Otto Ernst
Satiren, Fabeln, Epigramme, Aphorismen
Otto Ernst

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27. Kapitel.

Line verschenkt was.

Dabei konnte Line bei anderen Gelegenheiten wieder sehr freigebig sein. Als an alle wohlgestellten Leute die Bitte erging, entbehrliche Gegenstände ihres Hausrats herzugeben, damit sie an arme, bedürftige, des Nötigsten ermangelnde Leute weitergegeben würden, da stieg Frau Karoline Gutbier geborene Bohlen eigenbeinig bis unter die Zinne ihres Daches und holte folgende Dinge herunter:

1. eine Weckuhr, deren Uhrwerk zwar nicht mehr ging, die aber, wenn man sie anstieß, noch großartig weckte;

2. eine Vase, die ein Loch im Boden hatte, für Makartbuketts aber noch sehr gut zu gebrauchen war;

3. ein Thermometer ohne Kugel;

4. einen Zylinderhut aus einem rauhen Zeitalter; Frau Lines Vater hatte ihn immer getragen, und sie trennte sich darum schwer von ihm;

5. eine weiße Frackweste mit unvergänglichen Spuren von Krebssuppe und feinstem Burgunder;

6. ein altes Portemonnaie, nachdem Line sich noch einmal überzeugt hatte, daß kein Geld mehr darin war;

7. zwei linke Glacéhandschuhe mit Ventilation;

8. eine kleine Venus von Milo in Gips, die Line weggab, weil die Arme fehlten;

9. ein langes, früher hochmodernes Korsett für Unbemittelte, zum Wegschnüren des Magens, mit drei heilen Stangen;

10. ein vollständiges Adreßbuch der Hotels und Gasthöfe im Großherzogtum Mecklenburg-Strelitz aus dem Jahre 1901, mit Abbildungen;

denn auch um geistige Nahrung war dringend gebeten worden. Also: wo es Tränen zu trocknen galt, da war auch Line bei der Hand. Es gelang ihr auch sonst, in der Linderung der Nahrungsnöte einen geradezu verblüffenden Erfolg zu erzielen. Sie war nämlich schließlich in den Ausschuß zur Leitung der Kriegsküche gewählt worden und war alle fünf Wochen an der Reihe, die Rohstoffe für die zu bereitenden Speisen zu verwalten und herauszugeben. Kein Mensch macht sich eine Vorstellung, wie anspruchslos sie in den Tafelfreuden anderer Leute war. Ihre Weltanschauung war der vegetarische Altruismus, d. h. sie meinte, daß andere Leute kein Fleisch brauchten. Dagegen hatte sie nichts gegen Knochen, weil ein hinreichend gepeinigter Knochen sieben Suppen hergibt und dann immer noch da ist. Die Steckrübe ist der Filetbraten des Volkes, davon war sie überzeugt. »Wasser ist das Beste,« dachte sie mit Pindar. Und so wechselte sie zwischen Steckrüben mit Wasser und Wasser mit Steckrüben. Sie überwachte genau die Abmessung der Portionen, damit das Volk nicht der Völlerei verfalle. Die Wirkung war fabelhaft: sobald Line Gutbier die Woche hatte, schrumpfte die Not auf ein Minimum zusammen, und bald erschien überhaupt keiner mehr mit dem Suppentopfe. Sie hatte die Not um zwanzig Prozent gelindert. Ja, als in Fuhlenbek innerhalb einer Woche drei Totgeburten vorfielen und Frau Line Gutbier die Ortshebamme fragte, wie es zugehe, daß so viele Kinder tot zur Welt kämen, da sagte die Hebamme: »Die fürchten sich vor Ihrer Suppe.«

Aus dieser Antwort sprach der Geist des Aufruhrs, der aus dem Magen kommt. Derselbe Geist war es, der in einer dunklen Nacht in Lines Vorratskeller stieg und daraus 6 Schinken 34 Mettwürste, 3 Leberwürste, 5 Blutwürste, 8 Gänsebrüste, 1 Hammelkeule, 1 Sack Mehl, 1 Sack Reis, 1 Sack Grütze, 1 Sack Graupen, 1 Sack Bohnen, 1 Sack Erbsen, 10 Pfund Butter, 12 Pfund Schmalz und 125 Eier entnahm und nicht zurückbrachte. Man erlasse es mir, die herzzerreißenden Szenen darzustellen, die sich abspielten, als August und Line gewahrten, wie man ihnen ihre Wohltaten gelohnt hatte. Was im Hause des Ödipus vorging, als man entdeckte, daß Jokaste sich erhängt hatte, ungefähr das muß man sich vorstellen; nur daß das Wehgeheul nicht über die Mauern der Speisekammer hinausdrang. Nicht einmal die Dienstmädchen durften es erfahren, die am wenigsten; denn da sie von den Schinken und Gänsebrüsten nichts bekommen hatten, so dachten sie streng. Torquato Tasso hatte wenigstens, wenn andere Menschen in ihrer Qual verstummten, die Gabe von Gott, zu sagen, was er leide. Was soll ein Hamster sagen? Er kann nicht klagen. August und Line mußten all die Schinken, Würste, Eier, Fettwaren, Hülsenfrüchte und Mühlenprodukte still in sich hineinfressen, ohne eine Zunahme an Eiweiß, Fett oder Kohlenhydraten zu empfinden. Ja, August bekam für die nächsten vierzehn Tage ein unterernährtes Aussehen; gleichwohl sagte er, wenn am Stammtisch sein gedrücktes Wesen auffiel und man ihn fragte, was ihm fehle, mit Spartanerstarrheit: »Mir?? Nichts!!« Line aber rächte sich im Frauenverein durch längere Ausführungen über die sittliche Verwilderung der unteren Volksschichten.

Die Gasthausverhältnisse waren auch nicht mehr danach angetan, ein bekümmertes Gemüt zu erquicken und aufzurichten. Ein deutscher Bürger in den Verhältnissen unseres August konnte sich zwar im ganzen Deutschen Reiche noch täglich in guten Nahrungsmitteln sattessen; aber die Auswahl und die Güte des Gebotenen war doch gewissen Beschränkungen unterworfen. Die Einführung der beiden fleischlosen Tage hatte zwar das Nationalgefühl unseres Freundes nur vorübergehend umdüstert; in seinem Freiheitsdrang – als Individuum besaß er ein stark entwickeltes Freiheitsgefühl – hatte er es zwar empörend gefunden, daß man einem freien deutschen Manne verbot, am Dienstag ein Beefsteak zu essen; aber er hatte sich gesagt, daß diese Zeit Opfer erfordere, und hatte sich mit Seezunge, Rheinlachs, Forellen, Kaviar, Austern, Hummer und Eierspeisen am Dienstag und Freitag abgefunden. Dann kam die Zeit, da die Fette etwas knapper wurden, besonders die Butter. August aber aß gern Butter; zu Kiebitzeiern zum Beispiel aß er viel Butter. Der Kellner konnte ihm keine geben.

August wurde hochrot im Gesicht. »Was??« rief er. »Keine Butter? Das ischa heiter! Das ischa heiter! Natürlich is Butter genug zu kaufen,« wandte er sich an die Tischgenossen, »wenn man sich bloß nich zu dumm anstellt! Aber unser Freund Merseburg is eben 'n Ochse!«

»Um so weniger können Sie erwarten, daß er Butter gibt,« meinte Schellenbarth.

»Wieso?« fragte August.

»Ach sooo!! Hahahahahahahaha!«

Er hatte begriffen und war vorübergehend versöhnt; aber schließlich ist Witz keine Butter. Mit den Eiern ging es zeitweilig auch so.

»Was???« schrie August, der mit dem Einschrumpfen der Speisekarte zusehends nervöser wurde, »was??« schrie er den Kellner an. »Keine Eier?« Er schrie so laut, daß der Kellner, wenn er furchtsam und eine Henne gewesen wäre, sofort ein Ei gelegt hätte.

Die Firma »August Gutbier, Im- und Export« vertrieb zwar unter anderem auch einen wundervollen Eier-Ersatz;

»Ein Teelöffel voll gibt den
schönsten Eierkuchen«

stand in allen Inseraten zu lesen; aber aus Naturschwärmerei bevorzugte August die richtigen Eier.

 


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