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Inzwischen wird es wohl Zeit, daß wir uns einmal nach der verwaisten Schar am Stammtisch umschauen. Offen gestanden, fühlte sie sich nicht so verwaist, wie August vielleicht anzunehmen geneigt war. Offen gestanden, verspürte man sogar etwas wie ein Gefühl der Erleichterung. Es war jetzt nämlich keiner da, der immer recht hatte; man konnte jetzt hin und wieder auch einmal recht haben. Der Tisch hieß zwar Nächstenliebe, das ist wahr. Aber für das Geliebtwerden ist Anwesenheit sehr wichtig. Man irrt nämlich, wenn man glaubt, daß Stammtische und Kaffeekränzchen sich, außer durch das Getränk, in nennenswerter Weise unterschieden. Was man über den im Dienste des Vaterlandes sich verzehrenden August sprach, das lief so gemeiniglich auf die Ansicht hinaus, daß »es ihm gar nichts schaden könne«. Die Nächstenlieber waren herbe Männer; sie besuchten einander nicht in Krankheitsfällen, weil sie der Meinung waren, daß ein echter Mann sich allein mit seinem Leid abfinden müsse; sie waren aber auch wieder weich von Gemüt, insofern, als sie bei eigener Krankheit solch einen Besuch sehr angenehm empfunden hätten. Als in Zeiten, die Gott sei Dank hinter meiner eigentlichen Erzählung liegen, der eine und andere ins Gras beißen mußte, da erschien der Verein Nächstenliebe auch nicht am Grabe, weil, wenn man einen Toten hinabsenkt, immer einer der Umstehenden der Nächste ist, das läßt sich gar nicht vermeiden. Auch der ausschweifende Gedanke Merswinskys, dem Helden eine Wurst ins Feld zu schicken, wurde unter Bemmefetts Führung – Bemmefett hatte den Vorsitz übernommen und seinen bisherigen Platz an den ebenfalls sehr begüterten Geheimrat abgetreten – auch jener Gedanke, sage ich, wurde verworfen, weil August vom Hause her jedenfalls alles in Hülle und Fülle habe. Den Gemütswert einer solchen Wurst übersah der Musikalienhändler.
»Aber 'n paar jute Zigarren woll'n wir ihm wenigstens schicken,« meinte Strippecke.
Dieser Vorschlag wurde denn auch mit allen gegen Bemmefetts Stimme angenommen, hernach dann allerdings nicht zur Ausführung gebracht.
Hinterher entdeckte Bemmefett dann auch für die Nichtabsendung der Wurst noch einen patriotischen Grund; im Lande selbst seien die Lebensmittel so knapp, daß man die Volksernährung durch Sendungen an die Front, die hinreichend versorgt sei, nicht noch schmälern dürfe.
»Na, wat det anbelangt – knapp sind die Lebensmittel noch lange nich!« meinte Strippecke. »In jewissen Teilen unseres jeeinigten Vaterlandes jibt et Nahrungsmittel in Masse; bloß die deutschen Brüder sperren ihre Jrenzen un jeben uns nischt ab; se fressen's lieber alleene.«
Diese Worte brachten die Seele unseres Aloisius in ihren Urgründen zum Kochen und überkochen.
»Han?« brodelte es mit furchtbarem Getöse aus der Tiefe seines Vorratskellers herauf, »han??? Was wollen S' damit sagen, Herr Nachbar? Soll'n 'leicht mir verhungern, damit daß die Herrn Breißen sich mit inserne Knedl und Haxen grüabige Täg machen? War net übel! Soll'n 's Mäu net so weit aufireißen, wann 's nix 'neinz'tean ham! Dös wo mir g'pflanzt und gezicht't ham, dös khert ins allanig, dös is inser Nöservatrecht! San eahna ja eh nit guet g'nua, inserne Kalbshaxen und Schweinswierscht'! Solln's eahnere luftgselchten Hering essen und eahnere Kartofeln und eahnere siassn Supp'n – Herrschaftsaxen is dös a Fraß! Dös glaub' i eh, daß s' ins inserne Schweinshaxen ausfiehrn und inser Bier aussaufen mechten – o mei! Aber dös sag' i Eahna: wann's so weit kimmt – ja pfüet di God, Badriodismus! Nacha hat's g'schnappt!«
Bei Aloisiussens tiefer Geringschätzung der nördlichen Küche blieb es ein ewiges Rätsel, wie er in den mehr als fünfundzwanzig Jahren seines norddeutschen Aufenthaltes seine Wampen nicht nur konserviert, sondern noch beträchtlich ausgebaut hatte. Es war nur dadurch zu erklären, daß er zu den norddeutschen Ochsen, Kälbern, Hammeln und Schweinen einen modus vivendi gefunden hatte. Ein Mann von Überzeugungsstarrheit und Duldsamkeit zugleich, schwur er zum Tellerfleisch und aß er Hamburger Beefsteaks.
So nahm er Holsteins Rinderbrust
Nicht gleich im Anfang willig an;
Doch bald ernährt' er sich mit Lust.
Der schwäbische Rentner Melchior Bopserle schloß sich der Auffassung Gselchwampners vom Deutschtum »vollinhaltlich« an; er wollte von einer Spätzleausfuhr nichts wissen. Und man darf die Herren nicht etwa tadeln; in jenen Zeiten sperrten sich in Deutschland sogar die Kreise, die Gemeinden und Ortschaften gegeneinander ab, sperrte das Land sich ab gegen die Stadt, und ein Huhn, das ein Ei über die Grenze legte, machte sich des Landesverrats schuldig: ein Schwein, das zu den Städtern überlief, fiel beim preußischen Landwirtschaftsminister in Ungnade. Man kann diese politische Erscheinung je nach dem umworbenen Ausfuhrartikel als Kälber-, Ochsen-, Gänse-, Spätzle-Partikularismus oder auch als »Deutschtum mit Haxen« bezeichnen.
Gegen die logische Artillerie Gselchwampners und Bopserles vermochte Strippecke nicht aufzukommen; es ward ihm aber im Grunde nicht schwer, zu verstummen. Seine Ernährungsschwierigkeiten waren durchaus nicht ernsthafter Natur. Wer viel Geld hatte, konnte sich noch immer seinem Vaterlande sehr wohl erhalten, und viel Geld verdiente Strippecke, nicht nur durch Versicherungen, sondern vorwiegend durch Seife, für die er mit gewaltiger Reklame Schaum schlug, obwohl sie selbst nicht schäumte, und mit der er, weil er sie mit dem unsauberen Aufschlag von 1.000 Prozent auf den realen Wert verkaufte, einen kolossalen Reingewinn erzielte. Gselchwampner machte außer in wesentlich verteuerten Schirmen und Stöcken in Fischwurst, Bopserle in Schinken, die er zu äußerst saftigen Preisen absetzte. Merswinsky, der Theaterdirektor, und Bemmefett, der Musikalienhändler, blieben mehr in ihrer »Branche«, jener, indem er ungeheure Mengen Schmalz unter der Hand verkaufte, dieser, indem er Fleischextrakt aus Lakritzen in großen Auflagen an den Mann brachte. Nur Merseburg blieb ganz in seinem Berufe: er erhöhte einfach seine Preise auf das Doppelte und Dreifache, besonders die Weinpreise, worüber gewisse Sorten größenwahnsinnig wurden und die Flaschen sprengten.
So überwanden sie alle die Not des Vaterlandes, und obwohl sie alle natürlich den Frieden herbeisehnten, wußten sie doch ihre Sehnsucht männlich zu beherrschen. Wer wünscht den Tod einer Kuh herbei, die täglich zwanzig Liter Milch gibt?
»Aber der Krieg auch hat seine Ehre!«
deklamierte Merswinsky in diesen Zeiten. Es war die Zeit der teuren Sicherheitszündhölzer, bei denen man sicher sein konnte, daß das erste, so man anstrich, keine Zündmasse trug, das zweite beim Anstreichen zerbrach, das dritte sogleich nach dem Entbrennen erlosch und die Zündmasse des vierten einem ins Auge flog.