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IV.

Der Schuß im Zimmer des Fürsten hatte die Mittagsruhe von Miskow weithin durchhallt und eine außerordentliche Wirkung hervorgerufen. Von allen Ecken und Enden stürzte die Dienerschaft in wildem Schreck herzu, ein gellendes Angst- und Jammergeschrei, ein Flüchten und Zuhilfespringen, und zwischendurch klangen die Befehle des Arztes, welcher neben dem Sterbenden kniete und das blutüberströmte, entsetzlich entstellte Haupt auf ein Kissen bettete.

In der großen, planlosen Verwirrung hatte niemand auf den kleinen Daniel geachtet, welcher seinem davoneilenden Gouverneur durch die offenstehenden Türen gefolgt war.

In die düsteren Wollfalten des Vorhanges gedrückt, welcher vor seiner Mutter Bild herniederfiel, stand die schwächliche Kindergestalt und klammerte sich an das schwarze Tuch. Voll stieren Entsetzens richteten sich die weitaufgerissenen Augen auf das grauenvolle Bild, welches sich ihnen bot, die Zähne schlugen wie im Schüttelfrost zusammen und durch alle Fasern und Nerven kroch ein eisiges Grauen und legte sich wie Zentnerlast auf die kleine Brust.

Einen furchtbaren, unauslöschlichen Eindruck machte der Eindruck des schwerverwundeten Vaters auf Daniel, und gleichsam als habe sich die klaffende Wunde in sein eigen Haupt gerissen, litt des Kindes Seele selber jenes Todesweh, welches den erbleichenden Lippen des Sterbenden die letzten Seufzer auspreßte.

Endlich bemerkte eine der helfenden Frauen den verwaisten Knaben. Sie sprang herzu, hob ihn erschrocken auf die Arme und eilte mit ihm aus dem Zimmer. Wie gebrochen sank das häßliche, unförmige Köpfchen auf ihre Schulter, kein Laut der Angst oder des Schreckens klang aus Daniels Mund, aber aus seinen Augen brachen Tränen, bittere, heiße Tränen, die ersten, welche er je geweint, wenn nicht ein eigener, körperlicher Schmerz ihm feuchte Perlen an die Wimpern getrieben.

Ja, er war ein eigenartiges Kind, »mein kleiner Schmerzensreich« hatte ihn seine Mutter oft genannt, wenn seine wehmutsvolle Geduld sie mit Rührung erfüllte.

Unter dem Bild seiner verewigten Gemahlin hatte man den Fürsten, der in einem Anfall von Geistesstörung Hand an sich gelegt, gefunden, und vor dem verhüllten Gemälde war er auch wenige Minuten nach seiner Verwundung verstorben.

Auf dem Schreibtisch lag ein offener Brief, welcher die einzige Anverwandte Sobolefskois, die Stiftsdame Gräfin Kathinka Arlowsk, zur Regelung seiner Angelegenheiten und Erziehung seines Sohnes nach Miskow berief; ferner ein versiegeltes Schreiben an des Zaren höchsteigene Person, sowie ein Verzeichnis der ausländischen Banken, welchen er zwei Tage zuvor bare Summen aus seiner Schatulle übersandt.

Die Leiche des Kammerherrn ward an derselben Stelle, wie ehemals das Bild seiner Gemahlin, in der Schloßkapelle aufgebahrt, und als der Reisewagen der Gräfin Arlowsk nach zehn Tagen durch das hohe Portal fuhr, lohten ihr die Pechbrände auf den Steinsäulen entgegen, rauschten über ihr die schwarzen Trauerflaggen im Herbstwind.

Gregor Sobolefskoi war in dem Erbbegräbnis beigesetzt. Sein Testament, in welchem sich der Totenschein der Fürstin vorfand, der auf Wunsch des Kammerherrn gerichtlich verwahrt werden sollte, wurde verlesen, die ausgeschriebenen Legate und Erbschaften gezahlt, die Vormundschaft ernannt und alle weiteren Wünsche und Befehle des Verstorbenen erfüllt.

Gräfin Arlowsk siedelte nach Miskow über, und alles nahm seinen gewohnten, unter den Augen der Stiftsdame streng geregelten Gang.

Mit energischen Händen und einem männlich klaren Verstand verwaltete sie das Eigentum ihres verwaisten Neffen, regierte den wie eine kleine Kolonie bevölkerten Schloßbesitz mit all jener imponierenden Übersicht, welche Sobolefskoi und Eglantina gemangelt hatten, und rodete voll rücksichtsloser Energie alles Unkraut, welches sich während der letzten, herrenlos wirren Zeit unter den Weizen geschlichen hatte.

Gräfin Arlowsk war eine hohe, markige Frauengestalt, welcher die langwallenden Trauergewänder ein geradezu majestätisches Ansehen verliehen. Ihre Haltung hatte etwas Selbstbewußtes und Unnahbares, ihr Wesen flößte viel Respekt, aber keinerlei Zuneigung ein. Kalt und durchdringend scharf blickten die blaßblauen Augen, und die Lippen legten sich so farblos schmal auf die Zähne, daß es aussah, als würden sie stets voll herben Unwillens geschlossen. Unter dem Kreppschleier schmiegten sich glatte Haarscheitel, von Silberfäden durchzogen, an die Schläfen, und auf der Brust glänze die schwere Goldkette, welche das Stiftskreuz, ein aus Gold und Eisen gearbeitetes Kruzifix, trug.

Die Gräfin hatte den kleinen Daniel sofort nach ihrem Eintreffen in Miskow zu sehen gewünscht. Man antwortete ihr, daß der Knabe, welcher seit den letzten Tagen wiederholt Anfälle seines asthmatischen Leidens gehabt, schlafe. Sie nahm den hohen Silberleuchter, welcher auf ihrem Toilettentisch stehend brannte, und befahl der Kammerfrau, ihr den Weg zu dem Zimmer des Kindes zu zeigen. Vor seinem Bettchen stand sie, schlug die seidenen Gardinen zurück und beleuchtete den kleinen Schläfer. Eine kurze, scharfe Musterung, bei welcher ihre Züge so hart aussahen, als seien sie aus Stein gemeißelt.

»Wem gleicht er? Vater oder Mutter?«

Die Bonne knixte. »Das ist schwer zu sagen, gräfliche Gnaden; eigentlich ähnelt er beiden Eltern nicht. Durchlaucht die Fürstin war sehr schon und ihr Gemahl schien es in der Jugend ebenfalls gewesen zu sein. Der kleine Fürst ist wohl durch seine Kränklichkeit noch zu unentwickelt, um irgendwelche Spur von dem Erbteil dieser Schönheit aufweisen zu können, doch gibt es eine alte Regel, welche verheißt: »Was als Raupe geboren wird, steigt als glänzender Schmetterling dereinst zum Himmel!« und das Fräulein lächelte dabei so höflich wie möglich und knixte abermals.

 

In demselben Moment schlug Daniel, von dem Lichtschein und den Stimmen geweckt, die Augen auf und richtete sie mit ihrem traurigen, tränenfeuchten Glanz aus das fremde Gesicht, welches sich über ihn neigte, »Daniel, deine liebe Gräfin Tante sieht vor dir, begrüße sie und gib ihr eine Hand!«

Gehorsam hob sich die kleine Rechte ans dem Kissen und bot sich dar.

Die Stiftsdame schien ein ängstliches Geschrei erwartet zu haben, sie nahm das Kind überrascht auf den Arm und küßte mit kühlen Lippen seine Stirn.

»Wenn du stets artig bist, so werde ich dich lieb haben, Daniel!« sagte sie in ihrer kurzen Weise, »jetzt schlafe wieder ein,« und sie bettete ihn zurück, wandte sich ab und ging.

»Er hat schöne Augen,« murmelte sie, »Sobolefskoische Augen.«

Am darauffolgenden ersten Tag hatte Gräfin Arlowsk die Flucht der Gemächer durchschritten. Vor dem verhüllten Bild Eglantinas blieb sie stehen und schlug den Vorhang zurück. Ein haßerfüllter Blick überflog die reizende Frauengestalt, welche in weißem Atlaskleid, umwallt von blonden Locken, mit ihrem schwärmerischen Lächeln aus dem goldenen Rahmen auf sie niedersah, »Komödiantenblut! – Armer Daniel!« stieß sie durch die Zähne hervor, und ihre Hand schleuderte die dunklen Wollfalten verächtlich zurück und ihr Blick, welcher sich nach dem gegenüberhängenden Porträt Gregors wandte, enthielt die vorwurfsvolle Frage: »Wie war's möglich?«

Dann schloß sie das Zimmer ab und verwahrte sorgsam den Schlüssel.

Die Zeit zog langsam und einförmig dahin. Gräfin Arlowsk hatte nach und nach fast die sämtliche Dienerschaft und Beamten von Miskow gewechselt, da war niemand mehr, welcher den Kammerherrn oder dessen unebenbürtige Gemahlin gekannt hatte.

Daniel war sieben Jahre alt geworden. Sein Geist hatte sich, dem Aller entsprechend, entwickelt, aber sein Körper war weit zurückgeblieben und bedurfte nach wie vor der sorgfältigsten Pflege. Die Erziehung war eine musterhafte, und Daniel hing in respektvoller Liebe an der strengen Patronin, welche ihrerseits durchaus nichts dazu tat, diese Liebe zu gewinnen. Ihr Verhältnis zu dem Knaben war nichts weniger als ein mütterliches. Kalt und formell wie eine Gebieterin stand sie ihm gegenüber, nur strafend, nie belohnend; kein zärtliches Wort, kein inniges Herzen und Kosen, kaum daß sie die Fingerspitze zu einem Handkuß reichte. Gräfin Arlowsk hatte keine Vorliebe für Kinder, alle Weichheit und Milde war ihrem Wesen fremd, und außerdem blieb Daniel in ihren Augen stets der Sohn einer Sängerin, welche als bezahlte Kreatur selbst die Hefe eines Theaterpublikums von den Brettern herab amüsieren mußte! Sie erzog den Knaben, wie es sich für den Erben des Sobolefskoischen Namens gebührte, sie führte ihn durch die Ahnengalerie und zeigte ihm den imposanten, ruhm- und ehrenreichen Stammbaum, sie erzählte auch von seinem Vater, dem Kammerherrn und Günstling des Zaren, dessen Brust mit Orden bedeckt war, den man kannte und verehrte, wo nur ein Fürst in Europa seinen Hof hielt.

Von seiner Gemahlin aber verlautete nie ein Wort, und wenn Daniel nach der Mutter fragte, so erhielt er die schroffe Antwort: »Die ist tot; wenn dich die Menschen dereinst fragen, wer deine Mutter gewesen, so entgegne ihnen: Gräfin Kathinka Arlowsk. Denn ich habe dich erzogen, rechtlich und sorglich, als hätte ich dich geboren.«

Daniels liebebedürftiges, weiches Herzchen aber sehnte sich nach einer Mutter, welche nicht nur seine Lektionen überwacht und von der Ehrwürdigkeit der langen Ahnenreihe spricht, sondern welche ihn in die Arme schließt, küßt und herzt, wie unten die Frau des Haushofmeisters ihren kleinen Iwan liebkost!

Der verwaiste Knabe sah es so oft mit an, wie die Kinder der verheirateten Dienstboten von den Eltern oder Geschwistern verhätschelt wurden, und sein Herzchen blutete vor Jammer und Sehnsucht nach seiner Mutter, die kalt und still in der Erde ruht, anstatt ihr armes, verlassenes Kind in die Arme zu schließen und seine Tränen zu trocknen.

Eine wehe, unbezwingliche Sehnsucht nach seiner Mutter überkam ihn, und je mehr die Gräfin seinen Fragen auswich und ihr Andenken verwischen wollte, desto idealere Bilder schuf sich die Phantasie des Kindes, und desto leidenschaftlicher klammerte es sich an dieselben an. Gewiß, seine Mutter sah ebenso schön und lieblich aus, wie der Marmorengel in der Kapelle, welcher die Arme so freundlich nach ihm ausbreitete, wenn Daniel an dem Sarkophag des Vaters beten mußte. Er fragte alle Leute im Schloss, ob er wohl recht habe? Aber niemand kannte seine Mutter und wußte von ihr. Da kam abermals der Jahrestag von des Fürsten Tod; ein Tag, welcher dem Knaben als der schrecklichste im ganzen Jahr erschien. Schloß doch die Gräfin an demselben das düstere, unheimliche Zimmer auf, in welchem der Vater ehemals mit blutendem Haupt gelegen. Ein nervöses Zittern ging bei diesem Rückerinnern durch alle Glieder Daniels, wenn er der Totenmesse beiwohnen mußte, welche alljährlich hier vor dem schwarzen Altar, welcher in des Zimmers Mitte errichtet war, gelesen wurde.

Und auch heute hatte er sein erbleichtes Gesichtchen tief auf die Brust sinken lassen und die Augen krampfhaft geschlossen, als er zu der Feier geführt wurde. Sein neuer Hauslehrer stand neben der deutschen Gouvernante.

»Ist jener Herr auf dem Bild drüben der verstorbene Fürst?« fragte er flüsternd.

»Ja, und ihm gegenüber, hinter dem Vorhang hängt das Porträt seiner Gemahlin.«

»Ah – lassen Sie sehen,«

»Pst! um Gottes willen, bleiben Sie! die Gräfin!«

Paul Fedrowitsch schnellte an seinen Platz zurück, die Stiftsdame trat ein, und die Feier begann. Daniel aber hatte es bei den Worten des Fräuleins durchzuckt, wie ein elektrischer Schlag, er stand regungslos und starrte mit weitaufgerissenen Augen auf die wallenden Trauerflore, hinter welchen sich das Antlitz seiner Mutter barg!

Im Traum hatte er es wohl oft gesehen! Dann kam eine lichte Frauengestalt, mit dem Antlitz des Schutzengels, neigte sich über ihn und küßte ihn, und wenn er aufwachte, dann dachte er seufzend: »Ach, daß ich mein Mütterchen doch immer sehen könnte, nicht allein im Schlaf!« Und nun hing ihr Bildnis dicht neben ihn:, er brauchte nur die Hand zu heben, um sie endlich, endlich zu schauen!

Das letzte »Amen« war verklungen, und nach der strengen Weisung der Gräfin entfernte sich die Dienerschaft in lautloser Hast.

Die alte Dame wartete, bis die letzte Gestalt hinter der Tür verschwunden, dann faßte sie Daniels Hand und wollte ebenfalls die Schwelle überschreiten.

Da umschlossen sie die mageren Ärmchen des Knaben voll leidenschaftlicher Erregung,

»Noch nicht, gnädige Tante!« flehte er mit zitternder Stimme: »Laß mich erst das Bildnis meiner Mutter sehen!«

Wie angewurzelt stand die hohe Frauengestalt. Ein zorniges Aufflammen ging durch ihr Auge, und die Brauen zogen sich so finster zusammen, daß Daniel erschrocken die Hände sinken ließ.

»Narrheit! wer hat dir von dem Bild gesprochen?«

»Fräulein Margarete!« stotterte der Kleine und fügte entschuldigend hinzu: »Aber sie hat es nur ganz, ganz leise gesagt! Ach, und ich möchte die Mutter so gern sehen, nur ein einziges Mal ziehe den Vorhang beiseite, gnädige Tante!« Die Stiftsdame faßte in ihrer schroffen Weise die Schultern ihres Neffen und schob ihn zur Tür hinaus.

»Nein! jene Frau auf dem Bild ist tot und vergessen, man soll keinen Grabesfrieden stören. Ich bin deine Mutter, du hast keine andere, denn mich!«

 

Tränen traten in des Kindes Auge, wie ein Aufschrei ging es durch seine Seele. »Du hast mich ja nicht lieb, du kannst nicht meine Mutter sein!« Die Gräfin aber drehte den Schlüssel kreischend im Schloß, zog ihn ab und schritt nach ihren Gemächern zurück.

Da tat Daniel etwas, was er sonst nie im Leben getan haben würde! Er blieb nicht, wie die Stiftsdame befahl, in dem ersten Salon zurück, sondern schlich ihr auf den dicken Teppichen bis zu ihrem Schlafzimmer nach und sah, wo der Schlüssel wohl bleiben werde.

In eine kleine Ebenholztruhe, welche auf dem Bronzesims über dem Kopfende des Bettes stand, legte sie ihn nieder.

Am anderen Tage ward die deutsche Gouvernante ganz plötzlich aus ihrem Dienst entlassen, und Gräfin Arlowsk sagte dem Haushofmeister, daß in Zukunft die Gedächtnisfeier nicht mehr in dem Sterbezimmer, sondern in der Kapelle stattfinden werde.

 

Der Herbstwind pfiff abermals sein wildes Lied um die Schloßtürme von Miskow. Die Ostsee trieb ihre schaumgekrönten Wogen donnernd gegen den Strand, und schwere Hagelschauer prasselten an die Fensterscheiben, es war eine unheimliche Nacht, welche bereits seit der fünften Stunde ihren schwarzen Mantel über die Erde geworfen hatte.

Hinter den Scheiben der Fenster huschten eilig die Lichter, leise Schritte hasteten treppauf und treppab, und wenn die Diener oder Mägde in kleinen Trupps standen, so steckten sie mit wichtigem Flüstern die Köpfe zusammen.

Gräfin Arlowsk war unter beängstigendsten Symptomen ganz plötzlich erkrankt. Der Arzt zuckte die Achseln und wich nicht von dem Lager der Leidenden, welche mit dunkelgerötetem und fieberheißem Haupt die verworrensten Dinge phantasierte.

Gegen Abend trat etwas Ruhe ein, die Atemzüge wurden gleichmäßiger und die wirr um sich blickenden Augen schlossen sich. Da zog man behutsam die Bettgardinen zusammen, dämpfte das Licht und begab sich in das Nebengemach. Durch das ganze Schloß ging es wie ein Aufatmen, als man die Gebieterin mit dem alles überwachenden Blick an ihr Zimmer gefesselt wußte. Ein jeder schlug schnell seine eigenen Wege ein und profitierte von der Freiheit, welche ihm so unfreiwillig gewährt wurde.

Auch Daniel war weniger streng beaufsichtigt wie sonst. Mademoiselle und Paul Fedrowitsch machten eine romantische Promenade durch den nächtlichen Sturm, um ein »unsterblich Wort« über die tosenden Seen der Brandung zu jauchzen, Miß Jane saß über einem Roman und blickte weder rechts noch links, und der deutsche Kandidat, welcher die entlassene deutsche Erzieherin ersetzte, hatte sich in sein Turmstübchen zurückgezogen, nur mit sehnsuchtskrankem Herzen alle deutschen Nationallieder zu singen und zu spielen, Weisen, welche von Gräfin Arlowsk nicht sonderlich geliebt wurden und darum nicht laut werden durften.

Miß Jane wollte Daniels Arbeiten überwachen, aber sie sah und hörte nicht, was um sie her vorging, und wozu auch? Der Kleine war ja ein so unheimlich artiges Kind, daß er gleich wie ein Puthuhn mäuschenstill auf einem Fleck sitzen blieb, wenn man einen Kreidestrich um ihn herzog. So hörte sie auch nicht, wie der kleine Fürst vom Stuhl glitt, mit behutsamen Schritten die Tür erreichte und hinter derselben verschwand.

Der Korridor war hell erleuchtet, aber still und einsam, und die Tür zu der Gräfin Salon stand angelweit offen. Daniel schlich vorsichtig über die Teppiche bis in das nächste Gemach, und weiter, immer weiter bis an die Portiere, welche die Schlafstube von dem Wohnzimmer trennte. Auch hier keine Menschenseele, Aha! der alte Handelsjude ist mit seinem bunten Kram in den Schloßhof eingekehrt, und in sinnlosem Eifer ist jedermann hinabgestürmt, zu kaufen und zu handeln. Daniel atmete tief, fast keuchend auf. Seine Augen haben einen ungewohnten, leidenschaftlichen Glanz, und sein gebrechliches Figürchen richtet sich entschlossen auf. Leise nähert er sich dem dunkelvioletten Samtvorhang und lugt in das Krankenzimmer, dann tritt er auf den Fußspitzen ein und schleicht an das Himmelbett heran. Die Atlasvorhänge knirschen unmerklich in den Falten, die Schläferin regt sich nicht. Behend wie ein Gnömchen und dennoch mit zitternden Gliedern besteigt der kleine Fürst den Stuhl, auf welchem Arzneigläser und ein Kübel mit Eis stehen, tastet nach der schwarzen Truhe auf dem Sims und schlägt ihren Deckel zurück. Ein Zucken geht durch seine Hand, da dieselbe den Schlüssel, welchen er sucht, berührt. Er faßt ihn, huscht vom Stuhl zurück und verschwindet lautlos wie ein Schatten hinter der Portiere. Im Vorzimmer steht ein brennendes Licht auf der Marmorkonsole vor dem Spiegel. Daniel erfaßt es und entflieht voll fiebernder Hast mit seiner Beute.

 

Niemand begegnet ihm, er erreicht über eine dunkle Treppe den Flur, welcher nach dem Sterbezimmer des Fürsten führt. Sonst ist er stets ein scheues, ängstliches Kind gewesen, heute kennt er keine Furcht. Mit brennenden Wangen steht er vor der geschnitzten Eichentür, setzt das Licht auf die Dielen und steckt den Schlüssel in das Schloß. Er muß sich Schweißperlen auf die Stirn arbeiten, ehe derselbe sich knarrend herumdreht, seine schwachen Kräfte aber scheinen sich in der Aufregung verdoppelt zu haben, und mit zitternder Hast greift er nach dem Leuchter und legt die Hand auf die Klinke.

Die Sehnsucht nach seiner Mutter und der Wunsch, sie zu sehen, welcher ihn voll unaussprechlichen Wehes Tag und Nacht verfolgt hat, soll sich endlich erfüllen.

Er öffnet die Tür und tritt ein.

 


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