

Ja, was denn nur? Eigentlich wußte ich das selbst nicht recht. Zum wenigsten konnte ich den Trieb zu solchem Verlangen nicht in eine einigermaßen befriedigende Definition fassen. Wer keinen Tropfen Abenteurerblut in seinen Adern hat, der wird so etwas nie begreifen, und den anderen braucht man es nicht erst zu erklären.

Bei weiterem Vordringen ins Gebirge wird die Landschaft zusehends wilder, romantischer, albanischer. Doch fehlt es auch hier keineswegs an menschlichen Ansiedlungen. Neben den im ganzen Lande immer wiederkehrenden Maisfeldern sieht man Weinberge und Tabakplantagen, und im Vorübergehen gewahrt man mit Erstaunen, wie gut diese Felder gehalten sind, wie sauber das Unkraut gerodet ist, und welche Mühe und Kunst man angewendet haben mochte auf die Anlage der Bewässerungsgräben, die all' dies Leben aus dem starren Einerlei von Steinen und Dornen hervorgezaubert haben.

Von hinterwäldlicher Ungeselligkeit sind die Bewohner jener Gegend. So wie sie ihre Häuser und Hütten weit abseits voneinander haben, damit einer aus des andern Weg ist, so gehen sie auch auf der Landstraße mürrisch aneinander vorbei, ohne sich gegenseitig einen Gruß zu bieten oder auf einen solchen zu antworten. Und es ist gut, daß sie so geartet sind, denn wären sie mitteilsam und mitteilungsbedürftig, wie etwa die Italiener sind, so käme man aus der Verlegenheit nicht mehr heraus. Denn in diese Gegend verirrt sich kein anderer Laut als nur das reinste Skipetarisch. Überall entlang der albanischen Küste kann man sich bei seinen Verständigungsversuchen mit Italienisch aushelfen, das im Geschäftsleben gewissermaßen als zweite Landessprache neben dem Albanischen zirkuliert. Im Gebirge aber geht man wie ein Taubstummer durch das Land. Man muß mit Händen und Füßen reden, wenn man den Leuten etwas begreiflich machen will, und wenn sie es dann noch begreifen würden! Aber diese teilen sich offenbar in zwei Klassen. Die einen begreifen wirklich nicht, und die andern wollen nicht begreifen.

Etwa halbwegs zwischen Tirana und Elbasan überschreitet die Straße einen hohen Bergrücken auf steilen, von wildem Geröll überschütteten Pfaden zwischen kümmerlichem Gestrüpp von Eichen und Zypressen. Wenn ich es vorher noch nicht gewußt hatte, so habe ich es dort erfahren, wie heiß die albanische Sonne brennen kann. Nicht minder aber werde ich die hellen, eiskalten Quellen vergessen, die dort allenthalben aus dem Felsen springen, und die weite Aussicht von der endlich erklommenen Berghöhe, die einem zu Gemüte führt, wie schön dieses seltsame Land doch ist, trotz allem! Weithin schweift der Blick über Täler und Höhen, wie über eine Landkarte, hinein in die Ebene und darüber hinaus zum fernen Mittelmeer, von wo ein kühler Wind so frisch wie das Leben selbst herüberweht.

»O Lust, vom Berg zu schauen
Weit über Wald und Strom,
Hoch über sich den blauen
Tiefklaren Himmelsdom!«

Am Ostabhang des Berges kommt man in einen richtigen schönen Wald mit mächtigen Eichbäumen, wie man es von Deutschland her gewohnt ist. Wieder kommt man durch ein langes Flußtal mit Mais- und Tabakfeldern. Überall in dem grünen Lande stehen große Nuß- und Olivenbäume. Wohl eine halbe Stunde lang schreitet man durch einen Wald von Olivenbäumen. Eine altmodische Türkenbrücke führt über einen Fluß mit breitem Bett und wenig Wasser. Man sieht wieder die rumpeligen, ruinenhaften Häuschen, die windschiefen Laternen, die allenthalben das Herannahen albanischer Städte verraten. Schon stehen wir mitten in der Stadt, die so lange unsere Phantasie gefangen hielt.

Elbasan!

Skutari, Tirana, Elbasan. So kann man steigern; albanisch, albanischer, am albanischsten.

Wie soll man eigentlich Elbasan beschreiben? Es gibt in unserem Gesichtskreise nichts, das damit auch nur eine entfernte Ähnlichkeit hätte. Elbasan ist ein Märchen. Oder auch eine Rumpelkammer, je nach der Auffassung. Man stelle sich vor – aber nein, das kann man sich ja gar nicht vorstellen! – einen immensen Käfig mit einigen hundert oder tausend Kisten, in deren jeder einer sitzt und einen Handel oder ein Handwerk betreibt. Die kleinen Häuschen sind so hoch, daß man mit der Hand bequem auf das mit roten Falzziegeln bedeckte Dach reichen kann. Gegen die Straße hat das Haus keine Wand. Es liegt da wie eine offene Kiste, in die man ungehindert hineinschauen kann bis ins Innerste der Behausung mit ihren intimsten Einzelheiten. Den Schneider sieht man auf seinem Tische, den Advokaten vor seiner Schreibmaschine, im düsteren Hintergrund sieht man die Schmiedefeuer brennen, man sieht den Bäcker am Backofen hantieren. Alles wickelt sich in vollster Öffentlichkeit ab. In den Gassen, die fast noch enger, winkliger und holperiger sind als in Skutari und Tirana, herrscht ein lebensgefährliches Gedränge. Es ist ein Kommen und Gehen von Pferden und Packeseln. Bauern gehen durch die Straße in weißen Lammfellmützen, mit Schuhen, die ein Konglomerat von Lumpen sind, und hausgemachten Kleidern aus rohen Stoffen, die wie Sackleinwand aussehen. Auf den Plätzen mit den Laufbrunnen ist alles dicht bepackt mit Säcken, neben denen die Landsleute sitzen und auf Kundschaft warten. Es ist allenthalben ein überwältigendes Angebot von Landesprodukten. Die Käufer scheinen indessen rar zu sein. Das Geschäft geht schlecht, aber niemand scheint sich etwas daraus zu machen Nicht mit einem Wort animiert der Verkäufer. Unbeweglich sitzt er neben seiner Ware und schaut träumend vor sich hin, anscheinend völlig gleichgültig gegen die Frage, ob er am Abend mit einer vollbepackten Ladung oder mit einer Hand voll Napoléons nach seiner Behausung zurückkehre. Warum sollte er auch? Allah ist groß und allwissend, und unabänderlich ist das Schicksal.

Noch mehr als irgendwo sonst in Albanien lebt hier ein jeder vom andern. Das ganze Leben wickelt sich ab in einem kleinbürgerlichen Kreislauf von unendlich kleinem Radius. Der Bauer bringt seinen Mais zum Schlosser und tauscht dafür eine Kette für seine Achsen. Der Bäcker ersteht sich Melonen gegen Brot, der Schneider einen Ring gegen einen Anzug, und der Schmied ein Koranbuch gegen einen Kupferkessel. Das Geld spielt keine große Rolle in diesem Kreislauf, und schon garnicht die Zeit.

Die Zeit! Sie ist hier kein Geld, kein Wertobjekt. Sie ist das billigste von allem in diesem Lande. Wie sonst könnten sie sich diese bunten Decken weben, wie sonst könnten sie die Geduld aufbringen für diese silberbesetzten Stickereien, wenn sie nicht Zeit, Zeit im Überfluß hätten?

Es gibt hier zwei Zeitrechnungen, die eine geht alla Franca, das ist unsere mitteleuropäische Zeit, die andere geht alla Turca, nach dem Monde, irgendwie. Erhaben sind sie jedoch über beide.

Und immer weiter geht der Basar. Der Tag schreitet fort, und der Abend wirft seine Schatten. Auf einem Dache steht ein Storch auf einem Bein, unbeweglich, wie ein verzauberter Kalif. Die Raben fliegen in schwarzen Schwärmen um das Minarett. Es ist alles wie ein Märchen. Da und dort sieht man noch verfallene Trümmer von Festungsmauern. Irgendwo ragt über das Gerümpel der alten Stadt ein hoher Turm mit einer Uhr, die gelassen herabschaut auf Gläubige und Ungläubige. Sie geht bald alla Turca, und bald alla Franca. Was liegt daran? Es ist niemand da, der dort hinaufschaut.

 


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