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Viertes Kapitel.

Der Märzenschnee deckte das Grab des Klaus Raßmussen zu und die Blumen der Kranzspenden erfroren über Nacht.

Eiskalt fegte der Wind über die Heide, die Raben saßen frierend auf dem Dachfirst des Hauses und plusterten das Gefieder auf, daß sie wie runde, schwarze Klumpen gegen die vereisten Ziegeln abstachen.

Der Winter war in diesem Jahre spät gekommen, nun holte er's nach und blieb über die Gebühr im Land.

Im Ofen prasselte das Feuer und auf dem Tisch neben der brennenden Lampe dampften die Punschgläser.

In dem Lehnstuhl saß ernst und nachdenklich der junge Graf von Giöreczy und ihm gegenüber, bescheiden und still Sören Hallwege, welchem der neue Besitzer des Heidehofes gesagt hatte: »Du bleibst bei mir Sören! Ich bin ganz allein in dem großen Hause, es ist gut, wenn man sich die Seele zu einem Getreuen frei sprechen kann!« –

Da leuchtete es wieder wie verklärt in den melancholischen Augen des verwachsenen Burschen auf und er verneigte sich dankend und sprach: »Der Herr Graf haben über mich zu befehlen.«

»Nein Sören!« schüttelte Hubert freundlich den Kopf. »Ich bitte Dich, mein Gast zu sein.«

Nun war die Beisetzung vorüber, – eine nur sehr kleine, stille Feier, denn Weg und Steg war eingeschneit und außer dem Doktor kam niemand aus der Stadt.

Antje hatte das Abendessen gerüstet, nun saß sie wieder mit den beiden andern Mägden in der Küche und spann wie gewohnt den groben Faden selbstgeschorener Wolle, – aber auf den Wangen lag es herb und ernst, wie von rinnenden Tränen, und keines sprach ein Wort.

In der Stube klangen die Stimmen auch leise und gedämpft.

Hubert strich mit der schlanken, weißen Hand die dunklen Haarwellen aus der Stirn und tat einen Zug an der Zigarre.

»Ich habe Dich die letzten beiden Jahre etwas aus den Augen verloren, mein guter Sören« sagte er mit leichtem Aufseufzen, »es gab wenig freie Zeit auf der Universität, und zum Briefschreiben hatte ich niemals viel Papier. Ich ritt, jagte, fuhr, paukte auf dem Fechtboden, tanzte und kneipte, kurz ich liebte alles, – nur nicht Feder und Tinte. – Da mußt Du mir schon mündlich erzählen, wie es Dir ergangen ist und wie Du Dir die Zukunft zurecht gelegt hast!«

Sören ruckte sich etwas empor. – Er war einfach, aber sehr anständig gekleidet, seine schiefe Hüfte war zwar noch sichtbar, aber nicht so auffällig, wie ehemals bei dem humpelnden Kind. Das blasse, schmale Gesicht mit dem fast weißblonden Bärtchen wirkte klug und sympathisch, die Augen schauten sehr ernst, die Manieren waren die eines intelligenten Großstädters, sein Wesen bescheiden und ruhig.

»Das ist wohl schnell berichtet, Herr Graf. Dank der freigebigen Güte Ihres Herrn Großvaters, konnte ich in der Kunstschlosserei so viel lernen, daß ich seit ¾ Jahren eine Anstellung in einer unserer ersten Dampfmaschinenfabriken von Böng & Radler erhalten habe. – Ich hätte mich vielleicht selbständig machen und eine Schlosserei auftuen können, aber ich hatte noch keine Ruhe zum Stillsitzen, alles Maschinelle interessiert mich auf das lebhafteste, die Autos hatten es mir derart angetan, daß ich am liebsten Monteur geworden wäre …«

»Nun, und warum wurdest Du es nicht?« fragte Hubert mit lebhaftem Aufblick.

Ein feines Zucken heimlichen Wehs ging um Sörens Lippen.

»Man nahm mich nicht, Herr Graf. – Weil ich verwachsen bin, traute mir niemand die nötige Kraft zu.«

»Aber Du hast sie?«

Der junge Mensch hob den Arm und spannte die kräftigen Muskeln an.

»Ich glaub's schon, Herr Graf! Aber keiner mochte es mit mir probieren, – es war ein so hohes Angebot von frischen, gesunden Leuten.«

»Hm – noch ist nicht aller Tage Abend. – Es ist wunderlich Sören, daß wir beiden noch dieselben gleichen Passionen haben, wie ehemals als Kinder. Ja die Autos! Der Großvater hat's nie geahnt, wie leidenschaftlich ich gefahren bin! Trainirt habe ich mich Tag und Nacht in dem Gedanken: sowie Du mal frei bist und tun und lassen kannst, was Du willst, wirst Du Rennfahrer! Just das sagt mir zu! Das paßt für mich! So dahinbrausen auf seinem Stahlroß und die Titanenkraft von hundert Pferdestärken mit einem leisen Zuck des Fingers bändigen und zügeln können. – Das reizte mich zu tollem Wagemut! – Dennoch …« –

Der junge Graf schwieg und blies mit seltsamem Lächeln ein paar blaue Dampfwölkchen in die Luft.

Sören hatte mit leuchtendem Blick das junge, leidenschaftliche Antlitz seines Spielgenossen umfaßt, er hob jäh den Kopf. »Nun … und dennoch …« wiederholte er gespannt.

Hubert seufzte voll Humor: »Ich muß eine sehr treulose Natur sein, – ich verlasse ein Liebchen um des Andern willen. Sören!« – er neigte sich jäh vor und legte seine Hand mit festem, beinah ungestümem Druck auf den Arm des Genannten: »hast Du es nicht in den Zeitungen gelesen, daß unsere Kinderträume Wahrheit werden?«

Hallwege atmete auf wie einer, der endlich zu seinem Recht kommt. Auf diese Frage hatte er schon seit dem Augenblick gewartet, wo er Hubert Giöreczy vor der Tür des Heidehauses gegenüber stand.

Er lächelte und nickte. »Und ob ich es weiß, Herr Graf! – Wollte da nur nicht vorgreifen! Was aber die Gebrüder Wright in Amerika geschaffen und die verwegenen Kerls Latham und Blériot in Frankreich auf ihren kleinen Wundervögeln vollführen, das hat mir Tag und Nacht im Kopf herum gespukt! – Wie gern hätte ich mal an den Herrn Grafen darüber geschrieben.«

»Es sollen Heldentaten sein! – Glaub mir, das ist das rechte Wort!« klang es hell wie stolzer Jubel von den Lippen des Grafen, er sprang empor und maß mit erregten Schritten das Zimmer. »Heldentaten! – ja Sören, es gehört Mut und Schneid dazu, sich ein paar Stäben und Stofflappen, sich einem unberechenbaren, launenhaften Motor anzuvertrauen und in schwindelnde Höhen empor zu steigen! – Das Unglaubliche, unmöglich gedachte ist erreicht! – Der Mensch, welcher Feuer, Wasser und Erde beherrscht, er streckt die Hände gebietend aus und auch die Luft beugt sich den Götterfunken von Wissen, Mut und Energie, welche sich vereinten, um auch dieses Elementes Herr zu sein! – Sören! gibt es etwas Gewaltigeres, als einen Menschen, welcher aus eigener Kraft die Gesetze der Natur durchbricht, sich die Schwingen des Adlers erzwingt und siegreich empor steigt zur Sonne? – Wo ist nun noch ein ungelöstes Rätsel, welches uns die Geisterhand entgegenreckt und befiehlt: bis hierher und nicht weiter?« –

Das Haupt Hallweges sank plötzlich schwer zur Brust. »Dieses Rätsel wird ewig bleiben, Herr Graf, – es ist der Tod.« –

Einen Augenblick herrschte tiefe Stille, dann schüttelte Hubert mit wundersamem Leuchten im Blick den Kopf »Für ein gut Gewissen ist der Tod weder Rätsel noch Schrecken, ich fürchte ihn nicht, Sören, denn er durchkreuzt wohl in entscheidendem Augenblick den waghalsigen Plan eines Menschen, – aber ihn selber besiegt er nicht! Der Tod ist des Sieges Ende, Sören, wir aber wollen von dem Anfang sprechen! Jedes Ding auf der Welt findet zum Schluß diesen Gebieter, welchem aber frommer Glaube die Macht genommen, welchem er sich beugen mußte, dazwischen jedoch liegt noch ein Anderes: Erfolg! Ehre! Gelingen! und hat ein Mensch auf dieser Welt all dieses erreicht, nun ich dächte, dann müßte selbst des unersättlichsten Himmelsstürmers Sehnsucht erfüllt sein!«

Hubert hatte voll flammender Begeisterung gesprochen, sein edles, schönes Antlitz färbte sich höher und die dunklen Augen blitzten! – Sören nickte langsam und bedächtig. In seinen Augen spiegelte sich ein fremdes Erwägen und Prüfen:

»Gewiß, so ist es, wenn eben die Sehnsucht nur dem Triumph gilt, etwas erreicht zu haben, wonach die Menschheit seit Jahrhunderten vergeblich strebte!«

Hubert blieb vor dem Sprecher stehn und blickte erstaunt auf den schiefen Körper nieder, welcher mehr und mehr in sich zusammen sank.

Die schlanke, elastische, jugendkräftige Gestalt des Grafen reckte und dehnte sich desto höher: »Dem Triumph! natürlich! Gibt es etwas begreiflicheres für einen Mann, als den Wunsch, seinen Namen unsterblich zu machen?«

Ein wunderlich ernster Blick traf ihn: »Mir deucht dieser Wunsch zu bescheiden!« sagte Sören schlicht. »Er erstreckt sich nur auf ein paar Zeilen oder Blätter in der Weltgeschichte, welche vergehen werden wie alles andere auch. Solch ein Horizont ist aber zu eng für die unermessene Freiheit der Sehnsucht.«

»Mensch! Hast Du das irgendwo gelesen?«

»Nein, Herr Graf. Wenn man so stundenlang still sitzt und nur mit den Händen zu basteln hat, dann macht man sich so seine eigenen Gedanken.«

»Dem Anschein nach recht philosophische.« Hubert setzte sich wieder auf seinen Sessel nieder und rauchte ein paar schnelle Züge an seiner Zigarre. »Es ist merkwürdig, Sören, wie sehr wir harmonieren. Muß wohl in der Luft der Heideeinsamkeit gelegen haben, – die uns beide groß gesäugt. – Ja der Triumph: er muß etwas berauschendes haben und wenn ich ihn mir in all seinen Phasen ausmale, so möchte ich überzeugt sein, daß er die Sehnsucht, diese unerklärliche Unruhestifterin des Menschenherzens, voll und ganz stillen kann. – Dennoch kommt auch mir oft ein blitzartiger Zweifel. – Das, was uns der triumphierende Erfolg gibt, ist das Kreuz der Ehre oder ein Denkmal von Stein und Erz, beides aber ist kalt, – und ich denke, wahres Glück muß Herz und Seele wärmen.« – Eine kurze Pause, Sören nickt wie in tiefem Nachsinnen und Graf Giöreczy hebt jäh sein schönes Haupt und lächelt: » Qui vivera, – vera!«

»Ja, ja, wer lebt, wird's sehn!«

Hubert ist überrascht. »Sprichst Du französisch, Sören?« –

Das blasse Gesicht verändert sich kaum: »Ja Herr Graf, ich hatte Lust und Zeit ein wenig englisch und französisch zu lernen, denn ich dachte: das schadet keinem Menschen! und wenn man die Welt sehen will, muß man sich verständigen können.«

»Sehr recht. – Du willst die Welt sehen?« –

»Ich hatte den hochfliegenden Plan, auch mal in Fabriken des Auslandes zu arbeiten, am allerliebsten in einem Hangar, um mal solch ein Wundervöglein mit Augen zu schauen, wie ich es ehemals mit meiner Papiertaube im Traume geahnt habe!«

»Sören!«

»Herr Graf?«

Hubert neigte sich näher und streckte Dem jungen Mann die Hand entgegen. »Willst Du mich begleiten, Du treue Seele?«

»Durch Wasser und Feuer, Herr Graf.« Das klang sehr einfach, aber in dem Blick, welcher voll leuchtender Begeisterung auf dem schönen Antlitz Giöreczy's haftete, lag ein schier feierlicher Schwur.

»Ich habe noch keiner Menschenseele von meinen Zukunftsplänen gesprochen, – Du sollst der Erste sein, Sören, und wirst vielleicht der Einzige bleiben. Ich beabsichtige den Heidehof hier zu verkaufen und der Agent, mit welchem ich heute Vormittag sprach, weiß bereits zwei Reflektanten, die ein tüchtiges Stück Geld für das brillant bewirtschaftete Gut anlegen können.«

»Sehr recht, Herr Graf. Ich dachte es mir schon. Das Heidehaus hat keinen Raum für Himmelsstürmer!«

Ein feines Lächeln huschte um die Lippen des Sprechers und Hubert's weiße Zähne blinkten ebenfalls durch den dunklen Schnurrbart.

»Ich bin der Nationalität nach ein Deutscher, aber mein Blut, Namen und Temperament sind so echt ungarisch, wie die Uniform, welche mein Vater getragen, Deutsche und Ungarn sind Brüder. Ich habe Sehnsucht danach, meine eigentliche Heimat einmal mit Augen zu schauen, mein schönes, stolzes Vaterland, welches uns viele Heldensöhne geschenkt hat, zu Wasser und zu Land, warum nicht auch in der Luft? Deutsch-ungarisch ist das rechte Gemisch dazu, Osterreich als drittes im Bunde!«

»Sie reisen nach Budapest, Herr Graf!«

»Du sagst es, mein guter Junge. Und was denkst Du, was ich dort will?«

»Der Beweis für diesen Bund von Heldensöhnen werden?!«

»Ich danke Dir für das Vertrauen, welches Du in mich setzt! Versuchen will ich es auf alle Fälle, nun und ich denke, was ein Giöreczy sich einmal voll glühender Begeisterung als Ziel gesetzt, das erreicht er auch.«

»Sie haben alles genügend bedacht, Herr Graf? Auch die Gefahr, – die große, sehr große Gefahr, welche den Piloten mit jedem Lufthauch droht?« –

»Grade die reizt mich an, es zu zeigen, daß ich keine Gefahr kenne!«

»Sie sind ein reicher, vornehmer, schöner Mann, Herr Graf. Die Welt mit allem, was sie an Glück und Freude bietet, steht Ihnen offen! – Ich möchte Ihnen dies sagen, weil kein Berufener mehr an Ihrer Seite steht, es zu tun!«

Ein warmer Händedruck.

»Ich danke Dir Sören; Du meinst es treu. Hast Du von Graf Zeppelins Persönlichkeit gehört?«

»Nur das landläufige. Er war reich, ist hochgeachtet, sehr liebenswürdig.«

»Und gehört einer der vornehmsten Familien Deutschlands an. Er leitet jede Probefahrt seines Luftschiffes persönlich!«

»Hut ab vor seiner Selbstverleugnung.«

»Soll ich ihm nachstehn? Er opferte auch sein Vermögen.«

»Nein, Herr Graf.«

»Ich hoffe, sein Mut und Gottvertrauen werden meine Lehrmeister!«

»Dann wird er Freude an seinem Schäler erleben!« –

»Hoffen wir es! Und Du begleitest mich Sören? wenn Du willst, als mein Mechaniker! ich lasse Dich in einer der Fabriken, bei Rumpler oder Focker in Johannisthal unterrichten.«

»Herr Graf!!« – wie ein halb erstickter Jubelschrei klang es, ebenso wie damals als Kind, als Hubert ihm die Papiertaube reichte und sprach: »Sie gehört Dir! Du läßt sie fliegen!« »Einverstanden, Sören?« –

Er bot die Hand entgegen und der blasse, verwachsene Mensch umkrampfte sie bebend mit seiner Rechten.

»Wenn alle Sehnsucht so gestillt wird, wie diese, so ist es in Zukunft gut um uns bestellt!« murmelte er, und dann blickte er in das Auge des Jugendgespielen.

»Sie sollen mit mir zufrieden sein, Herr Graf, – das gelobe ich.« –


So einsam das Heidehaus in seinem tiefen Schnee auch lag, so wenig langweilig gestalteten sich die nächsten Tage und Wochen für den Erben des Klaus Raßmussen.

Da gab es erstlich viel spannende Momente, bis der Verkauf des Gutes mit einem Bremer Großkaufmann perfekt geworden war. Es geschah unter den günstigsten Bedingungen, ward beinah bar bezahlt und Hubert Giöreczy konnte ein beträchtliches Vermögen auf der Bank deponieren, welches ihn von allen Launen eines ungnädigen Schicksals unabhängig machte.

Dann galt es, den Haushalt aufzulösen und dasjenige Inventar, auf welches die fürstlich elegante Frau Kommerzienrat verzichtet hatte, als Geschenk unter die Bedürftigen des Gutshauses, die Hofgänger und Armen des Dorfes zu verteilen.

Fremde Baumeister und Ingenieure kamen, um den neuen, schloßartigen Villenbau, welchen der Heideschwärmer für sein buen retiro in der blühenden Erika plante, auszumessen und vorzubereiten. Die Herren waren selbstverständlich Gäste des jungen Grafen.

Überraschend schnell kam der Tag, wo Hubert sein schickes Handgepäck parat stellte, um es auf die alte, gemütliche Postchaise bringen zu lassen, welche noch immer unverändert durch den tiefen Sand quitschte, wie ehemals, als Leutnant Lajos ein so unfreiwilliges Quartier in dem einsamen Heidehaus nehmen mußte. Wie man aber in dem nahen Städtchen erfuhr, waren auch die Tage der großväterlichen Postkutsche gezählt.

Da die tonangebenden Maler die Heimat mit ihrem schwermütigen Zauber so modern und beliebt gemacht, daß überall, gleich wie in Worbswede die Künstler ihren Einzug hielten, Villenkolonien und Villen im Stile Kalkreuths erstanden und ein Strom reiselustiger In- und Ausländer sich in das Reich der Vergessenheit ergoß, plante eine unternehmende Aktiengesellschaft, regelmäßige Motorverbindungen zwischen den einzelnen Heidedörfern und Städtchen am Rande derselben anzulegen.

Dann sank auch hier das Alte, – die Zeit änderte sich, und unter dem gewaltigen Atem eines Frühlingssturmes wuchs neues Leben aus den Ruinen, das Leben, welches titanenhaft in dem Motor pulsiert und elektrische Funken aufblitzen läßt, gleich einem Ungewitter, welches wohl niederbrechend, aber auch neu befruchtend und gestaltend am Horizont empor zieht. –

Hubert Giöreczy stand harrend vor dem Heidehaus und blickte noch einmal mit wehmütigem Blick hinaus über das flache, morgendämmernde Land, welches vor Jahren den kleinen Fremdling aufgenommen und ihm Heimat gewesen war.

Noch einmal zog die Erinnerung an ihm vorüber. Sein Blick haftete voll wehmütiger Zärtlichkeit auf dem Fenster, hinter welchem das blasse, so herzensgute Gesicht der Großmutter über den Liebling gewacht, – er flog hinauf zu dem blaßfarbenen Himmel, an welchem ehemals ihre Papierdrachen geflogen waren.

Blutrote Strahlen flammen glühend im Osten empor und tauchen Himmel und Erde in ein Meer von Licht.

Die aufgehende Sonne.

Wie ein Jauchzen zittert es durch die Seele des jungen Mannes.

Er möchte die Arme ausbreiten und sie grüßen die ferne, heiße, göttliche Geliebte, zu welcher ihn eine unbezwingliche Sehnsucht empor treibt. –

Bei ihr wohnt das Glück! – Hinauf!!


In der Großstadt schläft das Leben niemals so völlig ein, daß es still wird.

In Hamburgs Adern klopft und zirkuliert ein heißes Blut, das läßt die Gewaltige keinen Schlummer finden.

Sören Hallwege hat seine wenigen Effekten gepackt und steht mit der kleinen Reisetasche vor der Türe seines Hauses und wartet auf die Elektrische.

Der Wind weht frisch daher, aber er achtet es nicht. Er grüßt zum letztenmal in Gedanken sein kleines Mansardenstübchen in welchem er manch stille, friedliche Stunde verlebte.

Er liebte dieses so kleine, enge, schräge Kämmerchen mehr, wie die geräumige schöne Stube, welche man ihm in der Fabrik angeboten, denn es lag in einer vornehmen Straße Hamburgs, wo sonst kleine Leute keinen Platz haben. Ihm war es durch einen Zufall geworden, und weil Sören ein Idealist war und sich nach guter Gesellschaft sehnte, so fühlte er sich in der kleinen Mansarde glücklich, weil sie eine elegante Villa krönte.

Gegenüber lag das herrschaftliche Haus eines reichen Zigarrenfabrikanten, welcher erst seit zwei Jahren aus Habanna nach Deutschland zurückgekehrt war, um in der Heimat des erworbenen Geldes froh zu werden. –

Sören hatte ihn oft gesehen, wenn er in das Auto oder die Equipage stieg, den kleinen, rundlichen Lebemann mit den zwinkernden Augen und dem kahlen Kopf. – Er kannte bald alle, die in dem reichen Hause wohnten, denn Sören stand in den Musestunden gern am Fenster und schaute hinüber, fürnehmlich abends, wenn schon die Birnen des elektrischen Lichts aufflammten und die Diener keine Eile hatten, die Gardinen vorzuziehen.

Da herrschte neben Herrn Johann Adolph Nirsky seine schlanke, stolze Gemahlin Mercedes, mit schwarzen Augen und dunklem Haar, eine geborene Spanierin, welche – wie man in der Straße erzählte, ebenso heißblütig, wie launenhaft und unliebenswürdig sein sollte. –

Ihr Ebenbild, eine Tochter, hatte vor etlichen Monaten einen Offizier geheiratet, die Hochzeit war das ungeheuerlichste Schauspiel, welches Sören je gesehn, er war sogar dazu in die Kirche gegangen, nicht um all der geputzten Menschen willen, – eigentlich wollte er nur eine Einzige sehn, die jüngste Tochter des reichen Mannes, welche er täglich in ihrem Zimmer beobachtete.

Zuerst sah er sie, anscheinend nach einer Krankheit, im Sommer auf dem Balkon.

Sie ruhte im bequemem Liegestuhl, das lange, wundervoll schimmernde, goldblonde Haar offen niederhängend, die lilienschlanke Gestalt im weißen Spitzenkleid, – wie eine Heilige anzusehn. –

Das Gesichtchen war so zart wie ein Blumenblatt und die großen, blaugrauen Augen hatten seltsamen Glanz, wie bei einer Weinenden oder Fieberkranken.

Sören Hallwege fühlte sich wunderbar ergriffen von dem Anblick des jungen Mädchens. Stundenlang stand er am Sonntag oder nach Feierabend am Fenster und hatte bald erspäht, welches Zimmer das ihre war.

Da sah er sie oft, meist in weiche Seidenschals eingewickelt, als fröre sie, und das goldene Haar über den Rücken flutend, als belästige sie die hohe Frisur. – Bald entdeckte er auch, daß sie sang.

An sehr warmen Sommerabenden stand die Balkontür manchmal offen, dann sah er sie wie eine Engelsgestalt am Klavier sitzen und hörte eine Stimme, so zauberhaft schön wie Glockenklang, daß ihm die Tränen in die Augen traten.

Wie gern hätte er mehr von ihr gewußt. Aber er war ein einsamer Mensch, sprach selten mit den Leuten und wähnte auch, alles Blut müsse ihm verräterisch in die Wangen schießen, wenn er nach der blonden Tochter des reichen Mannes fragen wollte.

Der Zufall kam ihm zu Hilfe. Er hatte mit Überstunden gearbeitet und kehrte nachts heim, da stand der Chauffeur an der Haustüre der Villa Nirsky und tobte, weil er den Schlüssel vergessen hatte. – Sören bot als Schlosser seine Hilfe an, und derweil er das Schloß öffnete, erfuhr er, was ihm so interessant war.

Fräulein Grenadina hatte wieder einen so bösen Hustenanfall bekommen, daß er zum Doktor gejagt wurde. Gefährlich? Nein! Das ist's nicht, das Mädel ist so zart nach der Lungenentzündung geblieben und der Klimawechsel zwischen Habanna und Hamburg taugt ihr nichts. Den Winter muß sie natürlich nach dem Süden. – Daß sie so blond ist? Na, der Alte ist ja Deutscher und war als Bengel strohgelb, nur die Madame ist Spanierin und von der hat sie glücklicher Weise nichts, wie den schönen Namen! – Oder doch! – Ja, man sagt, Madame könne auch so schön singen, sie sei jetzt nur zu faul und übellaunig dazu. Aber Fräulein Grenadina trillert dafür desto lieber, viel zu viel, sagt der Doktor. Aber da läßt sich nichts machen. Die Musik ist nun mal ihr Alles! Wenn sie's nur körperlich aushält, es könnte einem leid um das liebe, freundliche Ding tun. – Dann war die Türe offen und der Chauffeur wunderte sich, daß er nichts dafür bezahlen brauchte.

Sören aber kam es vor, als habe man ihm Millionen geschenkt. – Nun wußte er alles, was not tat. Grenadina hieß sie! Seltsam, – aber so schön, so apart wie das Mondscheinelfchen selbst. Sie war leidend, viel einsam dadurch – ganz wie er. Ihm schien's, als sei dies ein heimliches Fädchen, welches ihn mit ihr verband.

Grenadina! – Sein Traum, sein stilles, ideales Glück. – Sie steht ihm fern – fern wie der große, leuchtende Abendstern am Himmel, und Sterne, die begehrt man nicht. – Als Sören aber mit der Reisetasche steht und nach ihrem Fenster hinauf schaut, zum letzten Mal für immer, da wird es ihm doch so weh um's Herz, als solle es brechen. Sie weilt noch im Süden, ihr Zimmer ist dunkel. Da schreit seine Sehnsucht auf: »Gebt mir Taubenflügel, daß ich empor zum Himmel fliegen kann, wo solche Engel wandeln!«



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