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Fünftes Kapitel.

Zwei Jahre sind vergangen.

Das Hotel Prinz Albrecht in Berlin hatte eine Attraktion bekommen.

Die junge Konzertsängerin Grenadina Nirsky hatte daselbst Wohnung genommen, um während der ersten Frühjahrssaison eine Reihe von Konzerten in der Metropole zu geben.

Der jungen Künstlerin ging ein außergewöhnliches Renommee voraus.

Aus ihrem Privatleben wurde indiskret geplaudert, daß sie eine in Habanna geborene Spanierin sei, eine Art der Seltenheit wegen überaus gefeierte blonde Schönheit, soweit das Wort Schönheit bei dem durchgeisteten, beinah überirdisch zarten Antlitz in Betracht kommen könne.

Grenadina Nirsky sei die Tochter eines sehr reichen Großindustriellen, welcher mit den bedeutendsten Importhäusern der Tabackbranche assoziert sei. – Die blonde Spanierin singt also nicht der Einnahmen wegen, sondern aus tatsächlicher Begeisterung für die Kunst und nur darum, weil ihre Gesangslehrer es durchgesetzt hatten, die außergewöhnliche musikalische Begabung und köstliche Stimme, deren Nachklang ihres gleichen kaum finden werde, der Welt bekannt zu machen!

Grenadina Nirsky sei sehr wohltätig und habe die Einnahmen ihrer Konzerte in Nizza, Remo, Cannes, Monte Carlo usw., woselbst sie zuerst mit geradezu sensationellem Erfolg aufgetreten sei, wohltätigen Zwecken zugewendet. Auch hier in Berlin beabsichtige sie desgleichen zu tun, darum sei es wohl eine angenehme Pflicht, einen derartigen Gast in Deutschlands Metropole angemessen zu empfangen. –

Ein großes herrliches Eckzimmer des Hotel Prinz Albrecht war der jungen Künstlerin als Salon eingeräumt, daneben lag ihr Schlafgemach, an welches das Zimmer der Kammerfrau grenzte.

Ein großer, ebenholzschwarzer Flügel stand inmitten des Salons, die Mamorbüste Schumann's schaute, auf einem hohen Goldbronzeständer thronend, drauf nieder und ein Bukett von duftenden Blumen, Palmen, Lorbeeren und Granatbäumen versteckte die Etagére, auf welcher die Noten der Künstlerin aufgestapelt lagen.

Grenadina Nirsky lag in einer kostbaren pelzverbrämten Matinee in einem Sessel, vor ihr auf kleinen Mamortischchen die neusten Zeitungen und ein Stoß Briefe.

Die durchsichtig weiße Hand der jungen Künstlerin ließ die Umschläge durch die Finger gleiten, die Adressen zu mustern. Ein schmerzliches Zucken ging um ihre Lippen ein leises Aufseufzen, welches in den Worten ausklang! »Wieder von Mama! Gewiß derselbe, unerquickliche Inhalt!« –

Beinah widerwillig öffnete sie den eleganten Briefumschlag.

Große nervöse Schriftzüge.

 

»Mein Kind! – So hast Du wirklich Deinen Trotzkopf durchgesetzt und Deine Karriere als Künstlerin durch die Reise nach Berlin perfekt gemacht. Ich weiß wer dahinter steckt und Dich bestärkt hat, diesen unerhörten Schritt zu tun, – Dein Vater. Was liegt ihm an der Würde eines Namens, eines Weibes! Was fragt er, der Wüstling danach, ob gar die eigene Tochter in den Sumpf taumelt und darin erstickt! Ihm ist das Laster zum Lebenselement geworden und die Kunst muß sich von ihm entwürdigen lassen, nur unlauteren Zwecken zu dienen. Ich dächte, Grenadina, Du solltest die schmutzigen Ansichten Deines Herrn Papas während der Misére unsrer Ehescheidung kennen gelernt haben! Oder machst Du es wie Deine klugen Schwestern, welche zu ihm halten, weil er ihnen die Zulage gibt? Weß Brot ich esse, deß Lied ich singe!! Nicht wahr? Von Dir hatte ich es anders gedacht. – Aber femme varie! und aus der idealen, keuschen so feinsinnigen Grenadina ist in den drei Jahren unserer Trennung vielleicht ein weniger ideales, schlau berechnendes Mädchen geworden! – Das soll kein Vorwurf sein; die Welt schreit uns ja nur allzu gellend in die Ohren: laßt uns essen, trinken und lustig sein, – denn morgen sind wir tot! – Wenn aber das Leben schön sein soll, so kostet es Geld. – Ich selber war wohl eine Närrin, daß ich die Scheidung von dem ehebrecherischen Gatten verlangte! Stolz und gekränkte Frauenwürde – (Papa spottet: Eitelkeit!!) waren bei mir aber größer wie das, was die tolerante Welt Vernunft nennt! – Ich entbehrte Dich jetzt sehr viel, muß mich einschränken und so manchem entsagen, – will ich nicht selber leichtfertig sein, spiele ich keine Rolle mehr. Ich weiß oft nicht, woher das Geld nehmen, um den kleinsten unentbehrlichen Luxus zu beschaffen. Ich lese, daß Du Deine Einnahmen verschenkst. Wie töricht, an fremdes Bettelvolk zu denken, wenn man an der eigenen Mutter erlebt, wie schnell sich das Rad des Glückes drehen kann. Aber darüber habe ich Dir keine Vorschriften zu machen, ma petite. Durch diese Zeilen soll nur das Mutterherz sprechen, welches noch immer über sein Kind wachen möchte!

Liebe Grenadine, die Laufbahn einer Künstlerin ist reich an Blumen, aber es sind viele giftige darunter. Hüte Dich vor den Männern! Ich spreche jetzt nicht als geschiedene und verbitterte Gattin, sondern als eine Frau, welche reiche Erfahrungen im Leben gemacht. Die Männer taugen nichts! – Sie sind Egoisten. Sie lieben nur sich und lügen, wenn sie von ihrer Liebe zu uns sprechen! –

Beobachte Deine Verehrer! Zuerst süße Schmeichelei, – Anbetung – bis sie glauben Eindruck gemacht zu haben, – dann werden sie frech, – schließlich gemein! – Ein Mann ist wie der andere, – traue keinem!

Das Märchen ist in unsrer zynischen Welt ein überwundener Standpunkt. Wahre Liebe gibt es nicht mehr. Wenn ich an die liebeglühenden Treueschwüre Deines Vaters denke! – Wo sind sie geblieben? – Und ich war das schönste Mädchen von Madrid! – Grenadina, denk an Deine Ehre! – Lebe nicht wie andere Künstlerinnen, halte Dir die Männer fern! Die Rosen, welche sie streuen, ersticken gar bald in ihren Dornen! – Lügen! Lügen! wenn sie den Mund öffnen, um Treue zu schwören, so lügen sie! – Denk an Deine unglückliche Mutter und ihr Schicksal! Mögen Dich alle Heiligen davor bewahren!« –


Mit tiefem Aufseufzer ließ die junge Sängerin den Brief sinken.

In ihren Augen schimmerte es feucht.

Ach die entsetzlichen Gifttropfen, welche nun schon seit Jahren in ihr Herz geträufelt wurden, um jeden Glauben an Liebe und Treue zu vergiften.

Ach wie unaussprechlich unglücklich hatten sie die trostlosen Familienverhältnisse daheim gemacht.

Das Haus des reichen Mannes war eine Hölle gewesen, deren fressend Feuer alles vernichtete, was wie Hoffnung und Vertrauen noch über die Schwelle schreiten wollte.

Das Höchste und Edelste wurde niedrig und gemein gemacht, das Reine verdächtigt, das Unschuldige durch häßlichen Argwohn in den Schmutz gezerrt.

Liebe! – Ach, die Mutter brauchte ihr kaum noch versichern, daß dies Wort nur noch wie ein leerer Wahn in dem Kopf eines Phantasten oder Narren spukt! – Wer in dem Hause ihrer Eltern gelebt und mit offenen Augen um sich geschaut und mit offenen Ohren gehört hat, der mußte gar bald jeden Glauben an wahre Liebe und Treue verlieren! –

Grenadina birgt das blasse Antlitz in den Händen und stöhnt leise auf. – Wie konnte sie nach allem, was sie erlebte, noch wähnen, die Liebe sei das Höchste, Göttlichste und Edelste auf dieser Welt?

Aus diesem süßen Kindestraum wurde sie längst von einem grausamen, brutalen Schicksal wachgerüttelt. Ihre Eltern sind geschieden, nach dem sie jahrelang in Hader, Haß und offner Fehde gelebt hatten, – und die Schwestern? Drei sind verheiratet, glücklich war keine.

Die Älteste, das Ebenbild der Mutter, läßt sich fraglos auch über kurz oder lang scheiden, jeder ihrer Briefe ist ein Ausbruch tobenden Zorns gegen den Gatten, welcher sie in allem und jedem auf das bitterste enttäuscht, – und die beiden anderen Schwestern? –

Sie erbten das leichte Blut des Vaters und trällern voll lebenslustiger Freude an Genuß und Liebesromanen: »Er gehe rechts – sie geht links … sie sagt ›Monsieur‹ – er sagt ›Madame‹ – ganz nach pariser Art!!« In der Operette »Die Lustige Witwe« (1905, Musik von Franz Lehár auf ein Libretto von Victor Léon / Leo Stein nach Henri Meilhacs Lustspiel » L'attaché d'ambassade«) singt Hanna, die weibliche Hauptfigur:

Ein flotter Ehestand soll's sein:
Ganz nach Pariser Art!
Er sagt: »Madam;« ich sag': »Monsieur,«
Ganz nach Pariser Art!
Wir lieben uns, wie sich's versteht:
Ganz nach Pariser Art!
Wo jeder seine Wege geht:
Ganz nach Pariser Art!
Ja, wenn man das Leben so auffaßt! Ohne Skrupel, ohne jede Innerlichkeit, ohne die Sehnsucht nach dem Höchsten, Besten, was uns dem Himmel am nächsten bringt! – Grenadina wird das nie und nimmer können!

Ihr junges Herz hat sich zwar resigniert in das Unabänderliche gefunden, daß es auf dieser Welt keine wahre, echte Liebe mehr gibt, aber dennoch ist es nicht verbittert und kalt geworden, im Gegenteil, ein tiefer religiöser Sinn hat desto sicherere Wurzeln darin geschlagen und je mehr sie sich bewußt ward, daß die Welt kein reuloses Glück zu geben vermag, um so heißer erwachte in ihr die Sehnsucht nach demjenigen, was sie auch hier schon einem Himmel näher bringen konnte! –

Sie hatte es nach langem Sinnen und Forschen gefunden.

Die Kunst! Die reine, hohe Kunst! –

Eine Lehrerin hat ihr als Kind ein kleines Verslein von Martin Luther in das Album geschrieben:

»Wer sich die Musik erkieset
hat ein himmlisch Werk begonnen
denn ihr erster Ursprung ist
von dem Himmel selbst gekommen,
weil die lieben Engelein
selber Musikanten sein!« –

Da schien es ihr begreiflich, daß sie so gern sang, daß ihr die Musik so lieb und heilig schien, daß eine unerklärliche, geheimnißvolle Sehnsucht nach den höchsten und idealsten Zielen dieser Kunst ihre Seele durchglühte! –

Rein und unberührt von jeder Neigung und Schwärmerei, oder gar von einem tiefen Gefühl für einen Mann, welches der Liebe glich, war sie bisher durch das Leben geschritten.

Sie hielt sich den Männern fern, scheu wie ein Kind vermied sie es, ihnen jemals Gelegenheit zu geben, sich ihr allein zu nähern. Mußte sie Menschen bei sich sehen, so geschah es nur an großen Empfangsabenden, wo aller Augen sie sahen und jedes Ohr hören konnte, was die Galanterie eines Mannes ihr sagte, – nie mehr für sie bedeutend, als eine Quittung für den Kunstgenuß, welchen sie geboten.

So war es bisher, und so wird es auch bleiben. Wem die nach dem Himmel im Herzen seufzt, dem wachsen Engelsflügel und tragen es hoch empor über die Niedrigkeit alles Irdischen.

Grenadina legt den Brief der Mutter bei Seite und nimmt sich vor, ihr einen Teil ihrer hohen Einnahmen anzubieten, dann sieht sie die anderen Schreiben durch, – geschäftliche Offerten, Anmeldung von Interviewern, sehr liebenswürdige Einladungen in Familien, welche durch Vater oder Mutter Beziehungen zu ihr haben.

Dann greift sie zu einem der Journale, will sie gelangweilt durchblättern und schaut doch aufmerksamer hin, als ihr Blick auf das Bild eines Mannes fällt. –

Ihr Auge wird größer im Schauen.

Welch ein schönes, anziehendes Gesicht.

Wer ist es?

Von Durchschnittsmenschen bringt man für gewöhnlich kein Portrait in den illustrierten Blättern.

»Aus Budapest. Zu Giöreczys neustem Höhenrekord,« steht groß gedruckt darüber.

Giöreczy? – Ah, jener Aviatiker, Graf Hubert von Giöreczy, welcher in letzter Zeit so besonders viel in Ungarn und Johannisthal von sich redenmacht!

Jählings beugt sich Grenadina herab und blickt voll großen Interesses auf das Bild nieder.

So sieht er aus? So! –

Also dieser Mann ist die Verkörperung edelsten Heldenmutes, tollkühner Waghalsigkeit und eiserner Energie im Verfolgen höchster Ziele und vollkommenster Ideale! –

Ein heißer Favorit, für welchen es keine Gefahr und kein Hindernis gibt. –

Grenadina hat schon viel von ihm und über ihn gelesen.

Er ist in Wahrheit an dem Firmament aufgetaucht wie ein Komet, die Augen der Menschen blendend und einsam in höchster Höhe auf seiner Siegesbahn dahin ziehend.

Zeppelin ist seinem stolzen beharrlichen Streben der Ansporn gewesen, – und der Schüler eifert in allem diesen unvergleichlichen Vorbild nach. –

Wie schön ist es, in dieser Zeit erbärmlicher Genußsucht noch einen Menschen zu finden, welcher die Glücksgüter, die ihm ein freundliches Schicksal in die Wiege gelegt, verachtet und sein Leben kaltblütig in die Schanze schlägt, um der Welt das Einzige zu erringen, was ihr auf dem stolzen Eroberungszug im Universum noch fehlte. – Den Sieg über die Luft! –

Grenadina denkt an die verlebten, schlaffen Gestalten der jeunesse dorée, welche in Monte Carlo und Nizza über die Promenade und durch die Säle schlichen, – kraftlose Überbleibsel einer längst vergangenen Zeit von Drachentötern und ritterlichen Kämpen, von welchen die Heldensagen singen! –

Sie hört noch aus dem Munde eines dieser modernen Lebemännern den Grundsatz klingen:

»Man lebt nur einmal in der Welt, darum heißt es diese kurze Spanne Zeit so raffiniert wie möglich ausnutzen, daß sie uns alles in den Schoß wirft, was begehrenswert ist! Auskosten bis zur Neige! Alles hineingießen in den Becher der Lust, was reizt, betäubt, berauscht und trunken macht! Wacht über euer Leben, ihr Eintagsfliegen! Hütet es vor jeder Gefahr, welche es kürzen könnte, denn ihr habt nichts anderes, wie die paar Jahre dieses Erdenlebens. – Darum verpraßt es! – Nach uns das Ende.« –

Grenadina sieht noch den Sprecher vor sich, diesen kaum dreißigjährigen Greis mit dem zynischen Lächeln und dem schleppenden Schritt, welcher bei windigem Wetter sein Haus nicht verläßt, aus Angst, es könnte ihm ein Dachziegel auf den Kopf fallen. –

Wie anders schaut der Graf von Giöreczy aus!

Dieses Antlitz, so kühn und edel, so fest und hart, wie aus Bronze gegossen. – Mit solchen Augen hat wohl ehemals der größte Eroberer über sein Reich geschaut, in welchem die Sonne nicht unterging! – Die Götteraugen einer Sonne selbst!

Wie schön er ist! Jeder Zoll ein Held, – und die moderne Welt ist so arm an Helden! Ein rücksichtsloser Draufgänger! – so hat sie einmal von ihn gelesen.

Ob er so liebenswürdig ist, wie schön?

Um die stolzen Lippen liegt ein Zug, als ob er leicht spotten könne. Wohl ein Mann, wie alle andern auch, so wie die Mutter sie warnend schildert. Ein Egoist, ein verwöhnter, eitler Liebling schwärmerischer Frauen, mit deren Herzen er spielt, wie der Knabe mit dem Schmetterling. – Grausam. –

Und doch! Grenadina blickte in tiefes Sinnen verloren auf das Bild nieder.

Gibt es einen Mann auf der Welt, den man bewundern kann, so ist es dieser! –

Man sagt: »Vom Mitleid bis zur Liebe ist bei den Frauen nur ein Schritt!« – – Möglich, aber es trifft wohl nicht bei einer jeden zu. Sehr viel richtiger müßte es wohl heißen: »Von der Bewunderung bis zur Liebe!«

Es muß wohl etwas berauschendes haben, einen Mann, der die ganze Welt unter seine Füße zwingt, wiederum so völlig von der Liebe bezwungen zu sehen, daß er seinen stolzen Nacken vor dem schwächsten beugt, was auf dieser Welt zu finden ist! – Dem Weib. – Das junge Mädchen errötet. –

Wie gut, daß all die stolzen, starken, selbstbewußten Frauen, die wahrhaften Rechtlerinnen diesen ketzerischen Gedanken nicht hören konnten!

Nein, in dieser Zeit kraftvoller Entwicklung will kein Weib mehr für schwach gelten, nur eine – eine weiß es und macht kein Hehl daraus, daß ihr zarter Körper schwach und ohnmächtig ist, wie eine Blume, – sie selbst, – Grenadina Nirsky.

Braust ein Sturm daher, so zerknickt er sie, wenn nicht ein treuer Gärtner die Hände schirmend über sie breitet. –

Ihr Blick trifft die Rechte Giöreczy's, welche am Steuer liegt.

Schlank, vornehm, anscheinend sehr gepflegt, und dennoch die Faust eines Titanen. –

Wie wohlig muß die Lilie blühen, welche sie ritterlich beschützt! –

Törichte Gedanken! –

Grenadina macht eine jähe, beinahe erschrockene Bewegung. – Was fällt ihr ein? Wie kommt sie zu der müßigen Beschäftigung das Bild eines fremden Mannes so eingehend zu besichtigen?

Sie muß üben, – es wird die höchste Zeit. Etwas zögernd wirft sie das Journal auf das Marmortischchen nieder und erhebt sich. Ihr Blick kehrt zurück.

Sie vergaß die Zeitschrift zusammen zu legen.

Die dunklen Augen schauen just in die ihren, ernst, stolz … und um den Mund zuckt es wie feiner Spott.

Er ist wirklich schön, – eigenartig schön, und ein berühmter Mann. – Die Aviatiker sind Mode geworden. – Die Frauen haben lange nach einem würdigen Ideal gesucht, für welches sie noch schwärmen können, wie Ingeborg für ihren Helden Friedjof!

Grenadina lacht leise auf. Man sollte das Lied der sehnsuchtsvollen Nordlandsmaid Die Vorgenannten sind die Hauptfiguren der ›Frithjofssage‹, die in Mitteleuropa vor allem in der Version des Schweden Esaias Tegnér (1782-1846) bekannt wurde, in Deutschland durch die Übersetzung von Gottlieb Christian Friedrich Mohnike. Diese bildet die Grundlage der Vertonungen von »Ingeborgs Klage« durch Joseph Rheinberger und Max Bruch (›Frithjof‹, Kantate nach Szenen aus der Frithjof-Sage, 1864; der Beschreibung nach liegt der Autorin diese Vertonung im Sinn). Die entsprechende Strophe lautet:

Lange gesehn
Hab' ich gen Westen das Segel hinwehn.
Darf es doch Frithjof auf weiten
Meeren geleiten!
nach neuem Muster umdichten: –

»konnt fernhin seh'n –
Tragflächen wehn –
ach sie dürfen Hubert im weiten
Luftmeer geleiten!« –

Leise klingt die Melodie von ihren Lippen.

Wie drollig das klingen muß! –

Spaßeshalber einmal probieren! – Wie komisch, daß sie gerade gestern das Lied unter den Nordlandssängen geschaut.

Die Sängerin tritt an die Etagerie und wühlt so eifrig in den Noten wie noch nie zuvor.

Ah, hier ist es!

Eine schwere, aber köstliche Begleitung!

Man hört den Sturm ordentlich brausen. Probierend greift Grenadina in die Tasten, von den Lippen klingt es leise summend, dann immer süßer, sehnsuchtsvoll inniger, – und ob auch das Antlitz lächelt wie im Scherz, der Ausdruck vertieft sich mehr und mehr, wie zu vollem Ernst. –

»konnt fernhin seh'n –
Tragflächen wehn –
ach sie dürfen Hubert im weiten
Luftmeer geleiten! …«

Und dann schweigt sie erschrocken, klappt die Noten zu und wirft sie zurück.

Ist sie von Sinnen? –

Wenn jemand gelauscht hätte!

Aber … wenn irgend möglich … sie hat noch nie einen Aeroplan fliegen sehn … es gehört wirklich zur Bildung, die höchste Errungenschaft der Neuzeit mit Augen zu schaun! … wenn irgend möglich, muß sie einmal nach dem Flugplatz Johannisthal hinaus fahren!

Sie hat sich erhoben, ist an das kleine Tischchen zurückgetreten und blickt nachdenklich wieder in die dunklen Augen, welche sie gar nicht mehr loslassen wollen.

Mechanisch greift sie zu der Papierschere, welche auf dem Schreibtisch liegt, hebt das Journal empor und schneidet das Bild des Grafen Hubert von Giöreczy heraus.

Einen Augenblick hält sie es zögernd in der Hand und wieder zieht ein rosiger Hauch über das zarte Antlitz.

Er ist ein berühmter Mann, – ist es Unrecht sein Bild aufzuheben? – Sie wird von nun an mehr Porträts von bedeutenden Männern sammeln und sich eine interessante Gallerie anlegen. Fürerst muß der Graf von Giöreczy natürlich verborgen gehalten werden.

Hier in dem silbernen Rahmen hebt sie als Rarität eine eigenhändig geschriebene Postkarte Mascagnis Pietro Mascagni (1863-1945), italienischer Komponist, mit seinen Opern neben Ruggero Leoncavallo und Giacomo Puccini einer der wichtigsten Vertreter des Verismo; seine » Cavalleria rusticana« (1890) gehört bis heute international zum Opernrepertoire. auf. – Dahinter verbirgt sie das Bild des Grafen Hubert, – aber sie rückt – wohl aus Zufall – die Vase mit dem weißen Flieder und den Tuberosen näher heran, daß die Blüten das kleine Geheimnis mit süßem Duft umwehen.


Graf Giöreczy hat ein paar Tage nach seinem sensationellen Weltrekord auf den Lorbeeren ausgeruht, – heute morgen, in frühester Stunde aber, hat er schon wieder auf dem Flugplatz in Johannisthal gestanden, sich von seiner graziösen Taube in die blaue, sonnig warme Frühlingsluft tragen zu lassen.

Sören Hallwege hat ihm zugenickt: »Sie brauchen den Apparat nicht nachzusehen, Herr Graf! Ich habe ihn Tag und Nacht nicht aus den Augen gelassen!« –

Hubert drückte ihm die Hand. »Du goldene Seele! Wie opferst Du Dich für mich auf! Wie soll ich solchen Dank nur abtragen?«

»Indem Herr Graf mich einmal als Passagier mitnehmen!« –

»Wunderlicher Gesell! Wie oft habe ich es Dir schon angeboten! Sput Dich und steig ein!«

»Danke, Herr Graf! Heute nicht!«

Hubert lacht: »Mensch, ich glaube, Du hast dennoch Angst! – Wann soll's denn losgehen?« –

Ein seltsames Glänzen in den Augen des Verwachsenen. –

»Wenn es an der Zeit ist, – dann bitte ich darum. –«

– »Sören!« –

»Herr Graf?«

»Ich beobachte Dich. Du hast ›hochfliegende‹ Pläne, Du konstruierst?!« –

Der blonde Monteur lacht verlegen.

»Den Wunsch hat man wohl frei, Herr Graf.«

»Und den Erfolg hoffentlich sicher. Darf man schon fragen? Gibt es diesmal einen Papier-Adler?«

Hallwege schüttelt den Kopf. »Ich habe noch nicht gefunden, was ich suche.« –

»Gut, ich warte es ab.«

Dann war er geflogen und als er, vom Jubel der Menge umbraust heimkehrte, stand Sören schon bereit, den Apparat seines schwärmerisch verehrten Herrn mit Argusaugen zu hüten.

Zuerst hatte man den verkrüppelten Monteur hänseln und den Grafen über solch wenig repräsentabelen Angestellten ironisieren vollen. – Das ward bald anders.

Es lag eine reizvolle Poesie in den beiden so verschiedenartigen Männern.

Der Graf, schön, keck, siegesstolz wie ein junger Gott – und neben ihm der stille, wesenlose kleine Krüppel, welcher voll schier hündischer Treue über Leben und Wohlergehen seines Chefs wachte, welcher mit begeistert leuchtenden Augen bescheiden bei Seite stand, wenn der Beifallssturm den Zurückkehrenden umbrauste, welcher Tag und Nacht bei Hitze und Kälte in dem Hangar neben der Maschine schlief, seit es bekannt geworden, daß ausländischer Neid und Bosheit es fertig gebracht, Spanndrähte anzuschneiden oder wichtige Schrauben zu lockern.

Giöreczy ruhte daheim noch etliche Stunden und nahm dann sein Frühstück, während welchem sein getreuer Sören sich einzustellen pflegte, um über den Befund der Maschine, über Tagesneuigkeiten auf dem Gebiet der Aviatik oder sonstigen Vorkommnissen auf dem Flugplatz zu berichten.

Heute hatte der Graf schon seit einer Stunde vergeblich gewartet, und wollte sich grade an den Schreibtisch setzen, um seine Teilnahme bei einem Überlandflug in Norddeutschland zuzusichern, als Sören Hallwege nach kurzem Klopfen eintrat.

Huberts scharfem Blick fiel es sofort auf, daß das sonst so ernste, gleichmäßige Gesicht seines Getreuen verändert aussah.

Einen Augenblick schaute er ihm forschend in die Augen, während der junge Mensch sich ersichtlich zwang, einer gewissen Erregung Herr zu werden.

»Na, was gibt es, Sören? Hoffentlich habt Ihr kein Kleinholz gemacht, als der Apparat geborgen ward?«

»Gott sei Dank, nein, Herr Graf, – alles in bester Ordnung.«

»Du kommst heute so spät?« –

Hallwege drehte den dunklen Filzhut zwischen den Händen und Hubert sah, daß die langen, geschmeidigen Finger bebten.

»Ich habe eine große Überraschung erlebt, Herr Graf.«

»Ah! Hoffentlich eine freudige? Du siehst wenigstens ganz so aus, als wärest Du zufrieden damit!«

Sören zog eine Zeitung aus der Brusttasche, entfaltete sie in seiner etwas umständlichen Weise und reichte sie mit der ihm eigenen, etwas schiefen Verbeugung seinem Brodherrn.

Rubrik: Kunst und Wissenschaft? – Theater? – nein? – Konzerte? – ja? – wie? – wo? – was ?! –

Sören neigte sich vor und tippte auf ein Inserat.

»Konzert der Sopranistin Grenadina Nirsky« las er mit halb erstickter Stimme.

»Ah … die Nirsky! – schöne Spanierin –!« lächelte Giöreczy ein wenig überrascht: »Bist Du denn musikalisch, Sören, daß Dich diese exotische Nachtigall interessiert?«

Hallwege räusperte sich. »Sie ist eine Deutsche, Herr Graf, – Hamburgerin, – sie wohnte mir grad gegenüber, als ich noch dort in Stellung war.« –

Wie verändert die sonst so leise, weiche Stimme des Sprechers war.

Hubert blies ein paar blaue Wölkchen aus seiner Queen und zog die Brauen hoch.

»Potz Wetter! Das ist ja eine Neuigkeit! La belle Grenadine eine waschechte Hamburgerin, kennst Du sie persönlich, Sören? – War sie dort am Theater?« –

Eine fast entsetzt abwehrende Handbewegung des jungen Mannes. »Um alles, Herr Graf! Sie ist sehr feiner, reicher Leute Kind!«

»Setz Dich! Trink ein Glas Wein mit mir und erzähl! Die Geheimnisse schöner Künstlerinnen sind immer interessant.«

Hubert lächelte seltsam und Sören war so aufgeregt, daß er sich mechanisch niedersetzte und die nervös zuckende Hand an den Fuß des Weinglases legte, ohne dasselbe an die Lippen zu heben.

So lebhaft, wie der Aviatiker ihn noch nie gesehen, berichtete der Friese von dem Hause des reichen Mannes, von allen Familienmitgliedern, zuletzt von der süßen, elfenhaft zarten Grenadina mit dem goldenen Haar und der wonnigen Stimme. Wie oft und lang er am Fenster gestanden, wie er keine größere Freude kannte, als sie zu beobachten, zu sehen – zu hören.

Und während er sprach, traten heiße, rote Flecken auf die sonst so blassen, hageren Wangen und die schwermütigen Augen leuchteten ebenso verklärt, wie in den Momenten, wo er seinen so abgöttisch verehrten Graf als umjubelten Mittelpunkt einer stürmisch begeisterten Menge sah. –

Hubert hatte das Haupt geneigt und schweigsam zugehört, nur verstohlen huschte sein Blick zu dem Sprecher herüber und der Ausdruck großen, staunenden Verstehens, gepaart mit tiefem Mitleid und Rührung verschärfte sich auf seinem Gesicht. –

Kein Zweifel, der einsame Schwärmer Sören hatte eine tiefe Neigung für das reiche, reizende Mädchen gefaßt, und wie ein derart idealer Liebestraum die Seele eines solch armen Peri's Pari, auch Peri (Plural: Paria): ein feenähnliches, geflügeltes Fabelwesen der persischen Mythologie. Paria stehen für alles Gute und Reine auf der Welt; es sind überirdische Wesen, genauer vom Himmel verstoßene Engel, die auf der Erde für Ruhe und Ordnung sorgen sollen. – Wahrscheinlich folgt die Autorin jedoch der im Deutschen üblichen Verwendung des Begriffs ›Paria‹, der innerhalb des indischen Kastensystems als Bezeichnung für Kastenlose verwendet wird, also übertragen gesellschaftlich Gemiedene, Ausgestoßene bzw. Außenseiter bezeichnet. mit voller Leidenschaft erfaßt, sah er aus jeder Miene und jeder zuckenden Bewegung des verkrüppelten Mannes.

Er beherrschte sich aber und blieb anscheinend völlig harmlos.

»Das ist wirklich viel Dusel, Sören! Gäben wohl gar viele etwas darum, die jetzt so gefeierte Sängerin so manch liebes mal gratis gehört zu haben, wie Du! – Selbstredend wirst Du heute Abend in das Konzert gehen?« –

Hallweges Augen strahlten. »Das kann ich unmöglich versäumen, Herr Graf! Ich muß doch klatschen, – habe auch schon ein paar andere Monteure flott gemacht und ihnen Billetts geschenkt, damit sie auch applaudieren und der Erfolg ein so recht großer wird! – Der Herr Graf werden doch hoffentlich auch nicht fehlen?!« –

Hubert lachte hell auf. »Mensch, bist Du ihr Impresario, daß Du so eifrig wirbst? – Ich bin zwar sehr wenig kunstverständig, so zu sagen ein musikalisches Ungeheuer, und fürchte, daß ich die Vorträge dieser holden Grenadina nicht so enthusiastisch auffassen werde, wie Du! Wenn Du aber überzeugt bist, Sören, daß meine zwei Fäuste ihr ein Dutzend Lorbeerblätter mehr garantieren, so werde ich selbstredend zur Stelle sein. Wenn Du weißt, wo die Billetts zu haben sind, besorg mir ein's auf dem Heimweg!« –

»Ich weiß es, Herr Graf, – ich sorge für einen guten Platz!« versichert der Monteur und dankt seinem Chef durch einen wahrhaft anbetenden Blick. »So schönen Gesang muß ein Jeder verstehen und bewundern, und ich denke, es wird ein köstlicher Abend für Sie!« –

»Sie, klein – oder groß geschrieben?« scherzt der gräfliche Aviatiker.

»Beides, Euer Gnaden« – das klingt sehr treuherzig überzeugt und Hubert faßt das Glas: »Darauf wollen wir anstoßen! Es wäre wohl an der Zeit, wenn die holden Musen auch aus mir als einem

Saulus einen Paulus machten!!« – –



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